Alexander Hozej Vorträge über die
Gesellschaft Aus dem Russischen von Sergej Demeniuk Vortrag 1. ZIELE
UND AUFGABEN DER VORTRAGSREIHE 1. Wozu braucht man die
Wissenschaft? DIE NÜTZLICHKEIT DER
WISSENSCHAFT Diese Vortragsreihe ist für diejenigen bestimmt, die wissen
wollen, was „Gesellschaft“ heißt, was sie „atmet“ und wie sie sich
entwickelt, was in Russland geschieht und wohin sich die Menschheit als Ganzes
bewegt. Ich garantiere keine absoluten Wahrheiten, hoffe aber,
Denkanstöße zu geben. Ich werde alle diese Themen populär (so
gut es geht) und doch wissenschaftlich behandeln. In diesem Zusammenhang erhebt
sich als Erstes die Frage: Wozu braucht man die Wissenschaft? Wenn
man echte Wissenschaftler (d.h. diejenigen, die wissenschaftlich tätig
sind aus Berufung und nicht aus Erwerbsgründen) fragen würde, warum
sie forschen, wäre die ehrliche Antwort: Aus Neugier, wegen des Wunsches,
die vielen Rätsel zu lösen, die uns die Umwelt aufgibt. Der Mensch
und sogar die höheren Tiere im Allgemeinen haben eine psychische
Besonderheit, die wir Wissbegierde oder, mit anderen Worten, das Bedürfnis
nach Erkenntnis nennen. Und jeder, der die Welt erkennt, stillt zunächst
einmal dieses Bedürfnis. Braucht man also die Wissenschaft, um den
„Neugier-Instinkt“ zu stillen? Im
Grunde genommen natürlich nicht. Um das zu verstehen, ist es ausreichend,
die zweite Frage zu stellen: Wozu braucht man eigentlich die Wissbegierde? Sie
ist ja nicht zufällig entstanden und wiederholt sich nicht von
ungefähr in jeder Generation. Selbstverständlich ist sie, wie alles
andere auch, das Ergebnis der natürlichen evolutionären Selektion.
Gerade die Zuchtwahl hat bei den Tieren und ihrer besonderen Art, den Menschen,
das Verlangen nach Welterkenntnis verankert. Warum ist das so? Vermutlich aus
dem gleichen Grund, warum die natürliche Auslese alle Eigenschaften des Lebendigen auswählt und
verankert, nämlich, weil die Neugier zur besseren Anpassung an die
Umgebung und letztendlich zum Überleben derer beiträgt, die sie
besitzen. Mit anderen Worten, dieser „Instinkt“ ist einfach nützlich. Die
Erkenntnis im Allgemeinen und die wissenschaftliche Erkenntnis im Besonderen
sind notwendig, weil sie uns helfen zu überleben. Genauer gesagt, helfen
uns die Kenntnisse, die wir als Folge der kognitiven Handlungen erlangen. Worin
besteht deren Nützlichkeit? Es gibt nur eine praktische Anwendung: Dank
der Kenntnisse kann man voraussehen, was kommt, und dementsprechend rechtzeitig
und richtig reagieren, seine Aktivitäten so organisieren, dass das beste
Ergebnis (im Sinne der o.g. Anpassung und Überlebensfähigkeit)
erzielt wird. Wenn man im Voraus weiß, was passiert, kann man darüber
nachdenken, was zu tun ist. Es
gibt zwei Arten von Wissen darüber, was bevorsteht. Die erste Art ist das
Wissen davon, was von selbst geschieht, also das Wissen über die
Entwicklung der Ereignisse, die nicht von uns abhängen, z.B. am Horizont
ist eine dunkle Wolke erschienen, bald wird es regnen. Die zweite Art ist das
Wissen davon, was passiert, wenn man selber etwas tut, z.B. wenn man einen
Feuerstein und einen Feuerstahl aufeinander schlägt. Hier handelt es sich darum,
was unter bestimmten Umständen zu tun wäre, um das gewünschte
Ergebnis zu erhalten, in unserem Beispiel - einen Funken zu schlagen, der
natürlich einmal zur Flamme auflodert[1]. Dies
ist die Basis für alle Technologien. Gerade diese beiden Arten von Wissen
über die Zukunft zusammen sichern unsere gesteigerte
Überlebensfähigkeit. Wenn man weiß, wie sich die Ereignisse
ohne unser Zutun entwickeln sowie was passieren würde, wenn man so oder
anders handelt, dann kann man Handlungen wählen, die zu einem für uns
optimalen Ergebnis führen (sicher je nach den gegebenen Umständen). Ich
stelle also fest, dass die Wissenschaft im Allgemeinen (sowohl der
Erkenntnisprozess, als auch das Wissen selbst) benötigt wird, um
vorauszusagen, was kommt, sowohl die Zukunft an sich, als auch die Folgen
unserer konkreten Handlungen in einer gegebenen Situation. Die Kenntnisse sind
unser Leitfaden bei der Wahl der richtigen, der wirksamsten Handlungen, die
erforderlich sind, um zu überleben. UND WAS SAGEN DIE
WISSENSCHAFTLER? Wenn man zugleich
prüft, was die Wissenschaftler selbst darüber sagen, findet man oft
ganz andere Formulierungen. Es wird oft behauptet, dass die Wissenschaft dazu
da ist, Erklärungen zu geben. Wieso das? Erklärungen sind eindeutig
keine Voraussagen. Vorhersagen beziehen sich darauf, was kommt, und Erklärungen
ausschließlich darauf, was war oder ist. Es ist unmöglich, die
Zukunft zu erklären: Sie lässt sich nur voraussagen. Neben dieser
zeitlichen Einordnung gehen Voraussagen und Erklärungen mit
unterschiedlichen Fragestellungen einher. Die ersteren beantworten die Frage „Was wird?“ und die letzteren „Warum war oder ist etwas?“ Also
hängen unsere Handlungen, d.h. deren Wahl, nicht von Erklärungen ab. Wieso
glauben dann die Wissenschaftler, dass ihre Aufgabe darin besteht zu
erklären? Das ergibt sich aus der Praxis, aus der persönlichen
Erfahrung jedes Wissenschaftlers. Wenn man sieht, womit sich viele
Wissenschaftler in erster Linie beschäftigen, merkt man schnell, dass es
sich zumeist nicht um Voraussagen, sondern nur um Erklärungen handelt. Mit
Vorhersagen befassen sich nicht Wissenschaftler, sondern eher Entwickler von
Technologien, Politologen usw., also Praktiker, diejenigen, die die Kenntnisse nutzen. Und die Wissenschaftler selbst,
diejenigen, die dieses Wissen gewinnen,
erklären mehr als sie vorhersagen. Daher entsteht die Illusion, dass die
Wissenschaft benötigt wird, um etwas zu erklären. Hier handelt es
sich um die gleiche Fehldeutung wie im Falle des „Neugier-Instinkts“. Im
letzteren Fall wurde angenommen, dass der Sinn der Wissenschaft darin besteht,
ein besonderes Bedürfnis zu stillen, und nun soll ihre Bestimmung auf den
Inhalt der Tätigkeit von Wissenschaftlern hinauslaufen. Ja, dieser Inhalt
der Wissenschaft sind weniger Vorhersagen, sondern vielmehr Erklärungen
(warum das so ist, wird im Weiteren behandelt). Aber der eigentliche Zweck der
Wissenschaft sind Vorhersagen. Warum
sage ich das? Ich tue es, um den Hauptbezugspunkt für alle weiteren
Überlegungen anzugeben. Das Ziel der Vortragsreihe besteht darin, das
Grundwissen zu vermitteln, das benötigt wird, um die Situation in
Russland, einem beliebigen anderen Land und auf der ganzen Welt
einzuschätzen, sowie Vorhersagen über die Zukunft zu machen; ferner
natürlich, um zu bewerten, was bezüglich der erwarteten Zukunft
Russlands und der ganzen Welt getan werden kann und soll, um einen positiven
Effekt zu erzielen. Es wurde bereits angemerkt, dass es zwei Arten von
Vorhersagen gibt: Erstens in Bezug auf Situationen, die nicht von uns
abhängen, die sich also ohne unser Zutun abspielen, und zweitens
Voraussagen in Bezug auf die Ergebnisse unserer eventuellen Handlungen, also in
Bezug darauf, was passiert, wenn man in der vorliegenden, sich entwickelnden
Situation so oder anders handelt. WAS IST NÖTIG FÜR
EINE VORHERSAGE? Lasst uns nun darüber sprechen, welche konkreten Kenntnisse
für Vorhersagen benötigt werden. Es sind zwei Arten von Wissen
erforderlich: Erstens das Wissen
über die vorliegenden Gegebenheiten, die Ausgangsbedingungen und die
wirkenden Faktoren oder, zusammenfassend gesagt, das Wissen über die
gegenwärtige Situation. Zweitens das Wissen
über die Gesetzmäßigkeiten, die in einer bestimmten Situation
wirken, d.h. wie wirken die Faktoren, welchen Einfluss haben die gegebenen
Bedingungen usw. Jede Prognose beruht
auf a) der Kenntnis der dominierenden wirkenden Faktoren in einer bestimmten
Situation, die ihre Änderung oder Erhaltung bestimmen, und b) der Kenntnis
von den Gesetzmäßigkeiten des Wirkens dieser Faktoren. In
dynamischen Situationen verändern sich die Faktoren ständig (z.B.
indem sie sich entwickeln) oder sie werden durch andere Faktoren ersetzt, oder
es ändern sich die Bedingungen, unter denen die genannten Faktoren wirken,
usw. Außerdem sind (c) noch Kenntnisse über die Art, die Ursachen,
die Gesetzmäßigkeiten, die Trends und das Tempo der o.g.
Veränderungen erforderlich, d.h. was sich warum, in welcher Richtung und
wie schnell es sich verändert sowie inwieweit diese Veränderungen
notwendig sind. Allerdings ändert das Letztere nichts an der formalen
Struktur der Vorhersage: Auch in diesem Falle beruht sie auf der Kenntnis der
Situation und ihrer Gesetzmäßigkeiten; dabei sollte man eine
komplexe Zusammensetzung der ersten und eine größere Anzahl der
zweiten berücksichtigen. DAS IGNORIEREN DES ZUFALLS
Ausgehend von der Tatsache, dass die Vorhersagen auf der Kenntnis von
Gesetzmäßigkeiten basieren, sind sie von vornherein mangelhaft in
dem Sinne, dass das Ungesetzmäßige, d.h. alle Arten von
zufälligen Ereignissen, nicht erfasst wird. Im realen Leben eines jeden
Objekts fehlt es daran jedoch nicht. Es ist aber im Grunde unmöglich,
diese in der Prognose zu berücksichtigen: Sie sind eben zufällig,
haben nichts damit zu tun, was die Situation charakterisiert, ergeben sich
nicht aus ihrer Natur. Vor der Unmöglichkeit weicht jedoch bekanntlich die
Schuldigkeit. Die Vorhersage kann nur vom Gesetzmäßigen in Bezug auf
das zu untersuchende Objekt ausgehen. DAS AUSWAHLPRINZIP DER
WIRKENDEN GRUNDFAKTOREN UND DER WESENTLICHEN HANDLUNGEN Allerdings wird auch im
Rahmen dieses Gesetzmäßigen nicht unbedingt alles genutzt. Ich
betone, dass es notwendig ist, in erster Linie dominierend wirkende Faktoren zu
berücksichtigen, d.h. solche Faktoren, die die Grundlage von Metamorphosen
oder der Stabilität des zu untersuchenden Objekts (des Systems, der
Situation u.a.m.) bestimmen. Das Wissen über die Natur, die
gesetzmäßige „Zusammensetzung“ und das „Verhalten“ dieser wirkenden
Faktoren bildet die Grundlage der Prognose, also das, was ihr Gesamtbild, ihre
Kontur, ihre grobe Skizze definiert, die später (falls es erforderlich
wird, die Vorhersage zu verfeinern) durch eine feinere „Stickerei“ ergänzt
werden kann (indem zusätzlich die Auswirkung von sekundären,
tertiären und weiteren Faktoren berücksichtigt wird). Daher besteht
die erste Aufgabe jeder konkreten Prognostizierung in der Ermittlung der im
vorliegenden Fall dominierenden wirkenden Faktoren. Das
Gleiche gilt auch für die Wirkung dieser Faktoren. Jedes materielle Objekt
(und nur solche können wirkende Faktoren sein) hat viele Erscheinungsformen
und eine Vielzahl von Eigenschaften und Handlungsarten. Derjenige, der
Prognosen erstellt, sollte von dieser Vielfalt genau das - und nur das -
auswählen, was in seinem speziellen Fall relevant, also wichtig für
die Veränderung des zu untersuchenden Objekts (z.B. der politischen
Situation in Russland) ist. DIE VORHERSAGE ALS
SCHLUSSFOLGERUNG Die Kenntnis der Situation und der ihren wirkenden Faktoren und
Bedingungen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten ist nichts anderes als
ein Denkansatz für die Schlussfolgerung, die jede Vorhersage ja darstellt.
Umgekehrt basiert jede Schlussfolgerung auf der Formel „Gesetz - Fakt –
Rückschluss“, d.h. sie beinhaltet unbedingt als Prämissen Hinweise
auf (1) eine bestimmte Gesetzmäßigkeit und (2) vorliegende
Umstände, unter denen sie hier und jetzt funktioniert. Wenn man voraussagt
(schlussfolgert), sagt man: Es gibt ein gewisses Gesetz und gewisse
Umstände; daher soll (wird) folgendes geschehen. Die Kenntnis der Situation
und der Gesetzmäßigkeiten ist der notwendige Denkansatz, der
für die Schlussfolgerung benötigt wird. (Ich werde hier nicht die
Rolle und das Wesen der Gesetze der Logik behandeln.) DIE ROLLE DER ERKLÄRUNG
Somit erfordert jede Vorhersage die Kenntnis der Umstände und
Gesetzmäßigkeiten. Aber woher nimmt man dieses Wissen? Wie kann man
insbesondere die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten gewinnen? Es ist
immerhin einfacher, sich in konkreten Umständen zurechtzufinden, zu
verstehen, welche materiellen Objekte es dabei gibt oder welche Prozesse im
Gang sind. Oft ist alles direkt gegeben - man muss sich nur umsehen und
„schnuppern“. Natürlich gibt es auch hierbei bestimmte Schwierigkeiten.
Die erste davon ist die Notwendigkeit, wichtige Bedingungen und wirkende
Faktoren von den unwichtigen zu unterscheiden. Aber unterscheiden heißt
nicht erkennen; das ist ein anderes Problem, es
gibt keine besonderen Schwierigkeiten mit dem Wissenserwerb selbst. Aber
woher nimmt man die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten? Also das Wissen
darüber, wie sich diese oder jene Objekte verhalten, immer und
überall? Das Wissen über die dauerhaften Verbindungen und die
Wechselwirkungen der Bedingungen mit den Prozessen u.a.m.? In der Physik oder
Chemie wird dieses Problem teilweise mit Hilfe von Experimenten gelöst,
indem künstliche Bedingungen, reine Laborbedingungen, geschaffen werden.
Das Verhalten des zu untersuchenden Objekts wird unter diesen Bedingungen oder bei
gewissen vorgeplanten Änderungen studiert. Hier stellt man der Natur
direkte Fragen und erhält Antworten darauf. Jedoch in unserem Fall, wo die
Gesellschaft das Objekt darstellt, ist das Experimentieren fast unmöglich.
Hier lässt sich die Sache nicht auf die Spitze treiben, jedenfalls nicht,
wenn man es ernst meint und einen angemessenen Maßstab setzt. (Ich
ignoriere all die Aussagen, dass die Bolschewiki in Russland ein gescheitertes
Experiment durchgeführt haben, weil es sich bei solchen Ansichten um puren
Idealismus und Naivität handelt.) Eine
weitere Option wäre, nicht vom Experiment auszugehen, sondern zu
versuchen, einige Gesetze logisch, deduktiv abzuleiten, indem man sich auf die
Kenntnis bestimmter grundlegender Fakten stützt. Im sozialen Bereich sind
das die Gesetze der Philosophie und Biologie (weil Menschen im Grunde genommen
Tiere sind). Allerdings lässt sich mit Hilfe dieser Methode nur ein sehr
kleiner Teil der gesellschaftlichen Gesetze erkennen; darüber hinaus
handelt es sich nur um die grundlegendsten. Eine Vielzahl von speziellen
Gesetzen, die sich auf Kleinigkeiten beziehen und gerade für Vorhersagen
am wichtigsten sind, kann man auf solche Weise nicht festlegen. Im Endeffekt bleibt
nur der dritte, der letzte Weg – die Analyse der konkreten Daten, d.h. die
Ermittlung von Gesetzmäßigkeiten durch die Erklärung des
verfügbaren historischen Materials. Wie ist das möglich? Warum
führen Erklärungen zu Gesetzmäßigkeiten? Weil ihr
Algorithmus genau das Gegenteil von Vorhersagen ist. Während man bei einer
Vorhersage, die auf der Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten und
Situationen aufbaut, über die antizipierte Tatsache eine Schlussfolgerung
zieht, hat man bei einer Erklärung im Gegensatz dazu ursprünglich
diese Tatsache vor sich und sucht nach ihrer Ursache, d.h. eben nach den
Umständen und Gesetzmäßigkeiten, die zu ihrer Entstehung bzw.
ihrem Sein geführt haben. Das ist dann keine Bewegung vom Denkansatz hin
zum Rückschluss, sondern die vom Rückschluss hin zum Denkansatz. Die Gesetzmäßigkeit ist
hier nicht die Grundlage für den Rückschluss, sondern das Gesuchte selbst. Etwas zu erklären
heißt, für sich selbst zu entdecken oder einem anderen zu zeigen,
auf welcher Grundlage und dank welcher Gesetzmäßigkeiten es
entstanden ist. Eine Erklärung ist die Ermittlung des notwendigen (nicht
zufälligen) Zusammenhangs zwischen dem zu Erklärenden und dem, woraus
es entstanden ist. Dieser Zusammenhang aber ist die Gesetzmäßigkeit
selbst. Es ist daher verständlich, warum Wissenschaftler, vor allem
diejenigen, die Objekte nicht im Labor studieren, sich zumeist mit
Erklärungen beschäftigen. Sie tun eigentlich auf diese Weise nichts anderes,
als die diesen Objekten inhärenten Gesetzmäßigkeiten zu
ermitteln. Es ist die wichtigste und nahezu einzige echte Methode diese zu
erkennen. Dabei ist die Ermittlung von Gesetzmäßigkeiten die
wichtigste Aufgabe der Wissenschaft, denn ohne ihre Erkenntnis sind Vorhersagen nicht möglich. 2. Die Vielzahl und Wertigkeit
von Einflüssen KONKRETE
BEISPIELE Nun führe ich, der Übersichtlichkeit halber und zum
besseren Verständnis des Wesens der Sache, einige Beispiele an und
analysiere sie. Nehmen wir für den Anfang den einfachsten Fall, d.h. eine
Vorhersage mit einer minimalen Anzahl von Prämissen. „Minimal“ heißt
zwei, das Gesetz und die Situation. Hier ist der einfachste Syllogismus: „Alle
lebenden Organismen bestehen aus Zellen. Der Hund ist ein lebendiger
Organismus. Der Hund besteht aus Zellen". Diese Schlussfolgerung
ähnelt natürlich kaum einer Vorhersage. Aber niemand hat oben
behauptet, dass alle Schlussfolgerungen unbedingt Vorhersagen sind. Ich
behaupte nur das Gegenteil: Alle Vorhersagen sind Schlussfolgerungen. Im
Übrigen lässt sich wohl jeder Rückschluss recht leicht in eine
Vorhersage umändern. Im obigen Beispiel, sagen wir, ist der Rückschluss
ohne weiteres wie folgt zu ändern: „Wenn man einen Hund in Stücke
schneidet und durch ein Mikroskop schaut, so sieht man, dass er aus Zellen
bestand". Doch sollten wir das lieber den Koreanern überlassen und
uns mit geeigneteren Fällen befassen. Nehmen wir die Wechselwirkung zwischen zwei
Massen. Die erste Prämisse lautet: „Alle Körper ziehen einander
proportional zu ihren Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres
Abstandes an". Es ist das wohlbekannte Gesetz der Schwerkraft. Die zweite
Prämisse lautet: „Hier und jetzt gibt es zwei Körper mit den Massen m
und n, die sich auf dem Abstand k voneinander befinden". Das ist die Beschreibung
einer bestimmten Situation, aller Punkte, die im Sinne des o.g. Gesetzes
wichtig sind. Ist es möglich, daraus einen bestimmten Rückschluss zu
ziehen? Ja, und zwar, dass jeder dieser beiden Körper den anderen
Körper jeweils mit den Kräften r und w anzieht; diese Kräfte können
mit den entsprechenden Vektoren dargestellt werden. Ist das eine Vorhersage?
Ich bin nicht sicher. Es scheint, dass der Rückschluss wieder
geändert werden sollte. Eine absolute Vorhersage wäre jedoch die
Aussage darüber, wo sich die beiden Körper nach der Zeit t befinden
würden. Aber noch ist das unmöglich, denn die beiden o.g.
Prämissen sind dafür nicht ausreichend. Man braucht zumindest noch
eine dritte: „Die beiden Körper werden durch nichts weiter
beeinflusst". Dann ließe sich schon folgender Rückschluss
(Vorhersage) ziehen: „Diese beiden Körper werden sich geradeaus
aufeinander zu bewegen und stoßen im Punkt s der Geraden
aufeinander." Das ist auch ein ganz einfaches Beispiel. Aber man könnte es auf
verschiedene Weise komplizierter gestalten. So kann man statt der o.g. dritten
Prämisse einige andere eingeben. Nehmen wir an, dass sich eine der sich
anziehenden Massen bezogen auf die andere bewegt (wegen der Relativität
jeder Bewegung ist es unwichtig, welche von ihnen), d.h. sie verfügt
über einen gewissen Impuls v. Das soll die dritte Prämisse sein. Dann
braucht man auch die vierte Prämisse, die die Gesetzmäßigkeiten
jeder geradlinigen Bewegung beschreibt, also das Trägheitsgesetz: „Jede
geradlinige Bewegung dauert eine unbestimmte Zeit lang an, sofern auf den sich
bewegenden Körper keine Kraft ausgeübt wird, die seinen Impuls
ändert." Dann wird auch die fünfte Prämisse erforderlich,
nämlich dass es außerdem nichts mehr gibt. Und dann erhält man
- je nach den konkreten Verhältnissen von Größe und Richtung
der Schwerkraft und des Impulses - einen Rückschluss (eine Vorhersage)
bezüglich entweder einer kreisförmigen (Option - elliptischen)
Drehung eines Körpers um den anderen oder über die Annäherung
der Körper auf einer Spiralbahn (und im Endeffekt ihre Kollision) oder
über ihre Streuung im Raum in unterschiedlichen Richtungen auf der
gleichen Spiralbahn, die sich allmählich in eine Gerade verwandelt. Aber auch das ist ein ziemlich einfaches
Beispiel. Die Realität ist manchmal viel komplizierter. Es ist z.B. nicht
schwer, sich eine wesentlich größere (und sogar eine unendliche)
Anzahl von grundsätzlich verschiedenen Umständen vorzustellen, die
auf die o.g. Flugbahnen einwirken, und sich daraus ergebend die entsprechende
Anzahl von damit verbundenen Sondergesetzmäßigkeiten. Beispielsweise
könnten diese Körper elektromagnetisch geladen sein, was auf kurzen
Abständen ihre aufeinander bezogenen Bewegungen beeinflussen würde:
Sie werden dann entweder stark voneinander angezogen (bei entgegengesetzten Ladungen)
und fallen beschleunigt oder, umgekehrt, sie stoßen einander ab und
bremsen einander im Fallen ab. Oder stellen wir uns vor, dass sich diese Bewegungen nicht im Vakuum,
sondern in einem bestimmten Medium (z.B. Luft oder Wasser) abspielen. Dann erlangen
einerseits die Besonderheiten und Gesetzmäßigkeiten der Bewegung von
Massen dieses Mediums, d.h. des Gases oder der Flüssigkeit, und
andererseits die aerodynamischen Eigenschaften der Körper selbst, ihre
Massenschwerpunkte, ihre Dichte und Oberflächenformen, ihre Eigenschaften,
die kinetische Energie des Luftstroms abzufangen, eine zusätzliche, wenn
nicht sogar die Hauptbedeutung – und so weiter und so fort. DIE VIELFALT VON
PRÄMISSEN Diese Beispiele zeigen, dass zu Vorhersagen nicht nur drei bis
fünf, sondern ein Dutzend oder mehr Prämissen gehören
können. Die Liste von Sonderfaktoren, die eine konkrete Situation
beschreiben, und von besonderen Gesetzmäßigkeiten, die für sie
charakteristisch sind, kann recht lang sein. Und gerade das Letztere ist
für die überwiegende Mehrheit von realen Prozessen typisch, das meint
solche Prozesse, die nicht unter sterilen Laborbedingungen, sondern in einer
„kontaminierten" Umgebung auftreten. Hierbei gibt es fast immer eine Menge
von verschiedenen Einflüssen, die bei der Prognostizierung
berücksichtigt werden müssen. So sind alle historischen Prozesse,
sowohl die in einer bestimmten Gesellschaft, als auch die für die
Menschheit als Ganzes zutreffenden, real. Bei Vorhersagen in diesem Bereich
handelt es sich nicht um primitive Berechnungen der Bewegung von zwei einander
anziehenden Körpern, wobei jede andere Einwirkung fehlt. Nein, hier muss
eine Vielzahl von ganz verschiedenen wesentlichen Faktoren und
Gesetzmäßigkeiten berücksichtigt werden und die
Schlussfolgerungen müssen aufgrund einer Vielzahl von Prämissen
gezogen werden. Lassen Sie mich das im Detail erklären. Zunächst einmal Einiges
über die Anzahl der Einflussfaktoren. Hier kann es nur um die reine Zahl
gehen. Zum Beispiel, wenn nicht zwei, sondern Hunderte Körper einander
anziehen. Solch eine Verkomplizierung der Situation erschwert natürlich
die Berechnungen stark, aber das war es dann auch schon. Die Anzahl von
Prämissen für eine entsprechende Schlussfolgerung ändert sich in
Wirklichkeit nicht: Es handelt sich um das gleiche Gesetz der Schwerkraft plus
eine erweiterte Beschreibung der Situation (wegen der Auflistung der Parameter
all dieser Hunderte von Körpern und ihrer Standorte) und natürlich
die Anmerkung, dass es sonst keine Faktoren mehr gibt. Die Erhöhung der Anzahl von Prämissen wird durch eine qualitative
Komplexität der Situation hervorgerufen, d.h. durch die Präsenz
grundsätzlich verschiedener wirkender Faktoren und Bedingungen, die mit
besonderen Gesetzmäßigkeiten verbunden sind. Dabei kann es sich sogar
um dieselben Körper handeln, die jedoch nicht nur über Massen,
sondern auch über Impulse, Ladungen oder - in einem
widerstandsfähigen Medium - auch über eine besondere aerodynamische
Struktur verfügen usw. Alle diese spezifischen Wechselwirkungen (untereinander
und mit dem Medium) erfordern separate Beschreibungen, sowohl bezüglich
der hier wirkenden Gesetzmäßigkeiten, als auch bezüglich der
entsprechenden Parameter (Größe, Form, Struktur u.a.m.) Hier
erfordert die Vorhersage genauso viele Prämissen wie besondere
Gesetzmäßigkeiten sowie die gleiche Anzahl von Beschreibungen der
die Situation charakterisierenden Faktoren, und zwar für jedes Gesetz
einzeln. Das gleiche trifft natürlich auch dann zu, wenn es nicht um eine Reihe
von qualitätsmäßig verschiedenen Wechselwirkungen derselben
Körper geht, sondern unmittelbar um eine Anzahl qualitativ verschiedener
Objekte in ihren vielfältigen Kontakten. Beispielsweise sind die o.g.
Strömungsverhältnisse in den Medien, die die Flugbahn der sich darin
bewegenden Körper beeinflussen, nur fremde Dritt- oder Viertfaktoren
für diese Körper mit all ihren „persönlichen"
Besonderheiten, inklusive der aerodynamischen Struktur. Die
Gesetzmäßigkeiten der Bildung und des Einflusses von Dichte,
Viskosität, Geschwindigkeit, Richtung und Konfiguration dieser Ströme
sind mit den o.g. Körpern gar nicht verbunden. Daher dringen in die
Vorhersagen über deren Flugbahn ebenso Faktoren ein, die auch die
Umweltbedingungen ihrer Bewegung beschreiben, d.h. entsprechende Parameter und
Gesetzmäßigkeiten. DIE VIELFALT DER
EINZUBEZIEHENDEN THEORIEN Im Großen und Ganzen ist in den beiden
dargestellten Fällen wichtig, dass man grundsätzlich verschiedene
Gesetzmäßigkeiten mit unterschiedlicher theoretischer Grundlage
heranziehen muss, um Prognosen zu erstellen. Die Massen und das Gesetz der
Schwerkraft sind eins, der Impuls und die Gesetze der Bewegung etwas anderes,
die Ladungen und die Gesetze des Elektromagnetismus ein Drittes, die Aerodynamik von Körpern
und ihre Gesetze ein Viertes und die Gas- oder Hydrodynamik und ihre Gesetze ein
Fünftes. Sie alle sind Objekte und Gesetze spezieller Art, einzelner
Theorien. Und all diese Theorien müssen für die Vorhersage der
endgültigen Flugbahnen verwendet werden. Es reicht nicht aus, nur allein
die Gravitationstheorie zu kennen und anzuwenden. Und so ist es in fast allen realen
Situationen, in denen normalerweise sehr viele qualitativ verschiedene Prozesse
auftreten und aufeinanderprallen, von denen jedem wieder qualitativ besondere
Gesetzmäßigkeiten eigen sind. Die Vorhersage kann sich hier nicht
nur auf eine bestimmte Theorie stützen; es muss eine ganze Reihe
verschiedener Theorien herangezogen werden, verschieden nicht in dem Sinne,
dass sie miteinander wie Theorien eines einzelnen Phänomens konkurrieren,
sondern in dem Sinne, dass sie einander ergänzen, indem sie verschiedene
Facetten des Verhaltens eines Objektes oder das unterschiedliche Verhalten von
verschiedenen Objekten beschreiben. Die Gravitationstheorien von Newton und
Einstein konkurrieren miteinander und schließen einander in gewissem
Sinne aus, aber die Theorien der Schwerkraft und des Elektromagnetismus
ergänzen einander bei der Beschreibung der Flugbahn des Körpers in
entsprechenden Feldern. So ist es auch mit der realen historischen Entwicklung
der Menschheit oder einer einzelnen Gesellschaft. Man benötigt ebenso eine
ganze Reihe verschiedener Theorien, um diese zu erkennen und zu erklären. DIE
BERÜCKSICHTIGUNG DES WESENTLICHEN Gleichzeitig kann man leicht
feststellen, dass die Komplexität, die ihrem Wesen nach unendlich ist,
dennoch in der Praxis nicht total ist. Bei einer relativ zuverlässigen
Vorhersage kann man Vieles unberücksichtigt lassen, da sich der Einfluss
der verschiedenen Umstände mitsamt ihren Gesetze in der Größe
unterscheidet (wir erinnern uns hier an das Prinzip der Auswahl von wichtigen
wirkenden Faktoren und wesentlichen Maßnahmen). Zum Beispiel wird die Flugbahn einer Flocke in
der Erdatmosphäre vor allem durch Luftströme sowie durch
aerodynamische Eigenschaften der Flocke bestimmt. Die Auswirkung ihrer Masse,
d.h. der Erdgravitation, und umso mehr ihrer Ladung, wenn es diese gibt, und
somit die Auswirkung des elektromagnetischen Feldes der Erde auf sie,
können ruhig ignoriert werden. Sie sind hier praktisch bedeutungslos,
obwohl sicher auch vorhanden. Aber wenn man statt der Flocke eine gusseiserne
Hantel nimmt, dann können im Gegenteil ihre aerodynamischen Eigenschaften
und die Luftströme ignoriert werden, denn hier treten die Masse und das
Gesetz der Schwerkraft in den Vordergrund. So ist es überall, auch im sozialen
Bereich. Obwohl entsprechende reale Prozesse komplex sind und dabei viele
Faktoren und Theorien berücksichtigt werden müssen, reicht es auch
hier, nur das bedeutendste im Auge zu behalten, um mehr oder weniger
verlässliche Vorhersagen zu machen. Ansonsten ertrinkt man einfach im
Material, und es wird nichts Rechtes daraus. Allerdings ist es auch nicht
einfach, das Signifikante vom Unbedeutenden zu unterscheiden, denn was heute
als unwichtig empfunden wird, könnte morgen wichtig sein, und unsere ganze
Prognose für übermorgen wäre falsch, wenn wir das nicht
berücksichtigen würden. Dennoch ist es möglich und notwendig,
das Wichtige sachkundig auszuwählen und das Unwichtige zu verwerfen. ZWISCHENFAZIT Ich
fasse also zusammen: Unser Ziel und unsere Hauptaufgabe bestehen darin, die
Vergangenheit Russlands zu erklären und die Zukunft dieses Landes oder,
genauer gesagt, der russischen Gesellschaft vorherzusagen. Erstens ist dies
kein „Laborprojekt“, sondern es ist ein reales, „lebendes" Objekt. Seine
Evolution wird von vielen verschiedenen Faktoren bestimmt, und deswegen ist es
nötig, viele Umstände zu berücksichtigen und sich auf eine ganze
Reihe von verschiedenen Gesetzmäßigkeiten zu stützen, also verschiedene
Theorien zu verwenden, um dieses Objekt zu erklären und entsprechende
Vorhersagen zu formulieren. Zweitens handelt es sich um ganz konkrete Erklärungen und Vorhersagen,
die kein totales Wissen erfordern, um zuverlässig zu sein, sondern nur
eine bestimmte Anzahl von wesentlichen Theorien und Fakten. Welche sind das
nun? 3. Drei Hauptansätze,
die für die Erklärung und die Vorhersage von gesellschaftlichen
Prozessen wichtig sind DIE THEORIE DER
GESELLSCHAFT IM ALLGEMEINEN Das Erste (und das Wesentlichste), was man beachten
sollte, ist die Tatsache, dass Russland eine Gesellschaft ist. Was folgt daraus? Es folgt die Erkenntnis, dass
es mit all seinen individuellen Besonderheiten allen anderen Gesellschaften im
Wesentlichen ähnlich ist, es ist also im Grunde genommen genauso
aufgebaut, es funktioniert und entwickelt sich so wie sie alle. Bei allen
Gesellschaften gibt es zwangsläufig etwas Gemeinsames, wenn wir sie auf
irgendeine Weise definieren und alle diese Objekte (mit den ihnen eigenen
Strukturen, Eigenschaften, Evolutionsrichtungen usw.) mit dem gleichen Begriff
„Gesellschaft" bezeichnen. Gäbe es keine Ähnlichkeiten,
würden wir dieser Klasse von Objekten keine Sonderstellung einräumen,
wir würden keine Idee von der Gesellschaft als solcher haben und
würden dann auch Russland nicht so einstufen. Mit anderen Worten, alle Gesellschaften müssen, wenn sie eben
Gesellschaften sind, über bestimmte identische Aufbauprinzipien und Gesetzmäßigkeiten
ihrer Lebenstätigkeit (ihres internen Funktionierens und ihrer externen
„Verhaltensweisen“) und Entwicklung verfügen (inklusive der identischen
Entwicklungsstufen). Und daher kann oder, genauer gesagt, muss es eine gewisse
gemeinsame (eine für alle geltende) Theorie geben, die diese
Gesetzmäßigkeiten beschreibt, sozusagen eine Theorie der
Gesellschaft im Allgemeinen, die in Bezug auf eine beliebige Gesellschaft,
welche auch immer, als Erklärungsgrundlage „praktikabel" ist, sei es
nun in England, China oder Russland. Eben diese allgemeine Theorie muss in erster Linie erforscht werden. Es muss untersucht werden, was jeder
Gesellschaft bezüglich ihrer Struktur, Lebenstätigkeit und Entwicklung
eigen ist, welche grundlegenden Gesetzmäßigkeiten es dazu gibt und
was daher auch für Russland zutreffend ist, wenn man es von diesem
zentralen Gesichtspunkt her betrachtet. So findet man das Allgemeine im
Besonderen. Oder, genauer gesagt, man nutzt das allgemein Zutreffende in Bezug
auf das Besondere, denn man ermittelt ja das Allgemeine nicht nur am Beispiel
Russlands, sondern auch aller anderen Gesellschaften. DER
„BESONDERHEITSANSATZ“ Die zweite Tatsache ist, dass Russland, das
natürlich eine Gesellschaft ist, zur gleichen Zeit eine besondere Gesellschaft darstellt. Oder
zumindest war das früher hundertprozentig der Fall (bis zu dem
allmählich alles und jeden nivellierenden Zeitalter der Globalisierung).
Es hatte sozusagen ein Gesicht, dessen Ausdruck keinem anderen ähnlich
war.[2] Diese
Besonderheiten waren auch nicht vorübergehend, sondern recht
beständig; es waren wichtige Faktoren, welche die russische
Gesellschaftsordnung und ihre Evolution beeinflussten. Die Kenntnis dieser
Besonderheiten, die Kenntnis davon, was sie darstellten, wo sie hergekommen sind
und wie sie die o.g. Struktur und Evolution bestimmten, also die Kenntnis all
dieser Umstände, ist auch für das Verständnis des historischen
Schicksals von Russland wichtig. Das gilt so für jede Gesellschaft. Die Kinder verschiedener
Völker hängen eben nicht alle nur dem Traum vom Frieden an[3], wie ihn
einst unsere Väter und Großväter besangen; sie reagieren
durchaus verschieden auf die gleichen Reize. Unter Umständen können
sie auch einfach jemanden niederstechen. Es ist bei weitem nicht unangebracht,
die Besonderheiten solcher Reaktionsweisen zu kennen, sich darüber im
Klaren sein, wo sie herkommen und wozu sie führen können. Und dann
ist auch eine Sondertheorie erforderlich (und sogar nicht nur eine). EINZEL-THEORIEN
DER GESELLSCHAFTEN Als Erstes ist bei diesem "Besonderheitsansatz"
eine ganze Familie von Theorien erforderlich, die jeweils Folgendes
beschreiben: 1) eben
die Besonderheiten der Struktur, des
Funktionierens, der "Verhaltensweisen" und der Entwicklung von: a)
den einzelnen Gesellschaften und b) deren Gruppen (Arten), Untergruppen
(Abarten) etc., die durch deren Gemeinsamkeit verschiedenen Grades bestimmt
werden (wobei jedes für die Mitglieder einer bestimmten Gruppe gemeinsames
Merkmal, das diese bildet, gleichzeitig auch ein Markenzeichen ist, das diese
Gruppe von den anderen Gruppen derselben Ebene und Art der Generalisierung unterscheidet); 2) die Bedeutung dieser Besonderheiten, also
die Rolle, die sie im „Leben" der jeweiligen Gesellschaften spielen
(gespielt haben). So sind z.B. die englische, französische, deutsche und andere
Gesellschaften Westeuropas einzigartig. Sie unterscheiden sich einerseits sichtbar
voneinander. Andererseits bilden sie
Gruppen und werden entsprechend den verschiedenen „sekundären
Merkmalen" unterteilt (z.B. in römische, keltische und germanische
Ethnien oder in katholisch und protestantisch geprägte Gesellschaften usw.)
Drittens sind sie alle
westeuropäische Gesellschaften, die nach einigen grundlegenden
Merkmalen einander nah sind und sich von allen anderen Gesellschaften
unterscheiden. Und jede von diesen Besonderheiten hat eine tiefe Spur in den
Wendungen der Geschichte der jeweiligen Gesellschaften hinterlassen. Das Gleiche kann über die Gesellschaften (und die Geschichte) des
arabischen Ostens, Lateinamerikas, der fernöstlichen Region sowie über
die verschwundenen Kulturen (antike, alte nahöstliche, mittelalterliche
soziale Gebilde Mesoamerikas usw.) gesagt werden. Überall findet sich eine
vielfältige Differenzierung der Klasse (Gattung) von „Gesellschaften
überhaupt", begonnen von ihren ersten groben Formen, den sogenannten
„Sonderzivilisationen“, über viele Zwischenstufen, die immer speziellere
Verallgemeinerungen darstellen, bis zur Basis dieser „Pyramide", die aus
einzelnen konkreten Gesellschaften besteht. Im Zusammenhang damit geben die
Unterschiede, die Gemeinsamkeiten sowie die einzigartigen Besonderheiten
verschiedener Gesellschaften genügend Material, um entsprechende Theorien
zu entwickeln. DAS
VERHÄLTNIS DER ALLGEMEINEN THEORIE UND DER EINZEL-THEORIEN Und wie ist das
Verhältnis dieser Einzeltheorien und der allgemeinen Theorie der
Gesellschaft zueinander?
Zum einen sind sie in ihren
entscheidenden Teilen Konkretisierungen der allgemeinen Theorie. Mit anderen
Worten ist ihr Verhältnis zu dieser Theorie in den besagten Teilen
identisch mit dem Verhältnis von verschiedenen Formen der Realisierung
eines bestimmten Inhalts und des Inhalts selbst. Die allgemeine Theorie
fungiert in diesem Sinne einfach als eine Verallgemeinerung der
Einzel-Theorien, wobei das Gattungswesen den Phänomenen abgewonnen und von
den Artnuancen abgesehen wird, in denen sich dieses Wesen in diesem oder jenem
konkreten Fall verkörpert Zweitens
können einige (weniger wichtige und in der Regel kleinere) Teile der
Einzel-Theorien den Inhalt der allgemeinen Theorie ergänzen. Das bezieht
sich auf die Beschreibung der Besonderheiten von einzelnen Gesellschaften
(sowie ihrer Gruppen, Untergruppen etc.), welche die in den besagten
Gesellschaften ablaufenden Prozesse beeinflussen; somit lohnt es sich, diese
theoretisch zu behandeln. Gleichzeitig sind sie einzigartig, lassen sich also
nicht verallgemeinern. Es
ist weiterhin erwähnenswert, dass das Verhältnis von allen Theorien
aller Objekte auf einer bestimmten Ebene der Verallgemeinerung (n-1, n-2 usw.)
genauso ist. Je kleiner dabei der Abstand zwischen den mehr und den weniger
allgemeinen Theorien ist, desto mehr wird der Inhalt der zweiten zur
Konkretisierung der ersten, statt diese zu ergänzen. Umgekehrt, je
größer dieser Abstand ist, desto mehr neigt
sich die Waagschale zu Gunsten der Ergänzungen auf Kosten der
Konkretisierung. THEORIEN
DER HERKUNFT VON BESONDERHEITEN Aber die Sache ist nicht auf Einzel-Theorien
beschränkt, die die Besonderheiten der Gesellschaften (und den Einfluss
dieser Besonderheiten auf deren Schicksal) beschreiben. Man muss außerdem
deren Genese untersuchen; sie kommen ja irgendwo her. Die Beschreibung der
Bedingungen, Ursachen und Gesetzmäßigkeiten von deren Herkunft
(sowie deren weiterer Evolution) bilden den Inhalt des zweiten Typs der „Besonderheits-Theorien“.
Sie sind auch in eine Art allgemeine Theorie und Einzel-Theorien unterteilt.
Die allgemeine Theorie behandelt Gesetze und Faktoren, welche die Entstehung
der Vielfalt im öffentlichen Bereich bedingen; sie erklärt also den
Ursprung der Besonderheiten überhaupt. Die Einzel-Theorien beschreiben die
Bedingungen, Ursachen und Gesetze der Bildung von konkreten Arten der
Besonderheiten. DIE
NORMGERECHTIGHEIT DES GATTUNGS- UND ARTANSATZES UND UNSERE WAHL Alles, was
vorhin gesagt worden ist, berührt natürlich direkt das, was es in den
Naturwissenschaften sowie in jeder theoretischen Erkenntnis aller Objekte an
sich gibt (also der Objekte, die keine „Früchte" unserer physischen
oder geistigen Tätigkeit sind): der Elementarteilchen, Atome,
Moleküle, Zellen, Organismen sowie Galaxien, Sterne, geologischen
Ablagerungen usw. Die Struktur ist überall die gleiche: Es gibt allgemeine
(Gattungs-)Theorien der Objekte, ihre Einzel-Anwendungen (Modifikationen; Konkretisierungen und Ergänzungen), welche die Besonderheiten verschiedener Gattungen (Arten,
Unterarten etc.) der zu untersuchenden Objekte beschreiben, und
schließlich bestimmte Theorien über den Ursprung dieser Objekte,
sowohl als Klasse, als auch deren einzelner Sondervertreter. Auch
bei der Erkenntnis der Gesellschaften (die genauso Objekte an sich sind) haben
wir den gleichen Standard-Fall. In der vorliegenden Vortragsreihe interessiert
uns nicht alles davon, sondern nur: a) die allgemeine Theorie der Gesellschaft,
b) die allgemeine Theorie der Herkunft von Besonderheiten der Gesellschaften
und c) die Einzel-Theorie der Besonderheiten der russischen Gesellschaft,
einschließlich der Einzel-Theorie von deren Herkunft. Ähnliche
Abschnitte, die sich auf andere Gesellschaften beziehen, werden wir
größtenteils ignorieren oder, genauer gesagt, als Illustrationen nur
kurz anschneiden. DIE THEORIE DER
UMWELTEINFLÜSSE Schließlich ist es (als Ergänzung zum oben
genannten) unmöglich, die Wechselfälle der historischen Entwicklung
und der jeweiligen Struktur einer gewissen Gesellschaft zu verstehen, ohne den
Einfluss der Umwelt auf diese Gesellschaft zu berücksichtigen. Es ist
genauso unmöglich, die Bewegung einer Flocke in der Erdatmosphäre
vorherzusagen, indem man sich auf die bloße Kenntnis der Besonderheiten
dieser Flocke stützt; das Wesen der Luftströme ist hier nicht weniger
wichtig. Jede Gesellschaft hat genauso ihre eigene Umwelt, und diese Tatsache
beeinflusst oft wesentlich die „Flugbahn" ihrer Evolution und ruft einen
gewissen „Zickzack-Kurs“ hervor. Es ist unmöglich, dies im Rahmen der o.g.
allgemeinen Theorie der Gesellschaft sowie der Theorien von individuellen und Gruppenbesonderheiten der
einzelnen Gesellschaften zu erklären, denn sie sind ja eben Theorien der
Gesellschaften an sich, welche die gerade ihnen eigenen allgemeinen und
spezifischen Eigenschaften beschreiben, d.h. das, was ihnen gemäß
ihrer Natur inhärent ist und ihr Leben und ihre Evolution von innen bestimmt.
Äußere Einflüsse dagegen sind in diesem Beziehungsgefüge
eher Zufälle. Allerdings lässt sich das über die Theorie der Herkunft von
Besonderheiten der Gesellschaften nicht sagen - eben weil die Entstehung der
Besonderheiten, die diese Theorie erforscht, durch besondere
Umwelteinflüsse bedingt ist, wie im entsprechenden Vortrag nachgewiesen
wird; selbstverständlich ist die Besonderheit dieser Einflüsse von
der Eigenart der Umwelt abzuleiten. Aber seit die konkreten Besonderheiten der
einzelnen Gesellschaften entstanden sind (und seitdem sie angefangen haben,
deren Struktur und Evolution zu beeinflussen), erlangen sie eine von der Umwelt
unabhängige Existenz und werden dadurch zu eigenen Merkmalen dieser
Gesellschaften. Gleichzeitig sind die Umwelteinflüsse
nicht nur im Hinblick auf die o.g. Erzeugung von individuellen und
Gruppenbesonderheiten bedeutsam, die später eine autonome Entwicklung
beginnen. Die Umwelt setzt ihre vielfältigen Einwirkungen fort, auch in
anderen Bereichen. Konkrete Gesellschaften, die einerseits als Gesellschaften
im Allgemeinen und andererseits im Rahmen ihrer Einzelbesonderheiten
funktionieren und sich entwickeln, stehen außerdem ständig unter
Druck durch verschiedene externe Faktoren und sind gezwungen, darauf „ab- oder
ausweichend“ zu reagieren. Manchmal sind diese Einflüsse sogar von
erstrangiger Bedeutung (z.B. wenn eine Gesellschaft die andere erobert und
dieser ihre eigene, mehr oder weniger entwickelte Ordnung aufzwingt). In solchen
Fällen lässt sich die Zukunft von konkreten Gesellschaften einfach
nicht voraussagen, ohne diesen Einfluss zu berücksichtigen (genauso wenig
lässt sich dann auch ihre Vergangenheit erklären). Hier
stellen wir also eine weitere Art von Einflussfaktoren fest. Es zeichnet sich
eine weitere Sondertheorie darüber ab, welche besonderen Faktoren der
Umwelt bei der Existenz von Gesellschaften eine Rolle spielen und wie sie deren
Ordnung, Struktur und Evolution beeinflussen. Ich meine dabei die Beschleunigung,
Verlangsamung oder sogar Verzerrung des natürlichen Verlaufs der
Ereignisse, den diese Gesellschaften erlebt hätten, wenn sie „geradlinig“,
ohne fremdes Zutun, außerhalb von Sonderbedingungen oder bei deren nur
unbedeutendem Einfluss gelebt und sich entwickelt hätten (d.h. wenn die
Bedeutung der Umwelteinwirkung viel geringer als die Wirksamkeit der internen
Faktoren der Gesellschaftsevolution ist). DIE NACHTEILE DER
MODERNEN WISSENSCHAFT Daraus folgt, dass es notwendig ist, (mindestens) alle
drei genannten Ansätze zu berücksichtigen: den allgemeinen
(Gattungs-)Ansatz, den „Besonderheits“-(Arten-)Ansatz sowie den Ansatz der
Umwelteinflüsse - um wenigstens grundsätzlich, im Großen und
Ganzen, die Geschichte zu verstehen oder die Zukunft einer beliebigen Gesellschaft
sowie der Menschheit als Ganzes vorauszusagen. Für eine Detailvorhersage
ist es dabei erforderlich, weitere demografische,
ethologische, ökologische und andere Ansätze- heranzuziehen. Man kann
den historischen Prozess mit nur einer der o.g. speziellen Theorien nicht erklären. Das wird von vielen modernen Wissenschaftlern
nicht verstanden (von früheren Gelehrtengenerationen, die selbst von all
diesen besonderen Herangehensweisen gar nichts wussten, ganz zu schweigen). Die
allgemeine Theorie der Gesellschaft, die Beschreibung von Besonderheiten der
einzelnen Gesellschaften und deren Gruppen (einschließlich einer Reihe
von Überlegungen über die Herkunft dieser Besonderheiten) und die
Theorie der Umwelteinflüsse sind heute in der Wissenschaft in Form der
sogenannten Gesellschaftsordnungs-, Zivilisations- und Weltsystemansätze
zwar präsent, gehen aber der Sache nicht auf den Grund (im letzteren Fall
spielt die Einbeziehung der Gesellschaft in eine bestimmte politische oder
wirtschaftliche Gemeinschaft die Hauptrolle). Den ersten Ansatz begründete
vor allem der Marxismus, den zweiten machte vor allem A. Toynbee berühmt
und der dritte, jetzt im Westen populäre Ansatz ist besonders mit den
Werken von I. Wallerstein und Co. verbunden. Alle o.g. Lehren stehen in
deutlichem Widerspruch zu dem, wie ich im Weiteren diese Themen behandeln
werde. Die Materie ist zwar gemeinsam, aber das Verständnis der zugrunde liegenden
Theorien ist ganz verschieden. Jedoch ist im Moment selbst das nicht wichtig. Hier möchte ich nur darauf aufmerksam
machen, dass die Anhänger der drei genannten Ansätze diese aus
irgendeinem Grund meist als konkurrierende und nicht als komplementäre
Theorien behandeln. Leider halten die meisten Protagonisten jeder dieser Lehren
nur ihre Schule für richtig oder zumindest für führend und
ignorieren alle anderen bzw. lehnen sie als angeblich fehlerhaft ab. Im
Ergebnis werden von ihnen die kompliziertesten multifaktoriellen historischen
Prozesse einseitig und voreingenommen untersucht. Daraus folgt aber auch die
vollkommene Hilflosigkeit der erarbeiteten Konzepte, die jedes Mal erkennbar
wird, wenn es um komplexere Erklärungen und Vorhersagen geht. Es gab Zeiten, als die sowjetischen
Wissenschaftler massenhaft nur die allgemeine Theorie der Gesellschaft
entwickelten und anerkannten und sie wie eine Fahne über den Weiten der
Weltgeschichte schwangen. Sie versuchten, alle gesellschaftlichen
Gratwanderungen ausschließlich durch Gesetze der Gesellschaftsordnungen
zu erklären. Es wurde Kleinholz gemacht und bis jetzt wird damit gefeuert.
In den 90er Jahren beeilte man sich, das Gegenteil zu praktizieren: Die
Zivilisationsbesonderheiten der einzelnen Gesellschaften wurden auf den Schild
getürmt, sie wurden zu den einzigen wesentlichen Faktoren erklärt,
die das Sein jeder Gesellschaft bestimmen. Die Gesellschaftsordnungstheorie mit
ihren für alle gemeinsamen Gesetzen wurde zusammen mit dem Schmutzwasser
des sowjetischen „Sozialismus" ausgeschüttet[4]
(nebenbei wurde die ohne diese Gesetze entstandene Leere
selbstverständlich durch den falsch verstandenen synergetischen Zufall
ausgefüllt[5]).
Nun dringt zu uns nach und nach aus dem Westen der Weltsystemansatz durch, und
natürlich auch als die einzig richtige siegreiche Lehre, die wiederum den
Gesellschaftsordnungs- und Zivilisationstheorien nicht zu Hilfe kommt, sondern
diese ersetzen soll. Ein Ergebnis nahe null (in Bezug auf die Erklärung
der Weltgeschichte) wird nicht ausbleiben. Man muss diesen Fehler vermeiden. Das
Klosterleben im Allgemeinen wird nicht mit dem Statut von nur einem bestimmten
Kloster geregelt[6].
Man muss (wieder – zumindest!) alle zuvor genannten Ansätze in
Anspruch nehmen, um alle wichtigen Nuancen der menschlichen Geschichte oder der
Geschichte verschiedener Gesellschaften zu erklären. DAS PROGRAMM DER
VORTRAGSREIHE Um den historischen Weg Russlands in seinen Grundlagen zu
erklären (was hier für ausreichend gehalten wird) und dessen Zukunft
vorauszusagen, muss man also alle drei genannten Theorien verwenden und eine
Vielzahl von verschiedenen Umständen und Gesetzmäßigkeiten
berücksichtigen, die hierbei eine Rolle spielen. Und dafür muss man
diese natürlich erst untersuchen, erkennen. Gerade damit werden wir uns
vor allem im Weiteren befassen. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf die
allgemeine Theorie der Gesellschaft, also auf die Untersuchung dessen gerichtet
werden, was sie (also die Gesellschaft im Allgemeinen) ausmacht und wie sie
sich entwickelt. In diesem Bereich soll herausgefunden werden: Ø wie
eine beliebige Gesellschaft im Großen und Ganzen aufgebaut ist; Ø wie sie
sich im Großen und Ganzen entwickelt und welche Etappen
(Gesellschaftsordnungen) sie in dieser Entwicklung zurücklegt; Ø was
für diese Etappen typisch ist und welche Besonderheiten der Gesellschaften
es gibt, die sich in einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung befinden. Dann sollen die allgemeine Natur (der
Untergrund, die Basis) und das konkrete Wesen der Zivilisationsbesonderheiten
von einzelnen Gesellschaften, der Ursprung dieser Besonderheiten und deren
Bedeutung für das Schicksal der jeweiligen Gesellschaften geklärt
werden, vor allem der russischen. Hierbei wird es erforderlich sein, die Rolle
von Umwelteinflüssen zu behandeln, die dann auch aus anderen Blickwinkeln
betrachtet werden sollen. Schließlich wird es am Ende, basierend auf allem Vorgenannten,
möglich sein, den historischen Weg Russlands zu erklären sowie zu
versuchen, dessen unmittelbare Zukunft vorauszusagen. Vortrag zwei. DIE
BASISSTUKTUR DER GESELLSCHAFT 1. Die Funktionsstruktur DIE GENOSSENSCHAFT
Es ist offensichtlich, dass die Gesellschaft ein System ist, dessen Elemente
die Menschen sind. Aber Systeme sind unterschiedlich, z.B. materiell und
ideell, offen und geschlossen usw. In unserem Fall ist es wichtig, dass sie in
chaotische und geordnete eingeteilt werden. Die Gesellschaft gehört
eindeutig zu den Letzteren. Sie ist keine Atmosphäre, keine
Flüssigkeit mit der Brownschen Bewegung der Teilchen, sondern etwas recht
Stabiles, etwas mit einer mehr oder weniger dauerhaften Form und Struktur. Die Ordnung kann jedoch unterschiedlich sein.
Ich sage hier gleich, ohne mich in detaillierte Klassifikationen zu vertiefen,
dass der Basisbegriff für die Gesellschaft eine Ordnung ist, die eine
komplexe Kooperation darstellt oder, einfacher gesagt, auf der Arbeitsteilung
beruht. Nimmt man eine beliebige Gesellschaft (ob entwickelt, ob nicht), ist leicht
zu merken, dass sie eine Art Genossenschaft ist. Jedes Mitglied führt in
dieser Genossenschaft seine besondere Funktion aus und alle zusammen bilden
einen Gesamtorganismus - die Gesellschaft, gerade dank dem Verbund ihrer
vielfältigen Aktivitäten. DIE EBENEN DER
FUNKTIONALEN SCHICHTUNG Dabei erfolgt die o.g. funktionale Arbeitsteilung auf
verschiedenen Ebenen. Die niedrigste ist
die Ebene der konkreten Berufe. Heute gibt es viele Tausende davon:
Fräser, Dreher, Mechaniker, Lehrer der Mathematik, Physik, Chemie,
Zahnärzte, Baggerführer, Vermögensanwälte,
Untersuchungsführer, Diplomaten u.a.m. Das sind die einfachsten
funktionalen Gruppen; jede spielt ihre
Rolle im öffentlichen Leben, hat ihren Platz in der Genossenschaft namens
„Gesellschaft". Die Zusammenfassung dieser konkreten Berufe
ergibt neue Niveaus. Alle Zahn-, Kinder-, HNO-Ärzte, Urologen u.a.
schließen sich z.B. zur Gruppe der „Ärzte“ zusammen und wenn man
noch Sanitäter, Krankenschwestern und -pfleger hinzufügt, dann geht
es um eine weit größere Gruppe von medizinischen Mitarbeitern. Das
gleiche gilt für Lehrer, Lektoren, Erzieher etc. Sie alle sind Bildungs-
und Erziehungsmitarbeiter. Nun, und so weiter. Es lassen sich viele solcher
Zusammenfassungen von verschiedenen Berufen vornehmen. Aber
auch diese zweite Ebene ist verständlicherweise nicht die letzte. Man kann
weitere funktionale Gruppen nach den verschiedensten Kriterien zusammenfassen
und das ergibt eine immer grobkörnigere Einteilung der Gesellschaftsmitglieder,
z. B. in Verwalter, Produzenten von materiellen Gütern, Kunstschaffende,
Wissenschaftler, Tätige der geistigen und körperlichen Arbeit etc.
Und im Weiteren werden wir natürlich vor allem solche Zusammenfassungen
der zweiten, dritten usw. Ebenen verwenden. Die „untere“ Berufseinteilung
selbst ist für uns uninteressant, weil sie zu detailliert
ist. Im Moment reicht es jedoch, nur eins festzustellen: Egal wie detailliert
die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist, alle Gruppen von Tätigen, die in
ihrem Rahmen eine spezielle Funktion ausüben, können als
Funktionsschichten bezeichnet werden. Diese Funktionsschichtung von Menschen
ist die Grundlage jeder Gesellschaft als System. Die Kooperation und nichts
sonst (keine Gewalt, kein Gesellschaftsvertrag und kein Klebstoff) ist ihr
wesentlichster Faktor. Warum gerade sie? DER SINN DER „AKTIVITÄTEN“ Weil die Entstehung und die Existenz der Gesellschaft lediglich dadurch
bedingt ist, dass sie für das Überleben des Menschen nützlich
ist. Genauso wie alle Evolutionserwerbungen, die durch die natürliche
Zuchtwahl ausgesucht und gesichert worden sind, ist die Gesellschaft eine
besondere (und, es sei bemerkt, äußerst effektive) Art und Weise der
Umweltanpassung. Dabei wird ihre ganze Effektivität eben durch die
Kooperation gesichert. Sie erhöht drastisch die Fähigkeiten
derjenigen, die sie praktizieren. Selbst die einfache Summierung von
Anstrengungen lässt gelingen, was ein Einzelner nicht leisten kann, z.B.
einen tonnenschweren Stein zu heben. Eine komplizierte Kooperation fügt dem
noch den sogenannten „Systemeffekt“ hinzu. Die Arbeitsteilung ermöglicht,
jede einzelne Operation, die das Gesamtergebnis sichert, um mehrere Hundert Mal
besser und effizienter auszuführen. Daher ist auch das Ergebnis viel
besser. Was sage ich! Gäbe es keine
Arbeitsteilung, würde die zahlenmäßig kleine Menschheit bis
heute bestenfalls mit Stöcken bewaffnet durch Afrika streifen, ohne
über Fernseher, noch über Flugzeuge oder selbst die einfachsten
Metallwerkzeuge zu verfügen. Wir haben alles Gute, worüber wir
verfügen, der Kooperation zu verdanken, um M. Gorkis Worte neu zu
formulieren[7]. Die Kooperation, die die Menschen zu einem
Ganzen verbindet, bildet die Gesellschaft eben durch diese Verbindung. Eine beliebige Gesellschaft ist, wie
gesagt, eine große Genossenschaft, in der wir alle unsere Funktionen
ausüben, indem wir für das allgemeine Wohl arbeiten, und in der jeder
einen wesentlichen Nutzen daraus zieht. Jedes Gesellschaftsmitglied (selbst
wenn es um eine äußerst ungerechte Gesellschaft geht) hat viel
größere Chancen zu überleben im Vergleich zu dem, der alleine,
auf eigene Gefahr, mit seiner Umwelt kämpft. Ganz zu schweigen von der
Zugänglichkeit zu vielen materiellen und geistigen Gütern, deren
Vorhandensein nur die gemeinsame komplizierte kooperative Produktion sichern
kann. (Außerdem wird oft der zusätzliche allgemein bekannte Umstand
außer Acht gelassen, dass der Mensch nur im sozialen Gebilde, unter der
Bedingung der Sozialisierung zum vernünftigen Menschen werden kann, sowohl
in der historischen Herausbildung der Art „Homo sapiens“, als auch in der
individuellen Entwicklung eines jeden einzelnen Menschen). Die Kooperation ist also mit ihren Vorteilen etwas, was die Gesellschaft zu
einer supereffektiven Art und Weise der Umweltanpassung macht und gleichzeitig
diese überhaupt erst als ein besonderes System herausbildet. Die
Arbeitsteilung erhöht mehrfach die Effizienz der Arbeit, und gerade die
jedem mehr oder weniger zuteilwerdenden Ergebnisse dieser Effizienz halten uns
alle zusammen. Deswegen ist die funktionale Struktur die Basis der
Gesellschaft, ihr Fundament, worauf sie im Endeffekt beruht. FUNKTIONEN UND
AUFBAU Die funktionale Struktur (d.h. die Existenz bestimmter
Funktionsschichten) und die Ausführung spezieller Funktionen sind nicht
ein und dasselbe. Natürlich gibt es in jeder Gesellschaft eine bestimmte
Anzahl von durch deren Mitglieder ausgeführten Funktionen, die dieser
Genossenschaft in ihrem Niveau entspricht. Und selbstverständlich sind die
Funktionsschichten spezialisiert auf konkrete Funktionen. Aber daraus allein
ergibt sich nicht, dass für die Ausführung jeder einzelnen Funktion
auch eine besondere Gruppe von Spezialisten benötigt wird. Die Anzahl von
Spezialisten kann per definitionem die Anzahl der Funktionen nicht
übersteigen. Die Anzahl der Funktionen kann aber größer als die
der Spezialisten dafür sein, da es Fachleute gibt, die mehrere Funktionen
ausführen können und darüber hinaus werden einige Aufgaben sogar
von allen Mitgliedern der Gesellschaft ganz ohne Spezialisierung
ausgeführt. Mit
anderen Worten, die Zahl der in einer Gesellschaft ausgeführten und
für deren Überleben notwendigen Fähigkeiten entspricht nicht
unbedingt der genau gleichen Zahl von Funktionsschichten. Damit eine ganze
Schicht von Menschen herausgelöst wird, die eine bestimmte Funktion
ausführen (d.h. die funktionale Struktur der Gesellschaft wird
verändert), ist erstens eine signifikante Zunahme der Komplexität und
der Bedeutung dieser Funktion und zweitens eine ausreichende Entwicklung der
Gesellschaft selbst nötig, die sichert, dass ein Teil ihrer Mitglieder
eine Sonderstellung einnehmen kann. Damit Spezialisten auftreten können,
die, sagen wir, nur vom Singen und Tanzen leben, ist es notwendig, dass die
Gesellschaft bereit ist, diese Menschen einerseits entsprechend ihren
Bedürfnissen und andererseits ihren Möglichkeiten gemäß zu
unterhalten. Daher
ist die Anzahl der gesellschaftlichen Funktionen in der Regel größer
als die Anzahl von besonderen Funktionsschichten. Die funktionale Struktur der
Gesellschaft bleibt immer hinter der Anzahl von Funktionen zurück, die von
ihren Mitgliedern in Wirklichkeit ausgeführt werden. Diese Funktionsanzahl
ist sozusagen der Boden, auf dem besondere Schichten von Spezialisten mit der
Weiterentwicklung dieser Funktionen selbst sowie der Gesellschaft als Ganzes
wachsen. ÄHNLICHE
BEISPIELE Aber zurück zu den Genossenschaften. Es ist klar, dass nicht nur
die Menschen es geschafft haben, sich wunderbar an die Umgebung anzupassen. Es
gibt auch andere Systeme, die auf der Kooperation beruhen, d.h. über eine
funktionale Struktur verfügen, so z.B. die Gemeinschaften der Ameisen,
Termiten und Bienen, überhaupt alle Lebewesen, die aus vielen
spezialisierten Zellen bestehen, und sogar die Zellen selbst, Zusammensetzungen
von Kernen, Mitochondrien, Vakuolen usw. In all diesen Fällen sichern die
Zusammenarbeit, Symbiose und Arbeitsteilung eine bessere Überlebensfähigkeit
sowohl des Systems als Ganzem, als auch jedes einzelnen seiner Elemente. DIE UNTERSCHIEDE
FUNKTIONALER STRUKTUREN Funktionalität ist für alle Genossenschaften
charakteristisch (eben das erzeugt sie ja erst als solche). Dies ist ihr
Hauptmerkmal. Dabei hat jede von ihnen natürlich ihre eigene Struktur. Die
Anzahl von Funktionen und derer, die sie ausführen, können in
verschiedenen Genossenschaften unterschiedlich sein (und sind auch
unterschiedlich), natürlich nicht absolut, sondern nur im Einzelnen. In
mancher Hinsicht sind diese Funktionen ähnlich, in mancher unterscheiden
sie sich. Einige Funktionen sind in allen (zumindest den genannten)
Genossenschaften erkennbar, andere nur in manchen von ihnen. Woher
kommen diese gleichen oder besonderen Funktionen? Verallgemeinernd gesagt, ist
es klar, dass die Gleichheit der
Funktionen (und der sie ausführenden Funktionsschichten) durch die
Ähnlichkeit der Aufgaben determiniert wird, die mit ihrer Hilfe
gelöst werden, und die Einzigartigkeit, im Gegenteil, durch die
Einzigartigkeit dieser Aufgaben. Vor jeder Genossenschaft stehen ihre eigenen
Herausforderungen, denen sie gerecht werden muss. Etwas ist für alle
gleich, etwas für viele, aber etwas ist auch einzigartig. Es geht eben
darum, was das für Aufgaben und Herausforderungen sind. Womit sind sie
verbunden? Hierbei gibt es zwei Hauptpunkte und
einen besonderen Gesichtspunkt. DIE ROLLE DER
UMWELT Erstens werden bestimmte Herausforderungen durch die Natur der Umwelt
vorgegeben, an die die Gesellschaft sich anpassen muss. In dem Maße, in
dem es sich um die gleiche Umwelt handelt, d.h. in dem sie die gleichen
Anforderungen stellt, ist auch die Reaktion darauf gleich. Wenn z.B. die Umwelt
feindlich ist, ist die Funktion des Schutzes davor und damit (bei ausreichender
Ernsthaftigkeit des Problems, die den Bedarf an Spezialisierung erzeugt) eine
spezielle Gruppe von Verteidigern erforderlich. Alle genannten Arten von
Genossenschaften haben die Mittel des Schutzes vor der Umwelt: In der
Gesellschaft sind es die Armee und das Ministerium für Katastrophenschutz,
bei den Ameisen Soldaten als eine Fachschicht (mit der Beseitigung von
Unfällen befassen sich die „Arbeiter“, hierbei gibt es keine separate
Spezialisierung), im menschlichen Körper die Haut und das Immunsystem
(d.h. entsprechende Zellen) und in den Zellen die Membran (d.h. bestimmte
molekulare Einheiten). All das sind, ich wiederhole, die Schutzspezialisten,
die die gleiche, für alle notwendigen Funktion ausführen. Wenn
die Umwelt jedoch spezifisch ist und einzigartige Anforderungen stellt, dann
ist natürlich auch die Reaktion darauf in Form der funktionalen
Spezialisierung, d.h. der Entstehung von speziellen Funktionsträgern,
einzigartig. So ist für Lebewesen (vor allem für massive Landorganismen)
das Überleben unter den Bedingungen der Schwerkraft notwendig. Daher haben
sie einen Stützmechanismus wie das
Skelett (das Knochen- und Muskelgewebe) oder die Chitinabdeckung und einen Orientierungsmechanismus wie das
Gleichgewichtsorgan (das ebenfalls teilweise aus speziellen Zellen besteht). Es
gibt nichts dergleichen in den Insektengemeinschaften und in der menschlichen
Gesellschaft, denn vor ihnen als Gemeinschaft steht einfach keine solche
Aufgabe (die Ausrichtung und Aufrechterhaltung der Position im Schwerefeld der
Erde); jedes einzelne Individuum löst diese Aufgabe für sich, quasi auf einer „vorgesellschaftlichen“
Ebene. DIE ROLLE DER
ELEMENTE Zweitens sind die Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Funktionen
mit den Ähnlichkeiten und Unterschieden der Natur von Genossenschaften
selbst verbunden, wobei die Besonderheiten ihrer Mitglieder ausschlaggebend
sind. Zum Beispiel sind Ameisen, Bienen und Menschen einander ähnlich (
unterscheiden sich aber von den Zellen her), da sie als getrennte Individuen
existieren. Daher entsteht bei ihnen eine spezialisierte Funktion des Erwerbs
von Nahrung und sonstigen notwendigen Gütern. Es gibt „Arbeiter“ bei den
Ameisen, Bienen, Menschen. Aber es gibt keine speziellen „Arbeiterzellen“. Die
Funktion des Nahrungserwerbs erfüllt hier der Organismus als Ganzes (wie
eine Genossenschaft). Darin gibt es Zellen, die die Nahrung verarbeiten, aber
es gibt keine „Erwerber“ als Sonderschicht (obwohl eventuell einige Arten von Muskelgewebe
unter Vorbehalt als solche betrachtet werden können). Ein
weiteres Beispiel: Nur Menschen mit ihrer entwickelten Intelligenz haben
ästhetische Bedürfnisse und eine dementsprechende Spezialisierung
einzelner Individuen auf ihre Befriedigung hin. Für Insekten und Zellen
ist das Unsinn. Zur gleichen Zeit ist
nur bei Insekten mit ihrer massenhaften Eiablage die Spezialisierung auf die
Geburt als soziale Funktion möglich. Hierbei wird sie durch Mütter, „Königinnen"
erfüllt. Bei den Menschen ist die Geburt aus der Gesellschaft ausgeklammert
(es geht hier nicht um Erziehung und Sozialisierung); sie ist keine soziale
Funktion, zumindest keine Funktion, die spezialisiert und einer Schicht von
Spezialisten anvertraut werden kann. Sie ist die individuelle Angelegenheit eines jeden Menschen.
Bei den Körperzellen, die sich durch Teilung unter der Kontrolle eines
genetischen Programms reproduzieren, gibt es zumeist auch keine solche
Spezialisierung. Also ich wiederhole: Die Besonderheiten der Elemente legen
zusammen mit den Besonderheiten der Umwelt die Möglichkeiten und den
Nutzen bestimmter Funktionen, und dann, mit der Intensivierung dieser
Funktionen, auch entsprechende mögliche und notwendige Spezialisierungen
(Fachschichten) fest. DIE ROLLE DES
ENTWICKLUNGSGRADES Schließlich ist, drittens, auch der Entwicklungsgrad
von konkreten Genossenschaften wichtig. Dieser Grad definiert ebenfalls die
Funktionssätze und, im weiteren, die Funktionsschichten. Einerseits fehlen
in den primitiven Gesellschaften und bei den Menschen, aus denen sie bestehen,
einfach einige Bedürfnisse, so dass es auch keine besonderen
Aktivitäten zu ihrer Befriedigung gibt. Die neuen Funktionen selbst
erscheinen erst mit der Zeit, mit der Entwicklung der Gesellschaft.
Andererseits wächst bei einem immer größeren Rückstand die
Anzahl von Funktionsschichten. Erinnern wir uns an das o.g. Verhältnis der
Anzahl von Funktionen und der Funktionsstruktur, also an jene Fälle, in
denen manche Funktionen entweder durch alle Mitglieder der Genossenschaft oder
durch einen Teil von ihnen ausgeführt werden, wobei aber mehrere
Funktionen durch diesen Teil der Mitglieder erfüllt werden. Im
Zusammenhang damit ist es möglich, dass es bei den Genossenschaften mit
einem unterschiedlichen Entwicklungsgrad selbst bei ein und demselben
Funktionssatz verschiedene funktionale Strukturen geben kann (und auch gibt). So
haben primitive Tiere kein Kreislaufsystem und auch kein Skelett; die Antworten
auf entsprechende Herausforderungen werden auf eine andere Art und Weise und
nicht spezialisiert gegeben. Bei den Menschen sind viele Funktionsschichten in
getrennter Form auch erst in bestimmten Entwicklungsetappen entstanden. Zuvor
haben die Mitglieder der Gesellschaft einfach eine ganze Reihe von Funktionen
ausgeführt, z.B. Kontrolle und Schutz, Bildung und Erziehung,
Haareschneiden und Heilung (Barbiere befassten sich bekanntlich im Mittelalter
mit beiden Sachen) usw. Erst die Entwicklung führt sowohl zur Entstehung
von besonderen neuen Funktionen, als auch zu ihrer spezialisierten Ausführung,
also zur Herauslösung bestimmter Schichten von Spezialisten. Im
Zusammenhang damit erhebt sich unsere nächste Frage: Wie verläuft
diese Entwicklung? 2. Die Entwicklung der
funktionalen Struktur DER DREH- UND
ANGELPUNKT DES PROZESSES Zu Beginn ist es wichtig deutlich zu verstehen, dass
die Gesellschaft selbst im Grunde nichts anderes als eine funktional
gegliederte Genossenschaft ist und dass ihre Entwicklung im Allgemeinen vor
allem die Entwicklung dieser funktionalen Struktur ist. Wir sprechen von der
funktionalen Struktur der Gesellschaft, ohne die Gesellschaft und die
funktionale Struktur völlig gleichzusetzen, nur weil die Gesellschaft
nicht nur funktional, sondern auch anders strukturiert ist: nach Alter,
Geschlecht, Ethnien, Klassen usw. Eben deswegen muss man die Funktionsstruktur
terminologisch herauslösen und dieser einen von der Gesellschaft
getrennten Platz einräumen, quasi neben ihren sonstigen Strukturen. Aber
in Wirklichkeit ist sie die wichtigste,
essentielle. Die Gesellschaft als solche läuft letztlich auf sie hinaus.
Alle anderen Strukturen der Gesellschaft sind entweder nur Überbauten auf
dieser Grundlage oder sie tragen keinen öffentlichen, sozialen, sondern
einen biologischen, kulturellen usw. Charakter, so wie die Strukturierung nach
Alter, Geschlecht und Ethnien. Würden die Menschen keine funktionale
Schichtung entwickelt haben, würde es auch keine Gesellschaft im
Allgemeinen geben, mit all ihren sekundären Erscheinungen. Deshalb wiederhole ich: So wie die Gesellschaft im Grunde genommen eine
Genossenschaft ist, verläuft auch ihre Entwicklung vor allem in der Form
der immer komplizierteren funktionalen Differenzierung der Menschen, aus denen
sie besteht. Dies führt sowohl zu
einer erhöhten Effizienz des genannten Systems als Mittel der Anpassung an
die Umwelt, als auch zu einer gesteigerten Abhängigkeit der Individuen
dieses Kollektivs voneinander, d.h. zur Erhöhung seiner inneren
Festigkeit. Auf dem gleichen Stamm wachsen im Weiteren alle anderen
öffentlichen, sozialen Phänomene. Daher steht im Fokus unserer
Aufmerksamkeit vor allem die Entwicklung der funktionalen Struktur. DER HAUPTGRUND Es
wäre richtig, die Untersuchung dieser Entwicklung mit ihren Ursachen zu
beginnen. Wodurch ist sie bedingt? Die Antwort liegt im Prinzip auf der Hand. Es
ist offensichtlich, dass die Entstehung der neuen Funktionen und im Weiteren
der Funktionsschichten buchstäblich der Entwicklung von Bedürfnissen
der Menschen folgt und diese vor allem durch die Entwicklung der Produktion
bedingt ist (ich glaube, dass es sich nicht lohnt, auch deren Gründe zu
erläutern). Die Entwicklung der Produktion verläuft zwiefach,
einerseits quantitativ (hierbei wachsen die Arbeitsproduktivität und das
produzierte Volumen) und andererseits qualitativ (hierbei entstehen immer neue
Produktionsarten und es verläuft ihre Differenzierung). Diese beiden
Entwicklungsrichtungen basieren vor allem auf der Entwicklung der Technik und
der Technologien (was eben die Produktivität erhöht und die Produktion
differenziert). Wie
wird die Entstehung von neuen Funktionsschichten, die vertiefte Arbeitsteilung,
durch diese unterschiedlichen Arten der Produktionsentwicklung hervorgerufen? 1. Erstens
kommt die technische Produktionsentwicklung unmittelbar in der Entstehung neuer
Berufe und ganzer Funktionsgruppen zum Ausdruck. Neue Arbeitsmittel und
Technologien erfordern oft direkt einen spezialisierten Service. So brachte die
Handhabung der Metallschmelze Metallurgen und Schmiede, die Meisterung des Tonbrennens
Töpfer hervor usw. 2. Zweitens
erzeugt die qualitative Produktionsentwicklung neue Bedürfnisse bei den
Menschen und ruft neue funktionale Aktivitäten hervor, die diese
Bedürfnisse befriedigen. 3. Drittens
erhöht die quantitative Entwicklung der Produktion die materiellen
Ressourcen der Gesellschaft und fördert dadurch die Entstehung von neuen
Schichten, die sich auf die Erfüllung dieser neuen Bedürfnisse
spezialisieren, welche zuvor jeder zwangsläufig aus eigener Kraft
befriedigen musste. Nun taucht die Möglichkeit auf, dafür besondere
Schichten von Menschen einzusetzen und deren Lebensunterhalt zu
sichern. 4. Viertens
vergrößert die quantitative Entwicklung der Produktion die
Gesellschaft numerisch und die qualitative Entwicklung steigert ihre Komplexität.
Dadurch wird das ganze gesellschaftliche Leben komplizierter und das ruft den
Bedarf an professioneller Führung hervor, d.h. an der Entstehung einer
Schicht von dafür geeigneten Spezialisten. Hierbei offenbart sich schon
eine indirekte Auswirkung der Produktionsentwicklung auf die funktionale
Struktur der Gesellschaft: Die Letztere wird durch die Folgen der Ersteren
bestimmt. Im
Ganzen wird ersichtlich, dass die Entstehung von neuen Funktionen und im
Weiteren von neuen Funktionsschichten mit der Produktionsentwicklung eng
verbunden ist. Die Menschen verbessern sie als das wichtigste Mittel, ihre
Bedürfnisse zu befriedigen, aber so entwickeln sie auch die Gesellschaft,
d.h. ihre funktionale Struktur. DAS FUNDAMENT DES
FUNDAMENTS Dabei ist die Gesellschaft mit der Produktion nicht nur in ihrer
Entwicklung, sondern auch in ihrem Sein verbunden. Die Gesellschaft ist vor
allem eine industrielle Kooperation (ihr Hauptziel ist die Produktion von
lebenserhaltenden materiellen Gütern). Sie entsteht und existiert
dementsprechend nur dort, wo Produktion entstanden ist und existiert. Alles hat
mit der Bewältigung der Produktion begonnen. Natürlich
vereinigten sich die Menschen auch vorher schon zu primitiven Kollektiven, aber
erstens waren diese zahlenmäßig klein, zweitens hatten sie eine
primitive funktionale Struktur, drittens waren sie instabil (ohne eine Basis,
die die Produktion sichert; solche Gemeinschaften hingen völlig von ihrer
natürlichen Umwelt ab, passten sich vor allem deren Anforderungen an und
änderten sich wieder, nachdem sich diese geändert hatte);
schließlich viertens hatten diese Gruppen eine geringe Fähigkeit von
Entwicklung in Richtung Kooperation. Es gab weder nennenswerte
Möglichkeiten für diese Entwicklung (u.a. Ressourcen) noch einen
„Antrieb“, noch einen sich entwickelnden Basisbereich (d.h. die Produktion
selbst). Daher wage ich nicht einmal, die vom Jagen und Sammeln lebenden
primitiven menschlichen Gemeinschaften „Gesellschaften“ zu nennen, sondern ich
neige dazu, in Bezug auf diese den allgemeineren Begriff „Sozium“ (soziales
Gebilde) zu verwenden. Der
Übergang zur Produktion änderte die Situation in allen vier Punkten.
Die Bevölkerungszahl der Gemeinschaften begann zu wachsen, ihre
funktionale Struktur wurde komplizierter und stabilisierte sich, und deren
Entwicklung beschleunigte sich als Folge der Produktionsentwicklung. Wie geschah das? Welche
Entwicklungsetappen hat die funktionale Struktur der Gesellschaft durchlaufen? DIE EPOCHE DER
LANDWIRTSCHAFT Zunächst sonderten sich zwei Hauptfunktionsschichten der
Menschen ab. Zur ersten gehörten die Produzenten der wichtigsten
materiellen Güter, vor allem der Lebensmittel. Diese Produzenten wurden
zumeist durch die Ackerbauern vertreten. Antike und mittelalterliche Gesellschaften
bildeten sich und existierten bis zur Neuzeit hauptsächlich auf der
Grundlage des Ackerbaus. Weder die Wanderviehhaltung als eine völlig
unabhängige wirtschaftliche Grundlage der menschlichen Existenz, noch viel
weniger die Hirtenviehzucht, die stellweise den Ackerbau erheblich
ergänzte, spielten eine solche Rolle und konnten dies auch nicht tun.
Warum? Was ist so besonders am Ackerbau? Nun, die Sache ist die: Für
die Bildung und die stabile Existenz einer Gesellschaft sind erforderlich: a) eine
ausreichende Bevölkerungszahl, b) ihre bedeutende Dichte und c) eine
sesshafte Lebensweise der Menschen auf einem bestimmten zusammenhängenden
Gebiet. In dieser Hinsicht zeichnet sich der Ackerbau durch folgendes aus: 1) Er
produziert die meisten Lebensmittel pro Flächeneinheit und darum sind
einerseits eine deutliche Zunahme der Bevölkerung und andererseits ihre
hohe Dichte auf einem begrenzten Gebiet möglich. Die Wanderviehhaltung ist
weit weniger effizient und kann daher weder eine rasche Bevölkerungszunahme
noch deren große Zahl und Dichte in den lokalen Regionen sichern. Im
Gegenteil, sie verstreut die Menschen über große Flächen und
erschwert dadurch nicht nur ihre Funktionsschichtung und einen stabilen
Austausch von Aktivitäten, sondern auch eine einfache ständige
Kommunikation. 2) Der Ackerbau erfordert eine sesshafte Lebensweise der
Hersteller und sichert diese Lebensweise durch eine hohe Produktivität.
Die Mobilität der Nomaden dagegen, die heute hier und morgen da sind, ist
ein zusätzliches Hindernis für die
Entstehung ihrer Gesellschaften. Darüber
hinaus ist auch eine viel höhere Fähigkeit der technologischen
Verbesserung des Ackerbaus erwähnenswert. Die Viehzucht ist dazu viel
weniger geeignet, was verständlicherweise aus der Sicht der Entwicklung
dieser Branchen wichtig ist, mit allen Konsequenzen für das Wachstum der
Produktivität, der Bevölkerungszahl und -dichte, der funktionalen
Differenzierung usw. Deshalb
werden wir unten vorwiegend die Ackerbauern als die Hauptfunktionsschicht der
primären Gesellschaften untersuchen und Produzenten anderer Art,
insbesondere die Nomaden, außer Acht lassen: Außer
Plünderungen und Eroberungen haben sich die Letzteren in der Geschichte
kaum besonders hervorgetan und umso weniger auf dem Gebiet des sozialen
Aufbaus. Der wichtigste Weg der menschlichen Entwicklung ist die Entwicklung
der Ackerbaugesellschaften. DIE ZWEITE
SCHICHT Die zweite führende Funktionsschicht der primären
Gesellschaften war von Anfang an (d.h. seit ihrer Herausbildung) die Schicht
der Verwalter. Oft erfüllten sie auch die Funktion des Schutzes, aber das
war nicht das Wichtigste: Ihre Hauptaufgabe war im Grunde genommen immer die
Verwaltung. Warum
erforderte diese Funktion eine spezialisierte Ausführung? Im Folgenden
werde ich im Detail darauf eingehen, im Moment sage ich nur kurz: Zur
Professionalisierung der Verwaltung führten das Wachstum der
Bevölkerungszahl und der Komplexität von Gemeinschaften. Dies
verstärkte den Bedarf an Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung .
Im Ergebnis sonderten sich die Verwalter als eine besondere Funktionsschicht ab
(und primitive soziale Gebilde verwandelten sich in Gesellschaften). ANDERE SCHICHTEN
Die primäre Gesellschaft bestand also im Laufe von Tausenden von Jahren
hauptsächlich (d.h. in dem Sinne, dass das ganze Leben dieser Gesellschaft
dadurch bestimmt wurde) aus zwei funktionalen Schichten: Den Produzenten
(Ackerbauern) und den Verwaltern. Darüber hinaus gab es natürlich
noch viele andere Schichten: Handwerker, Händler, Transportarbeiter (Schiffsführer,
Gepäckträger, Schauerleute) usw. Aber sie standen alle hinter den
Ackerbauern und den Verwaltern zahlenmäßig und ihrer
gesellschaftlichen Bedeutung nach weit zurück. Der wichtigste
„Gesichtsausdruck“ der Gesellschaft bis in die Neuzeit hinein war
bäuerlich-bürokratisch. Andere funktionale Gruppen in dieser Epoche
waren nur kleine Blatternarben auf deren Gesicht. SONDERFÄLLE
Aber manchmal gaben die dritten bis vierten Schichten sogar den Ton an. Hierbei
sollte man sich daran erinnern, dass wir uns erst einmal nur mit der
allgemeinen Theorie der Gesellschaft befassen. In deren Rahmen bildet die
genannte Funktionsstruktur der Gesellschaft mit ihren beiden wichtigsten
Mitgliedern die Basis, was ich auch feststelle. Aber die reale Evolution der
Menschheit wird, wie schon erwähnt, nicht nur durch allgemeine
theoretische Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Insbesondere der
spezifische Einfluss der Umwelt (nämlich des allmählich entstehenden
regionalen oder gar globalen Marktes mit seinen Handelswegen) hat wiederholt
dazu geführt, dass sich an einigen Stellen (vor allem an der
Meeresküste und entlang der Flüsse) ganze Gemeinschaften von Menschen
auf den internationalen Handel und die damit verbundenen Berufe spezialisierten.
Daher war auch die Struktur dieser Gemeinschaften keineswegs
bäuerlich-bürokratisch. Aber, ich wiederhole, das sind nur Ausnahmen
von der Regel, die eben durch die einzigartige Spezifität des Lebensraums
dieser Gesellschaften verursacht wurden. Dies ist der Gegenstand der Theorie,
die sich mit den Folgen der Einwirkung der besonderen Umwelt befasst. (Es geht
jedoch nicht nur darum, weil die Entwicklung der Marktbeziehungen in bestimmten
Gesellschaften durchweg durch deren Zivilisationsbesonderheiten beeinflusst wurde).
In der allgemeinen Theorie der Gesellschaft müssen wir diese Fälle unberücksichtigt lassen. DER
ZEITRAUM Lassen Sie mich auch klarstellen, dass die Periodisierung der
primären Epoche, die ich benutze, von der Entstehung der ersten Gesellschaften
überhaupt bis inklusive der Neuzeit (also bis zur Entstehung der ersten
Gesellschaften mit einer anderen funktionalen Struktur), natürlich relativ
ist. Ich orientiere mich hier auf die Geschichte der Menschheit als Ganzes und
nicht auf die Geschichte der einzelnen konkreten Gesellschaften. Jede hat in
dieser Hinsicht ihren Zeitrahmen. Einige Gesellschaften entstanden in der
Frühzeit (aufgrund der hohen Effizienz ihres Ackerbaus) und andere
Tausende Jahre später (aufgrund der niedrigen Produktivität ihres
Ackerbaus und ihrer Produktion überhaupt). Das Geburtsdatum dieser oder
jener Gesellschaft ist also rein individuell festgelegt. Ebenso
änderten die Gesellschaften, deren Produktion sich aufgrund von vielen
Gegebenheiten (deren Untersuchung die Aufgabe der Artentheorie und der Theorie
der äußeren Einflüsse ist) schneller entwickelte (oder die von
Anfang an eine Hinwendung auf Handwerk und Handel hatten), ihre zuvor
beschriebene bäuerlich-bürokratische Struktur zugunsten einer komplizierteren.
Die ersten dieser strukturell neuen Gesellschaften entstanden zu Beginn der
Neuzeit, und eben deswegen halte ich diesen Zeitpunkt für das Ende der
Ackerbauepoche. Andere Gesellschaften, deren industrielle Entwicklung ins
Stocken kam (aus bestimmten Gründen, die wir später behandeln
werden), erreichten mit dieser primitiven Struktur als Basis ihrer Wirtschaft
sogar die jüngste Zeit. China z.B. trennt sich erst heute davon,
buchstäblich vor unseren Augen. Aber auch in Russland dominierte diese
Struktur bis zur Mitte des vorigen (zwanzigsten) Jahrhunderts. DIE
INDUSTRIEEPOCHE Aber wir wollen unseren historischen Exkurs fortsetzen (und
abschließen). Zu Beginn der Neuzeit brachte also die Entwicklung der
Produktion und des damit verbundenen Handels in einigen fortgeschrittenen, vor
allem westeuropäischen, Gesellschaften zusätzlich zu den Landwirten
und Verwaltern massenhaft auch andere Berufe hervor, und zwar: Kaufleute,
Seeleute, Kutscher, Schauerleute, Geldwechsler, Geldverleiher,
schließlich Handwerker verschiedenster Sorten (einschließlich
Bergleute, Geologen, Bauarbeiter etc.) Die Erstgenannten bedienten so oder so
(jede Schicht auf ihre Art und Weise) den internationalen und regionalen
Austausch von Produkten und die Letztgenannten produzierten (oder gewannen) unmittelbar
Artikel zum Verkauf. Im
Zuge derselben Entwicklung der Produktion vergrößerten sich und
erstarkten alle diese Gruppen teilweise und teilweise veränderten sie ihre
Art. So wurden Geldwechsler und Geldverleiher allmählich Bankiers, viele
Kaufleute organisierten Manufakturen und wurden Industrielle und die Mehrheit
der Handwerker ging bankrott und verwandelte sich in Lohnarbeiter verschiedener
Berufe. Darüber hinaus tauchten im Zuge des industriellen, finanziellen
und sozialen Umbruchs Ingenieure, Manager, Geschäftsleute,
Wissenschaftler, Lehrer, Ärzte usw. auf. Zur
gleichen Zeit schafften alle diese Neuerungen und Umwandlungen die
ursprünglichen Schichten natürlich nicht vollständig ab. Auf
deren Grund wuchsen einfach neue Triebe, aber die alten Funktionen existierten
weiter samt den Leuten, die sie ausführten, und dehnten sich sogar aus.
Einige Handwerker z.B. entgingen dem Ruin und betrieben weiterhin ihr
Geschäft, vor allem in den Produktionsbereichen, die für die großen
Industriellen uninteressant waren. Bis heute sind Kleingewerbetreibende geblieben, die sich
hauptsächlich mit Reparatur und hauswirtschaftlichen Dienstleistungen
befassen. Die eigentlichen Kaufleute waren auch nicht verschwunden; bei weitem
nicht alle brachen ihrem ursprünglichen Beruf die Treue und wurden
Fabrikbesitzer. Hierbei erfolgte jedoch eine weitere Differenzierung in
Großhändler, Besitzer von Einzelhandelsgeschäften und
Krämer. Ein starkes Wachstum und weitere Differenzierung gab es auch im Transportwesen,
insbesondere mit dem Aufkommen der Eisenbahn, von Automobilen und der Luftfahrt. Und so weiter. Im
Ganzen kann diese Richtung der Funktionsentwicklung zusammenfassend als
„industriell“ bezeichnet werden. Sie läuft auf die Herausbildung und
Entwicklung der Produktion von materiellen Gütern hinaus, die mit dem
Ackerbau nicht zusammenhängen. Alle genannten neuen Massenschichten sind
überwiegend mit dieser Produktion und ihrer Bedienung (Rohstoffe, Handel,
Transport, Lagerung etc.) verbunden. Gleichzeitig
sind in dieser Etappe natürlich auch Ackerbauern und Verwalter erhalten
geblieben; sie differenzierten sich nur intern und wandelten sich. Die
Landwirte beispielsweise spezialisierten sich nach und nach vollständig
auf bestimmte Arten der landwirtschaftlichen Produktion, einige auf den Anbau
von Raps, andere von Gerste, wieder andere befassten sich mit der Tierhaltung
und manche gar extra mit der Bodenbestellung. Die Verwalter spalteten sich
ebenso stark nach Berufen, nach Verwaltungsobjekten, nach der Art von
Verwaltungsfunktionen. Die Schutzfunktion trennte sich z.B. vollständig
von der Verwaltung und wurde zur Sache einer besonderen Schicht von
Funktionsträgern, des Militärs. AUSNAHMEN
UND PERIODISIERUNG Übrigens erwarben in dieser Epoche die Ausnahmen einen
etwas anderen Charakter. Sie ähnelten denen, die es in der ersten Etappe
gegeben hatte, d.h. denen, die durch äußere Bedingungen (plus
zivilisatorische Besonderheiten) verursacht worden waren. Nun wurde der
Einfluss des Weltmarktes und der wirtschaftlichen Realitäten in den
Regionen allgemein bedeutend. Die funktionale Struktur der
Industriegesellschaft wird vor allem nicht mehr durch ihre eigenständige
Entwicklung, sondern durch ihren Platz in der globalen Arbeitsteilung bestimmt,
also durch ihre Naturschätze, Rohstoffvorkommen, ihr geistiges Potenzial
u.a.m. Bezogen auf die ganze Menschheit dauerte diese Etappe von
der Neuzeit ungefähr bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, wobei
diese Zeitdauer in den einzelnen Gesellschaften eine riesengroße Streuung
erfuhr. China tritt, wie gesagt, vor unseren Augen ins Industriezeitalter ein,
Russland schlitterte etwa vor einem halben Jahrhundert mit einem Fuß
hinein (man sollte den Beginn des Prozesses mit seiner entwickelten Form nicht verwechseln).
Und einige bereiten sich darauf vor, in die „andere Welt", in einen neuen
Zustand, also zu einer noch komplexeren und qualitativ anderen funktionalen Differenzierung
überzugehen. Aber darüber reden wir viel später. Vorerst
möchte ich Sie nur darauf aufmerksam machen, dass es sich bei allen o.g.
Beschreibungen von Veränderungen der Gesellschaften nur um die
Änderung ihrer funktionalen Struktur und nicht um deren soziale,
wirtschaftliche, politische und sonstige Auswirkungen handelte. In diesem
Vortrag setzte ich mir zum Ziel, von all dem zu abstrahieren. Mich
interessierte nur das Fundament und dessen Entwicklung. Nun
ist es allerdings an der Zeit, uns auch für den Überbau zu
interessieren. Damit werden wir uns im Weiteren tatsächlich befassen. Vortrag drei. DER
ÜBERBAU EINE WEITERE
AUSWIRKUNG Im vorigen Kapitel wurde festgestellt, dass die Funktionsschichten
von Gemeinschaften u.a. durch Besonderheiten ihrer Elemente bestimmt werden.
Die Bedeutung dieser Besonderheiten beschränkt sich jedoch nicht darauf.
Sie haben auch andere, ebenso wichtige Auswirkungen. So führt die Eigenart
der Menschen als Elemente der Gemeinschaften zu dem Umstand, dass über der
Basisfunktionsstruktur dieser Gemeinschaften noch eine besondere soziale Struktur
aufgebaut wird (bei Insekten und Zellen ist das nicht der Fall). Warum und wie
kommt es dazu? 1. Die Besonderheit von
Menschen DIE
GENOSSENSCHAFT ALS PROZESS Die Genossenschaft ist ein System von funktional
spezialisierten Elementen. Aber sie ist nicht bloß eine Ansammlung dieser
Elemente nach dem Prinzip „ein Paar von jeder Kreatur" und auch keine
Auflistung erforderlicher Berufe. Die Genossenschaft ist de facto ein Prozess,
sie existiert als solche nur dann, wenn ihre Mitglieder praktisch miteinander
interagieren, indem sie ihre Aufgaben erfüllen. Eigentlich ist sie nicht
so sehr ein System spezialisierter materieller Elemente (Zellen, Insekten,
Menschen), sondern ein System von deren Aktionen: Was hier wirklich agiert,
wird erst im Laufe der Umsetzung seines funktionalen Potentials, d.h. der Verwirklichung
einer Aktion (sofern dieses realisiert wird), zu einem Systemelement; das
System wird dadurch erst geschaffen. Daraus ergibt sich, dass die Art und Weise,
wie diese konkreten Aktionen verwirklicht werden, von entscheidender Bedeutung
ist. Die Menschen unterscheiden sich dramatisch von den Zellen und sozialen
Insekten eben durch den Charakter dieses Prozesses (besonders hinsichtlich der
uns interessierenden Folgen). DAS WESEN DES
UNTERSCHIEDS Der Unterschied besteht darin, dass die Aktionen der Zellen und
der Insekten einen programmierten, „automatischen" (speziell bei Insekten
einen reflektorisch-instinktiven) Charakter haben: Eine konkrete Einwirkung
verursacht hierbei direkt eine konkrete Reaktion. Das menschliche Verhalten
dagegen ist weitgehend willentlich (wenn es um funktionale Handlungen geht,
sogar voll und ganz). Wegen einer viel stärkeren Entwicklung des
Nervensystems hat der Mensch Intelligenz, Willen, Emotionen und ähnliche
geistige Phänomene (deren Existenz natürlich von den zuständigen
Strukturen des Gehirns gesichert wird). Diese Phänomene vermitteln den
Zusammenhang von Einwirkung und Reaktion und steuern die Reaktionen in Hinsicht
auf den Charakter der Einwirkungen, aber nicht in erster Linie, sondern vor
allem in Hinsicht auf den aktuellen Zustand des Organismus selbst. Die Aktionen eines Menschen sind viel komplizierter und unterscheiden sich
daher grundsätzlich von den Aktionen eines Insekts (und, umso mehr, einer
Zelle): Zu den Elementen menschlicher Handlungen gehören u.a. (ich
zähle nur das Wichtigste auf und lasse das Unwichtige weg): a) die
Zielsetzung, also das Erfassen eines im Moment dominanten Bedarfs und die
Konzentration auf dessen Befriedigung (übrigens bedeutet Willensfreiheit
die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Motiven, also Zielen zu
wählen); b) die
intelligente Suche nach den möglichen Wegen und Mitteln, das gesetzte Ziel
zu erreichen; diese Suche besteht nicht einfach darin, bestimmte Varianten eine
nach der anderen zu prüfen, sondern ist Modellieren; dabei nutzt der
Mensch seine im Gedächtnis verankerte Lebenserfahrung und seine
Kenntnisse; c) die
Auswahl des besten der o.g. Wege und Mittel, also deren Vergleich untereinander
nach verschiedenen Parametern und das Erkennen eines davon als des
effizientesten vom Blickwinkel der Erreichbarkeit des Zieles und der
Sparsamkeit aus gesehen usw. (Übrigens bedeutet Wahlfreiheit die
Möglichkeit, zwischen verschiedenen Wegen und Mitteln zu wählen, ein
konkretes Ziel zu erreichen, - zum Unterschied zur Willensfreiheit, mit der sie
oft verwechselt wird); d) die
abschließende Willensanstrengung – der Befehl an konkrete Muskeln zu
konkreten Kontraktionen (der äußerliche Ausdruck davon sind die
konkreten Handlungen eines Menschen). Bei all dem ist
für uns nützlich, folgendes zu klären: „UND WAS HABT IHR
IN DEN RUCKSÄCKEN, JUNGS?“[8] Für
den Anfang (und für die Perspektive) bedeutet dies, dass das Verhalten
eines Menschen in großem Maße durch den Inhalt seines Gehirns
bestimmt wird, also durch Vorstellungen und Kenntnisse, die er sich zeitlebens
angeeignet hat (insbesondere in der Zeit der intensiven Herausbildung seiner
Persönlichkeit). In gleichen Situationen verhalten sich Menschen mit
verschiedenen Vorstellungen und Kenntnissen unterschiedlich und solche mit
ähnlichen – ähnlich. Dabei sei folgendes angemerkt: a) Jeder
von uns hat den Ursprung des Löwenanteils des o.g. Inhalts in erster Linie
nicht seiner begrenzten individuellen, sondern vor allem der kollektiven
Erfahrung der entsprechenden Gesellschaft, ja der ganzen Menschheit zu
verdanken, der Erfahrung, die von Generation zu Generation durch Bildung und
Erziehung angesammelt und weitergegeben wird. b) Dieser
Inhalt schließt einerseits die naturwissenschaftlichen Kenntnisse ein
(die im sozialen Sinne neutral sind) und andererseits die Vorstellungen
darüber, wie man sich in einer bestimmten Gesellschaft verhalten sollte,
was hierbei gut und was schlecht, was schön und was unschön ist usw.;
bei den Aktionen, Einschätzungen, Beziehungen etc., die sich aus diesen
Vorstellungen ergeben, verwandeln sich diese allmählich in Gewohnheiten,
„automatische“ Reaktionen und die Vorstellungen selbst – in bestimmte utilitaristische,
ethische und ästhetische Einstellungen (Überzeugungen) und Werte. Ich
habe oben nicht von ungefähr die Erfahrungsübertragung der
Generationen nicht nur mit Bildung, sondern auch mit Erziehung gleichgesetzt. Nicht
nur die Kenntnisse, sondern auch viele, besonders sozial-psychische
Bedürfnisse (Wertmotivationen) der Menschen, tragen einen nicht
angeborenen, anzuerziehenden Charakter. Wir
werden uns im Weiteren daran erinnern, wenn es um das Phänomen der
Mentalität gehen wird. Vorerst formuliere ich die wichtigsten
Schlussfolgerungen zum Thema dieses Vortrags. DIE ZIELE UND
DEREN QUELLEN Erstens: Alle Handlungen von Zellen und Insekten sind durch
eingebaute Programme vorbestimmt, und das schließt die Zielsetzungen, die „Mechanismen“
und die Vorgehensweise der Wahl von Wegen und Mitteln aus, diese Ziele zu erreichen. Im Unterschied dazu wird das Verhalten
eines Menschen hauptsächlich (mit Ausnahme einer Reihe der einfachsten
Reflexe) durch die Ziele bestimmt, die er sich selbst setzt, also durch seine
Bedürfnisse, seine Wertvorstellungen und den Charakter seiner
Persönlichkeit. Die Zielsetzung hat als Voraussetzung eine entsprechende
Psyche, das Selbstbewusstsein, das „Ego“ und speist sich aus diesen inneren
Quellen. JEDER IST SICH SELBST DER NÄCHSTE Daher zweitens: Die eingebauten Programme
für Handlungen bei Zellen und Insekten setzen das Überleben der
Gemeinschaften und nicht der Einzelwesen als Priorität dieser Handlungen;
die Aufopferung im Interesse des Ganzen ist hierbei die Norm. Die Ziele der
Menschen konzentrieren sich dagegen naturgemäß vor allem auf die
Sicherung ihres individuellen Wohlergehens.
Die Interessen der Gemeinschaft treten bei uns in den Hintergrund, im
Vordergrund steht die persönliche Prosperität. Selbstverständlich
kann eine entsprechende Erziehung bei einzelnen Individuen Wertvorstellungen
herausbilden, die den Dienst an der Gesellschaft zum Hauptprinzip machen, aber
das Potenzial einer solchen Erziehung ist sehr beschränkt: Einerseits
dadurch, dass meistens nur genetisch veranlagte Altruisten suggestiver
Beeinflussung zugänglich sind (und es gibt sowohl bei den Menschen, als
auch bei den Tieren nur ganz wenige solcher Individuen, 3 – 5 %), andererseits
weil das Ergebnis jeder Erziehung nicht nur und nicht in erster Linie davon
abhängt, was engagierte Erzieher den zu Erziehenden beibringen, sondern
vor allem davon, inwieweit dieser Inhalt den Realitäten des jeweiligen
Lebens entspricht. Und diese Realitäten widerspiegeln und stimulieren
leider oft (um nicht zu sagen immer) ein keineswegs altruistisches Benehmen. Im
Ergebnis lässt sich die überwiegende Mehrheit der Menschen in ihren
Handlungen nicht durch hohe Ideale leiten (selbst wenn die Gesellschaft sich
bemüht, diese verstärkt zu propagieren, was gar nicht unbedingt der
Fall ist), sondern durch primitive physiologische und sozial-psychische
Bedürfnisse, die für das erfolgreiche persönliche Überleben
wichtig sind. Das Benehmen eines durchschnittlichen Menschen ist vor allem
darauf gerichtet, sein persönliches Wohlergehen zu sichern. Die Sorge
eines Individuums für die Gesellschaft und die Ausführung seiner
funktionalen Verpflichtungen sind nur in dem Maße vorhanden, in dem sie
nötig sind, um das genannte Wohlergehen zu erreichen und
aufrechtzuerhalten. Um I. Kants Worte neu zu formulieren, die Gesellschaft wird
durch die Masse ihrer Mitglieder nicht als das ZIEL, sondern als ein Mittel
angesehen, ihre persönlichen egoistischen Ziele zu erreichen. Dabei geht
es nicht um eine Metapher, sondern um eine durchaus buchstäbliche
Beschreibung der Situation. DIE ORDNUNG BEI
DEN INSEKTEN UND ZELLEN Die o.g. Besonderheiten des menschlichen Verhaltens
führen dazu, dass die Ordnung in menschlichen Gemeinschaften einen
grundsätzlich anderen Charakter trägt als bei Insekten und Zellen
(obwohl auch sie einander in dieser Hinsicht nicht in allen Punkten
ähnlich sind). Bei den Insekten und Zellen ist alles programmiert und
„automatisiert“, begonnen bei der ursprünglichen Verteilung der Rollen
(d.h. die Zuteilung von bestimmten „Berufen“ an
einzelne Zellen) bis zu deren
Ausführung (die Erfüllung von naturbedingten Pflichten durch die
Einzelwesen). Daher wird auch die Ordnung in ihren Gemeinschaften „im
Selbststeuerflug“ realisiert, allein durch die Tatsache, dass jedes Zahnrad
dieses Mechanismus „automatisch“ einen bestimmten Platz einnimmt und sich so
dreht, wie es soll; niemand von außen zwingt es dazu; alles wird durch
seinen eigenen Aufbau bestimmt, der entweder angeboren ist oder den sich „das
Zahnrad“ im Laufe der Spezialisierung angeeignet hat. Das heißt andererseits, dass die Herstellung von Ordnung in diesen
Gemeinschaften nicht als eine besondere Funktion gesehen wird und daher keine
Sache von Spezialisten ist. Die Ordnung ist hier schon auf dem Niveau der
einfachen Elemente in die Systeme eingebaut und existiert nicht als etwas
Separates bzw. als etwas, was diesen gegen ihren Willen (den es natürlich gar
nicht gibt) aufgezwungen wird. Das ist offensichtlich so bei den Gemeinschaften
von Ameisen, Bienen und Protozoen. Im Falle hochentwickelter Organismen ist die
Sache komplizierter. Sie bestehen aus Milliarden von Zellen und es ist
erforderlich, das Handeln von zahlreichen unterschiedlichen Organen zu
koordinieren. Außerdem verfügen sie über ein entwickeltes
Großhirn („Steuermechanismus“). Aber auch in diesem Falle steuert das
Hirn nicht so sehr das innere Funktionieren des Systems, sondern vielmehr sein
äußeres Verhalten. Das innere Zusammenwirken von Zellen wird zumeist
ebenfalls ganz von selbst realisiert, eben weil jede Zelle,
einschließlich der Neuronen des Hirns selbst, „automatisch“, ohne eine
nennenswerte Einwirkung des Bewusstseins und des Willens, ihre Sache tut. Nun, und natürlich versucht kein normales („gesundes“) Mitglied solcher Gemeinschaften (Krebszellen sind ein
Sonderfall), die Decke an sich zu ziehen; im Prinzip kann es gar nicht anders. DIE ORDNUNG BEI DEN MENSCHEN Bei den
Menschen ist das anders. Wir sind viel losere Schrauben. Wir sind nicht
biologisch programmiert, weder bei der Erlangung einer speziellen Funktion,
noch bei deren Umsetzung. Dementsprechend gibt es in den menschlichen
Gemeinschaften auch keine integrierte Ordnung, die „automatisch“ realisiert
wird. Ohne Ordnung geht es aber nicht, denn dann gibt es auch keine
Gesellschaft. Deshalb
muss diese notwendige Ordnung, die sich jedoch aus dem internen Aufbau der
Elemente nicht ergibt, auf eine andere Art und Weise herbeigeführt werden.
Wie? Hier ist nur ein Verfahren möglich, das durch Folgendes
gekennzeichnet ist: a) Genauso
wie das menschliche Verhalten überhaupt wird die Ordnung durch den Willen
der Menschen bestimmt, die sie festlegen und ausführen, daher kann sie
eine unterschiedliche Erscheinungsform haben - wenn sie nur überhaupt eine
Ordnung ist. b)
Das Verfahren muss
sich auf besondere
Funktionsträger stützen, die sich eben auf die Aufrechterhaltung der
Ordnung oder, mit anderen Worten, auf die Verwaltung der Gesellschaft
spezialisieren; hierbei wird also zwangsläufig eine entsprechende
Funktionsschicht gebildet und mit einigen Instrumenten des Ordnungszwangs
ausgestattet (weil man ohne Zwang des Öfteren nicht auskommen kann). c)
Es muss gewisse
„Spielregeln“ geben, die für die Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft
obligatorisch sind und die durch die genannten Verwalter mit ihren Instrumenten
verwirklicht werden; diese „Spielregeln“ werden entweder durch die gesamte
Gesellschaft oder durch den Teil festgelegt, der dazu bevollmächtigt wird
oder sich dieses Recht anmaßt. DER CHARAKTER DES ÜBERBAUS Da das Verhalten der
Menschen nicht programmiert ist, unterscheiden sich menschliche Gesellschaften
von den Gemeinschaften der Insekten und der einfachen Organismen durch
folgendes: (1) Sie erfordern eine spezielle
Verwaltungsfunktion und eine besondere Schicht von Menschen, die diese
ausführen. Das ist eine sehr eigenartige Erweiterung der
Funktionsstruktur, weil die Verwalter sich aufgrund ihrer Tätigkeit nicht
gleichberechtigt mit allen in der einträchtigen Familie der sonstigen
Funktionsträger positionieren, sondern vielmehr über ihnen, als ihre
Leiter. Ähnlich (2) sieht auch die über der Gesellschaft stehende und
deren Funktionieren regelnde Ordnung aus, die durch Verwalter überwacht
wird, d.h. die Einhaltung ihrer „Spielregeln“, ganz zu schweigen von der
Tatsache, dass (3) die Einführung dieser Ordnung selbst keine
„automatische“ Erscheinung, sondern sozusagen, ein „Akt des guten Willens“ von
den Mitgliedern der Gesellschaft ist. Das ist nicht ursprünglich in den
„Mechanismus“ der Gesellschaft eingebaut, sondern wird über deren
Grundstrukturen als notwendige Ergänzung dazu aufgebaut. Gleichzeitig trägt der o.g.
Überbau in seiner allgemeinen Form noch einen normalen, funktionalen
Charakter. Es gibt hierbei nach wie vor nur eine besondere Funktion, also
Menschen, die diese Funktion ausführen und sonst nichts weiter. Genauso
ist die von ihnen gesicherte abstrakte Ordnung die öffentliche Ordnung
überhaupt, ohne dass dabei funktionale Rahmen überschritten werden.
Etwas Neues wird in diese traditionelle Konstellation nicht durch die Tatsache
gebracht, dass das menschliche Verhalten nicht programmiert ist, sondern durch
die sich daraus ergebende egoistische Orientierung, d.h. die Zielrichtung eines
jeden von uns, vor allem sein persönliches Wohlbefinden zu erlangen. 2. Der Stammbaum der
Sonderordnung DIE GESELLSCHAFT
ALS MITTEL Dort, wo es Ziele gibt, geht es natürlich unvermeidlich auch um
die Mittel und Wege, sie zu erreichen. Bei der Gesellschaft ist das auch der
Fall. Die Kooperation der Menschen, die diese schafft, ist, wie oben
erwähnt, der wichtigste Weg ihres Kampfes für den
artgemäßen und individuellen Wohlstand. Die sich im Rahmen dieser
Kooperation entwickelnde Spezialisierung der menschlichen Arbeit sorgt für
einen konstanten und steilen Anstieg der Produktivität und Effizienz und
damit für die entsprechende Erhöhung der von den Mitgliedern dieser
Genossenschaft produzierten und verbrauchten Güter. Ich verstehe darunter
natürlich vor allem die materiellen Güter in ihrer ganzen Vielfalt,
aber nicht nur diese, sondern schlechthin alles, was unsere Bedürfnisse –
gleich welcher Art - befriedigt und dabei ein „Produkt" der Gesellschaft
ist, z.B. Sicherheit, Ruhm, Ehre und ähnliche Werte. Daher liegt die
Verbesserung des genannten Mittels (der Art und Weise, sich an die Umwelt
anzupassen) im Interesse jedes einzelnen Menschen. DIE BEDEUTUNG DER
VERTEILUNG Zugleich ist dies nur ganz allgemein der Fall, wenn man die
Gesellschaft aus einer sehr großen Höhe betrachtet. Allerdings, wenn
man sich nähert, treten auch andere Details hervor. Genauer gesagt wird
sichtbar, dass das persönliche Wohlbefinden der einzelnen Mitglieder einer
Gesellschaft nicht nur und nicht so sehr durch das Gesamtvolumen der produzierten
Güter bestimmt wird, sondern vielmehr durch die Art und Weise ihrer
Verteilung. Nur bei der egalitären (oder fairen, je nach dem Beitrag)
Verteilung erhält jeder umso mehr, je größer der „Gesamtkuchen“
ist (bzw. entsprechend der Wichtigkeit der ausgeführten Funktion und der
Quantität und Qualität der Arbeit). In allen anderen Fällen
hängt die Größe des Kuchenstücks, das eine konkrete Person
erhält, viel mehr von ihrem Platz im bestehenden Verteilungssystem ab
(d.h. davon, wie dieses System Wasser auf seine Mühlen leitet), als von
der Gesamtgröße des Kuchens (bzw. vom persönlichen Beitrag bei
dessen Ausbacken). Daher ist ein durchschnittlicher Mensch (um sein Wohlbefinden zu sichern)
natürlich weniger darum besorgt, die gesellschaftliche Kooperation zu
verbessern und das Volumen der gemeinsam produzierten Güter zu steigern,
sondern vielmehr ein warmes Plätzchen im System der Verteilung zu
erlangen. Mehr noch, er strebt aktiv danach, dieses System selbst an seinen
privaten Bedarf anzupassen. Letzten Endes läuft es (ähnlich wie bei
Hobbes) auf einen Bürgerkrieg aller gegen alle für das
persönliche „Glück" hinaus, d.h. für eine solche Aufteilung
des gesellschaftlichen Reichtums, die eben dieser konkreten Person den
größtmöglichen Nutzen bringt. Leider herrscht in den menschlichen
Gemeinschaften nicht nur die Zusammenarbeit (wie bei den Insekten und Zellen im
Körper), sondern auch ein „rein menschlicher" Kampf gegeneinander
für den besten Platz an den Fleischtöpfen, wobei versucht wird, sich auf Kosten
aller anderen so viele Früchte der allgemeinen Kooperation wie
möglich unter den Nagel zu reißen. EIN MANN ALLEIN
KANN DAS FELD NICHT BEHAUPTEN Aber wenn jeder gegen jeden kämpft, hat
keiner Aussicht auf Erfolg (wenn man eine stabile Fixierung der
gewünschten Privilegien anstrebt). Eine beliebige (und umso mehr
ungerechte) Ordnung kann nur mit Gewalt etabliert werden. Aber um in der Lage
zu sein, einer Gemeinschaft das nur für eine Person vorteilhafte
Verteilungssystem aufzuzwingen, reicht es nicht aus, selbst am kräftigsten
von allen zu sein; man muss stärker als die ganze Gemeinschaft sein. Wenn
sie allerdings groß genug ist, geht das über die Kräfte einer
einzelnen Person. Also ist es notwendig, Komplizen zu suchen, um dieses Ziel zu erreichen,
d.h. sich so oder so zu gruppieren, um vereinzelte Kräfte zu einem
Faustschlag zusammenzufassen. Nur ein starker (vor allem im physischen Sinne)
Teil der Gesellschaft, der eine besondere Gruppe bildet, ist in der Lage, den
berechtigten Widerstand aller anderen Mitglieder dieser Gesellschaft zu brechen
und ihnen eine Raubordnung der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums
aufzuzwingen. Mit anderen Worten kann die Gewaltdominanz in der Gesellschaft
als eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung der ungerechten
Ordnung keinen individuellen, sondern nur einen Gruppencharakter haben. Dabei
ist eine Vorgruppierung notwendig. Wie nun kommt diese zustande? „VERUNTREUUNG"
Wie kommt es dazu, dass Gruppen gebildet werden, die sich zum Ziel setzen, die
Gesellschaft zu unterwerfen und auszubeuten? Formal gibt es zwei
Möglichkeiten, eine, sozusagen, natürliche und eine künstliche. Im ersten Fall ist gemeint, dass die
Gruppierung ohne Rücksicht auf das genannte Ziel, aus eigentlich anderen
Gründen stattfindet, unabhängig vom Ziel und noch bevor dieses Ziel
formuliert wird (also Gruppen, die nicht per se auf Raub aus sind). Ich meine
damit Fälle, wenn Gruppen im Voraus gebildet werden und sich erst
später das o.g. Ziel setzen. Zum
Beispiel erschienen die Ärzte in der Gesellschaft nicht, um gemeinsam die
Patienten (und, mehr noch, alle Nicht-Ärzte) zu berauben; es gab definitiv
einen anderen Grund für die Herausbildung dieser Funktionsschicht.
Darüber hinaus sind diese Spezialisten nicht nur aufgetaucht, sondern sie
existieren überhaupt als Gruppe, ohne ein gemeinsames Ziel zu haben, das
sie zu einer zusammenhängenden Gruppierung vereinigen würde. Jeder
Arzt meistert seine Kunst und heilt für sich allein, getrennt von seinen
Kollegen. Sie gehören zu einer besonderen Gruppe nur aus dem Grunde, dass
sie alle dasselbe tun (sie sagen zu uns „Nicht einatmen!" und gehen in
einen Nebenraum, um dort Tee zu trinken). Also,
ich wiederhole, diese Berufsgruppe wird unabhängig von dem Ziel gebildet,
die Gesellschaft zu unterwerfen und auszuplündern. Wenn sie allerdings da
ist, was kann dann ihre Vertreter daran hindern, von dem „Ideal"
inspiriert zu werden und zueinander zu sagen: „Wir sind von einem Blut, du und
ich"[9], ihre
Skalpelle zu enthüllen und zusammen für die wunderschöne neue
Welt zu kämpfen, in der die öffentliche Ordnung ausschließlich
die Mediziner und Chiropraktiker begünstigt (nennen wir dieses Regime
„Hippokratie“[10])? Natürlich
ist das ein scherzhaftes Beispiel. Hierbei ist das Prinzip, also
die Klärung der Tatsache wichtig, dass Menschen eigentlich aus vielen
verschiedenen Gründen und dabei in der Regel ganz natürlich in
Gruppen geteilt werden, also überhaupt nicht, um gemeinsam irgendwelche
Ziele zu erreichen (als ein Gruppenbildungsfaktor und -merkmal). Und eben das
schafft zunächst den Boden für die weitere Konsolidierung der
Mitglieder dieser Gruppen (und für die Abgrenzung von den anderen
Gruppen), wenn eine solche Konsolidierung (und Abgrenzung) plötzlich
gefragt oder wünschenswert wird (insbesondere, um nun bestimmte Ziele zu
erreichen, die für alle Mitglieder dieser Gruppe von Interesse sind).
Gruppen werden in gesellschaftlichen Prozessen nicht entsprechend den gesetzten
Zielen geschaffen, sondern in dem Material gefunden, das bereits gebildet
vorgefunden und angeboten wird. DER
„ALGORITHMUS" DES PROZESSES Der „Algorithmus" hierbei ist im Grunde
so:
Zuerst wird auf eine natürliche Art
und Weise (d.h. aus bestimmten individuellen Gründen) eine Gruppe von
Menschen gebildet, die eine spezifische Ausrichtung, z.B. eine besondere
Funktionsstellung in der Gesellschaft, hat. Dabei träumt jedes einzelne
der Mitglieder (die im Übrigen normale Menschen sind) davon, alle anderen
zu verdrängen und sich dann richtig auszustrecken. Dieser
normale Mensch überlegt sich mit Muße, wie er am besten seinen
sehnlichsten Wunsch realisieren könnte, und kommt früher oder
später zu dem Schluss, dass der beste Weg dazu darin besteht, eine
bestimmte gesellschaftliche Ordnung zu etablieren, bei der er bevorzugt wird.
Aber was bedeutet das? Was beinhaltet eine solche Anpassung der Ordnung an eine
konkrete Person? Eine ausschließliche Orientierung auf ihre individuellen
Besonderheiten? Keinesfalls. Sie machen ja nur einen kleinen und bei weitem
nicht den wichtigsten Teil ihres Wesens aus. Jeder
Mensch ist nicht nur ein konkreter Wassily Iwanowitsch mit seinen
persönlichen Interessen und Marotten. In weit größerem
Maße ist er, in Bezug auf die ihm eigenen Bedürfnisse und
Besonderheiten a) ein Mensch überhaupt, b) das Mitglied einer konkreten
Gesellschaft, c) das Mitglied einer Gruppe innerhalb dieser Gesellschaft (und
sogar vieler Gruppen, die aus verschiedenen Gründen gebildet werden), d) das
Mitglied einer bestimmten Untergruppe der genannten Gruppe usw., - genauso wie
jedes biologische Einzelwesen nicht nur und nicht in erster Linie einzigartig
als solches, sondern ein Vertreter einer Art, Gattung, Familie, Klasse etc.
ist. Daher ist jede Ordnung, die (hypothetisch) auf einen konkreten Menschen
abgestimmt ist, unweigerlich mehrschichtig. Vor allem sollte sie für diese
Person als einem Menschen überhaupt von Vorteil sein und damit den
Interessen aller Menschen entsprechen; dann, in einer etwas konkreteren Hinsicht,
sollte die o.g. Ordnung auf diese Person als Mitglied einer konkreten
Gesellschaft abgestimmt sein und in dieser Hinsicht den Interessen aller ihrer
Mitglieder entsprechen; weiterhin sollte die o.g. Ordnung für Wassily Iwanowitsch als Mitglied einer bestimmten Gruppe von
Vorteil sein und dementsprechend den Balsam auf die Seelen aller Mitglieder
dieser Gruppe gießen; und dann natürlich muss sich das Gleiche auf
Untergruppen, Unteruntergruppen usw. beziehen. Nur auf der letzten „Treppenstufe“,
in einer relativ begrenzten Anzahl von Fällen, ist die genannte Ordnung
ausschließlich für Wassily Iwanowitsch von Vorteil, und sonst
für niemand. Jeder Mensch stellt sich die ihm geeignet erscheinende
Ordnung genau in dieser „mehrstöckigen“ Form vor. Anders ist es ihm nicht
möglich. Aber das heißt dann, dass der Kampf jedes einzelnen Individuums
für „seine" Ordnung objektiv ein Kampf nicht nur (und nicht so sehr)
für seinen persönlichen Vorteil, sondern auch für die Interessen
seiner Untergruppe, Gruppe und sogar der Gesellschaft als Ganzes ist (wenn
damit der Kampf nicht für eine Sonderordnung, sondern gegen das Chaos und
die Anarchie überhaupt gemeint ist). In der Praxis lässt sich leicht
herausfinden, dass für bestimmte, immer allgemeinere Bestandteile (Normen)
der Ordnung folgende Personen solidarisch eintreten: a) alle
(wohlgemerkt: adäquate) Mitglieder der Untergruppe des Individuums, b) alle
Mitglieder seiner Gruppe c) alle
Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft, d) alle
Mitglieder einer bestimmten Gruppe der Gesellschaften und schließlich e) alle
Menschen überhaupt (auch wenn die globale Ordnung bisher
äußerst amorph ist). Allerdings
ist für uns nur die Gruppensolidarität wichtig, weil uns, ich
erinnere Sie daran, nur der Kampf für eine besondere gesellschaftliche
Raubordnung interessiert, der auf den Niveaus „b", „c" und „d"
fehlt und auf dem Niveau „a" erfolglos ist. Genauer gesagt, erscheint
diese Solidarität „automatisch", objektiv, sobald die Individuen beginnen,
für ihre eigenen Vorteile zu kämpfen, unabhängig davon, ob die
Mitglieder einer Gruppe die Gemeinsamkeit ihrer Interessen erkennen. Auch wenn
sie völlig getrennt, jeder für sich handeln, treffen ihre
Bemühungen in starkem Maße immer noch ins Schwarze, also sie sind in
diesem Fall darauf gerichtet, eine Ordnung zu schaffen, die für sie als
Mitglieder einer besonderen Gruppe (und nicht als einzigartige Einzelpersonen)
von Vorteil ist. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit eines Triumphes der
genannten Ordnung umso höher, desto stärker diese Gruppe ist. (Im
gleichen Maße, wie die Mitglieder der Gruppe nur ihre egoistischen
Interessen verfolgen, „löschen“ sich ihre Handlungen gegenseitig aus und
haben ein Null-Ergebnis; alle Versuche, die gesellschaftliche Ordnung zu
individualisieren, werden auf natürliche Art und Weise eliminiert). Schließlich
kommt es manchmal auch vor (als Maximalprogramm), dass die Mitglieder einer
Gruppe die Gemeinsamkeit ihrer Interessen erkennen und sich organisieren, um
diese zu sichern, was natürlich das Leistungspotenzial der Gruppe
drastisch steigert und ihre Erfolgschancen erhöht. (Um in marxistischer
Sprache zu sprechen, es findet dabei nichts anderes statt, als eine Umwandlung
der Gruppe in sich in eine Gruppe für sich). Dies ist das Wesen von Prozessen a) der
natürlichen Bildung von Gruppen, b) ihrer
Teilnahme am Kampf um die Gruppenprivilegien und c) der
endgültigen Etablierung der für die Sieger profitablen
gesellschaftlichen Ordnung. „DIE
BANDITENVARIANTE“ Gleichzeitig könnte man versuchen, sich ein Schema
vorzustellen, bei dem Gruppen nicht auf eine natürliche Art und Weise,
sondern direkt und nur zu dem konkreten Zweck entstehen, ähnlich wie kriminelle
Banden geschaffen werden. Ich meine damit, dass zunächst einander
völlig fremde Leute, die zu keiner natürlichen Gruppe gehören,
irgendwie zusammenkommen, sich verschwören, organisieren und eine
„Palastrevolution“ veranstalten, die schließlich gekrönt wird mit
der Etablierung der ihnen vorteilhaften gesellschaftlichen Ordnung. Erstens,
obwohl Probieren über Studieren geht, kann man sich ein solches Verfahren
in der Praxis kaum vorstellen. Es fällt einem sehr schwer, sich Leute zu
denken, die keiner bestimmten Gemeinschaft angehören (wenn das
überhaupt möglich ist). Selbst bei der Bildung von echten Banden
finden sich deren Mitglieder fast nie zufällig zusammen (in dem genannten
absoluten Sinne), sondern auf der Grundlage einer vorläufigen
Identität ihrer Schicksale, Positionen, Charaktere, Werte u.a.m. Zweitens
ist eine einfache Verschwörung nur bei einer begrenzten Anzahl von
Personen möglich und somit nur in kleinen Gruppen wirksam. Aber selbst um
über eine kleinere Gesellschaft Gewalt auszuüben, ist eine viel
größere Gruppe notwendig, deren Bildung durch keine
persönlichen Absprachen im Rahmen einer
„Freimaurer"-Verschwörung gesichert werden kann. Hier braucht man
schwerwiegendere Gründe. Da
das eigentliche Ziel unserer „Bande" die Etablierung einer (wenn auch
räuberischen) Ordnung ist, verwandelt schließlich drittens die
Umsetzung dieses Zieles die ursprünglichen „Banditen" in diejenigen,
die die Gesellschaft tatsächlich verwalten und vor den Forderungen anderer
Räuber schützen (von denen gibt es immer mehr als genug). Sie
führen also hierbei „per definitionem" die genannten
gesellschaftlichen Funktionen aus, erlangen eine bestimmte öffentliche
Position und verwandeln sich in eine besondere funktionale Gruppe. In diesem
Zusammenhang wird die von ihnen unterstützte gesellschaftliche Ordnung
zwangsläufig nicht auf die Interessen eines konkreten Wanja, Josja oder
Achmed als Mitglieder dieser „Bande" (außerhalb ihrer Beziehung zur
Gesellschaft) ausgerichtet, sondern eben auf ihren Vorteil als Verwalter und
Krieger überhaupt. Die natürliche Gruppierung bestimmt die Situation,
wenn nicht von Anfang an, dann post factum. Daher soll aus theoretischer Sicht nur die
natürliche Variante behandelt werden. 3. Allgemeine Merkmale der
besonderen Ordnungen WIE DER HERRE,
SO'S GESCHERRE[11]
Ich betone einige wichtige Aspekte, die oben nur nebenbei angeschnitten worden
sind. Erstens ist die für eine bestimmte Gruppe profitable Ordnung (die
von ihr dementsprechend befürwortet wird) zwangsläufig eine bestimmte Ordnung mit ihren besonderen
Spielregeln, Institutionen und ihrer Art sich zu bilden. Verschiedene Gruppen
sichern auf unterschiedliche Weise den privilegierten Zugang zum
gesellschaftlichen Reichtum. Woher kommen diese Ordnungsunterschiede? Was bedingt
sie? Vor allem (was ihren Inhalt anbetrifft) sind das die ursprünglichen
Unterschiede zwischen den Gruppen selbst, die diese Ordnungen
unterstützen. Die vorhandenen formgebenden Umstände spielen eine
nebensächliche Rolle. DAMIT ES EINE
PFARREI GIBT, BRAUCHT MAN KEINE POPADJA, SONDERN EINEN POPEN[12]
Umgekehrt sollen die Gruppen eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung
gewährleisten. Die Gruppierung von Menschen erfolgt ja aus ganz
verschiedenen Gründen (z.B. nach Geschlecht, Alter, aus ethnischen, konfessionellen,
funktionalen Gründen), und bei weitem nicht jede Gruppe ist aufgrund ihrer
qualitativen Natur imstande, diese Ordnung zu schaffen. Von denen, die dazu
imstande sind, sind außerdem nicht alle ihrem Potential nach
gleichwertig. Aber wir werden später genauer darauf eingehen. DER
VERALLGEMEINERUNGSCHARAKTER DER ORDNUNG Ich betone noch einmal den
Verallgemeinerungscharakter der Ordnung, also die Tatsache, dass in ihr nur die
Interessen von Personen widerspiegelt werden, die ihnen als Mitgliedern einer
Gruppe und nicht als Individuen eigen sind. Wie zuvor angemerkt, erfolgt das
(gemäß dem o.g. „Algorithmus“) bei einer natürlichen Bildung
von Gruppen von selbst, nämlich durch das Addieren von gleichgerichteten
sowie das „Tilgen“ von unterschiedlich gerichteten Handlungen. Allerdings haben
wir es mit diesem Ergebnis auch in den Fällen zu tun, die teilweise der
"Banditenvariante“ ähnlich sind, sowie immer dann, wenn der Grad der
Bewusstheit und der Organisation des Kampfes einer Gruppe für eine
bestimmte Ordnung recht hoch ist. Eine
bewusste Integration und Koordinierung der Bemühungen ist nur in dem
Maße möglich, in dem ihr Ziel gleich und für alle Teilnehmer
des „Projekts" profitabel ist (wenn auch in unterschiedlichem Maße:
die Ungleichheit ist hier kein Widerspruch). In unserem Falle ist das Ziel eine
bestimmte Gesellschaftsordnung. Es ist einfach technisch nicht möglich, in
ihren Regeln die Wünsche derjenigen Mitglieder dieser „Bande" zu
berücksichtigen, die Privilegien ausschließlich für sich selbst
beanspruchen, weil diese Ansprüche sich gegenseitig negieren. Die Ordnung
kann hier auch nicht auf ein Individuum abgestimmt sein. Was würde sonst
die anderen dazu motivieren, sich zu vereinigen und für diese Person zu
kämpfen? Wer würde für die anderen die Kastanien aus dem Feuer
holen? Daher kann das vereinigende Ideal nur einen verallgemeinerten Charakter
tragen, also es kann die Interessen aller „Verschwörer" nur in dem
Maße berücksichtigen, wie sie die Interessen der anderen Teilnehmer
der „Verschwörung" nicht gefährden. „DIE
KRAFTSCHRANKE" Drittens: Die minimal erforderliche Größe der
Gruppe wird von der Stärke bestimmt, die erforderlich ist, um den Rest der
Gemeinschaft zu unterdrücken. Es wurde bereits gesagt, dass eine Gruppe
stärker als der Rest der Gesellschaft sein muss, um eine für sie
vorteilhafte Gesellschaftsordnung zu schaffen. Aber was heißt
„stärker“? Das wird durch verschiedene Faktoren bestimmt, u.a. durch die
Gruppengröße. Dabei muss eine Gruppe desto größer sein,
(a) je größer die zu erobernde Gesellschaft ist, (b) je unwichtiger
andere Kraftfaktoren sind und (c) je weniger diese anderen Faktoren einer
Gruppe zur Verfügung stehen. Im Ganzen darf die Gruppengröße,
unter Berücksichtigung der genannten Faktoren, nicht kleiner als der
Grenzwert sein, bei dem die Gruppenstärke die Stärke des Rests der
Gesellschaft nicht mehr übersteigt. Eben diese „Kraftschranke" (oder,
genauer gesagt, die Notwendigkeit ihrer Überwindung) definiert die unter
bestimmten Bedingungen minimal erforderliche Gruppengröße. DIE
GRUPPENGRÖSSE UND DIE VERALLGEMEINERUNG Man könnte hinzufügen,
dass manchmal auch der Verallgemeinerungsgrad einer entsprechenden Ordnung von
der erforderlichen Gruppengröße abhängt. Dies geschieht, wenn
eine stabile Einhaltung der genannten „Schranke" nicht durch das
natürliche Wachstum der Gruppe unter Beibehaltung ihrer früheren
Homogenität, sondern durch eine zwangsweise Einbeziehung von „fremden“
Menschen gesichert wird. Das ist notwendig, wenn die Gesellschaft schneller als
die Gruppe wächst (oder anderweitig erstarkt). Lassen
Sie mich das an einem Beispiel erklären. Man kennt aus der Geschichte viele Situationen, in der eine Gruppe, die in
der Gesellschaft herrscht, durch eine ganze Reihe von Merkmalen bestimmt wird,
z.B. einerseits funktional (als Verwalter und Krieger), andererseits sozial
(als der Erbadel) und drittens ethnisch (als Vertreter der bodenständigen
Bevölkerung). Stellen wir uns nun vor, dass aus irgendeinem Grund (z.B. im
Zusammenhang mit der Eroberung der benachbarten Territorien und Völker)
die Anzahl der Untertanen dieser Gruppe plötzlich ansteigt. Dabei bleibt
die Größe der Gruppe selbst nahezu unverändert (weil deren
natürliches Wachstum nicht explosionsartig sein kann). Das erschwert die
gewaltsame Aufrechterhaltung der Ordnung und schafft ein akutes Problem,
nämlich entweder den gemeinen Mann der eigenen Nationalität oder eben
adlige Ausländer in die „Elite" aufzunehmen. Der Ausbau der Gruppe
aufgrund der Aufnahme von Nicht-Verwaltern und Nicht-Kriegern kommt
natürlich wegen der Sinnlosigkeit einer solchen Operation nicht in Frage:
das Problem besteht ja eben darin, dass es an Leuten fehlt, die genau diese
Funktion, die Stützung einer beliebigen gewalttätigen Ordnung,
ausführen. In der Regel wird in einer solchen Situation die zweite Option
gewählt (die Bürokratie aller Zeiten schätzt den Status viel
mehr als die ethnische Zugehörigkeit), aber für uns ist es wichtig,
dass die herrschende Gruppe im Ergebnis so oder so ihre Gestalt zugunsten einer
weniger konkreten Form ändert, welche Option auch immer gewählt wird:
Eines der Merkmale, die sie früher charakterisierte, wird zwangsläufig
beseitigt. Gleichzeitig ändert sich (ebenso zugunsten der
Verallgemeinerung) auch der Charakter der durch sie geschützten Ordnung,
wenigstens in Bezug auf die Prinzipien der Bildung des entsprechenden
Staatsapparats (die Auswahl des Personals nach bestimmten Merkmalen ist ja
eines dieser Prinzipien). 4. Die Bereiche der Ordnung DIE VERTEILUNG
DES REICHTUMS Gehen wir nun auf die strukturellen Aspekte ein, die allen
Sonderordnungen eigen sind. Ich beginne mit den (natürlich nur den
wichtigsten) grundlegenden Bereichen. Erinnern wir uns zuerst, warum in der
Gesellschaft das geschieht, was von mir beschrieben wird. Das
ursprüngliche Ziel der Schaffung einer beliebigen Sonderordnung besteht
darin, eine systematische, ungerechte (d.h. privilegierte) Verteilung des
gesellschaftlichen Reichtums zu gewährleisten. Daher muss eben diese
Verteilung selbst der erste grundlegende Bereich sein. Vor allem sie wird auf
eine bestimmte Weise geregelt. Dabei
hängt (wie bereits erwähnt) die Art und Weise der genannten
Verteilung mit dem Charakter der Begünstigten zusammen (allerdings nicht
nur damit, aber das ist hierbei unwichtig). Sie kann daher ganz verschieden
sein, vom primitivsten Raub bis zu den viel anspruchsvolleren „vierhundert
relativ ehrlichen Methoden, Geld zu entwenden"[13]. Die
Verfahrensweise und der „Algorithmus" des Raubs hängen von der Natur
der Räuber ab. In einigen Fällen kommen sie mit Feuer und Schwert,
berauben ihre „Nächsten" und schütteln sie regelrecht aus der
Hose. In anderen Fällen trudeln sie mit der Geldbörse eines
Geldverleihers oder mit dem Kapital des Arbeitgebers ein und stöbern in
den Taschen der Umstehenden mittels der cleveren marktwirtschaftlichen Methoden
der Umverteilung des Reichtums. Dementsprechend
wird bei der ersten Variante in den Ordnungsregeln ausdrücklich ein
bevorzugter Zugang der dominierenden Gruppe zu den „Kornkästen der
Heimat" festgelegt, d.h. deren Mitgliedern wird das Recht eingeräumt,
die Mitglieder der anderen Gruppen auszubeuten. Bei der zweiten Variante
schützen diese Ordnungsregeln bereits viel abstraktere und
unpersönlichere Freiheiten der Marktwirtschaft, die Institution des
Privateigentums usw. Daher sieht die letztere (angeblich rein ökonomische)
Ordnung viel ansehnlicher als die erstere (offenkundig gewalttätige)
Ordnung aus. Die „marktwirtschaftliche“ Ordnung ähnelt
äußerlich gar nicht einem Raubsystem, - obwohl sie genauso wie eine offenkundige
Raubordnung funktioniert. (Ich möchte hinzufügen, dass in bestimmten
schwierigen Übergangszeiten beide o.g. Optionen mehr oder weniger
friedlich koexistieren und sogar kooperieren können; ein anschauliches
Beispiel dafür ist die Situation im heutigen Russland). DIE BEHAUPTUNG
DER DOMINANTEN POSITION Jedoch geht es nicht nur um die Verteilung des Reichtums.
Damit jede ungerechte Gesellschaftsordnung nachhaltig existieren kann,
müssen deren Anhänger ebenso nachhaltig dominieren, zur Not mit
Gewalt. Wodurch wird das gesichert? Dadurch, dass die Gesellschaftsgruppen
nicht gleichermaßen solche Kraftfaktoren besitzen wie die
Kopfstärke, Bewaffnung, Kampf- und Verwaltungsschulung, Bereitschaft zu
gemeinsamen Aktionen (d.h. Organisationsgrad, Diszipliniertheit und
Geschlossenheit) sowie die ihnen zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen
Ressourcen, ihre Kenntnisse und den Zugang zu technischen und sonstigen Mitteln
der Massenbeeinflussung von Menschen. (Dabei muss man nicht unbedingt in jeder
Hinsicht besser als die Konkurrenten sein, um in der Gesellschaft zu
dominieren, es reicht, „in der Gesamtwertung“ zu gewinnen). Daher
ist die zweite grundlegende und regelungspflichtige Sphäre des
gesellschaftlichen Lebens die Verteilung der o.g. Kraftfaktoren. Dabei ist sie
hier nur gemäß der Reihenfolge der Behandlung sowie in dem Sinne die
„zweite", dass ein Mittel, das Ziel zu erreichen, in Bezug auf das Ziel
selbst sekundär ist. Wenn man allerdings die Bedeutung dieser Sphäre
als Kriterium nimmt, dann sollte sie zur wichtigsten erklärt werden. Ohne
eine Ordnung, die die kraftmäßige Überlegenheit einer Gruppe sichert,
kann sie nicht stabil dominieren, und ohne dies würde unweigerlich das
ganze System der ungerechten Verteilung des Reichtums zusammenbrechen. Was
stellt denn diese „Ordnung“ dar, die die Machtverteilung zugunsten bestimmter
Gruppen regelt? Sinngemäß kann sie natürlich grob darauf
reduziert werden, so viele wie möglich der o.g. (und nicht genannten) Kraftfaktoren
zusammenzuraffen (bis hin zu deren vollständiger Monopolisierung),
ausgehend von deren Präsenz und deren Gewicht in dieser oder jener Epoche.
Der Form nach kann diese Ordnung sowohl einfach als auch komplex sein,
abhängig einerseits wiederum vom Charakter der Gruppen, die die jeweilige
Ordnung herstellen, aber andererseits auch von der Natur und vom
Entwicklungsgrad der Machtinstrumente selbst (sowie von den Bedingungen, unter
denen sich das abspielt). Lassen
Sie mich das an einem einfachen Beispiel erklären. Zu allen Zeiten waren
und sind Waffen und Streitkräfte die wichtigsten Kraftfaktoren. Deshalb
ist es klar, dass in der Frühgeschichte eben oft bewaffnete Personen
(Fürsten und ihr Kriegsgefolge, Dienstadel u.a.) als eine dominante
Gesellschaftsgruppe auftraten. Ihre Dominanz wurde ganz von selbst, durch ihren
unverletzlichen Berufsstatus gewährleistet. Daher wurde die ganze Regelung
unserer „zweiten" Sphäre lediglich auf die Sicherung einer klaren
internen Organisation und Kampfschulung der Mitglieder dieser Gruppe sowie auf
die Begrenzung des Zugangs des gemeinen Mannes zu den Waffen reduziert (Waffenführungsverbot usw.) Später wurde allerdings die aus Rekruten
bestehende Berufsarmee zur Hauptstreitmacht. Eine zentrale Bedeutung gewann
dabei die Monopolisierung der Befugnis, das Offizierskorps und die
Generalität zu bilden. Dieses Recht rissen sich denn auch allerlei Zaren,
Kaiser, Generalsekretäre und sonstige Oberbefehlshaber, Führer und „Väter
der Völker"[14] unter
den Nagel. Wenn schließlich diese Befugnis mit dem Sieg der Demokratie
(oder sogar bei deren rein dekorativer Einführung, die gerade durch die
o.g. besonderen Bedingungen nötig wurde) an die gewählten Gremien
(oder einzelnen Beamten wie den Präsidenten) delegiert wurde, erwies sich
die Gewährleistung (durch die Verabschiedung entsprechender Gesetze) einer
solchen Wahlordnung als das Wichtigste, bei der sich alle Karten (oder
zumindest alle Trümpfe) in den Händen der Mitglieder einer bestimmen
Gruppe befanden. Ich möchte betonen, dass dies nicht
nur bei der Kontrolle der Streitkräfte der Fall ist. Jeder einzelne Kraftfaktor
(a) gemäß seiner eigenen Entwicklung, (b) entsprechend dem Charakter
der Gruppe, die sich das Recht darauf anmaßt, (c) unter konkreten
Bedingungen dieser oder jener Gesellschaft und sogar (d) unter
äußeren Bedingungen der Existenz dieser Gesellschaft (die durch die
umgebenden sozialen Gebilde beeinflusst wird), - jeder dieser Faktoren
erfordert unter den o.g. besonderen Umständen ein unkonventionelles
Herangehen, also eine besondere Ordnung in der entsprechenden Sphäre.
Dabei wird jedoch bei all diesen Ordnungen dasselbe Ziel verfolgt: Die Kraftfaktoren
durch eine Gruppe zu monopolisieren und damit deren stabile kraftmäßige
Vorherrschaft in der Gesellschaft zu sichern. DIE STÄRKE
UND DIE MACHT Die Grundlage jeder Gesellschaftsordnung ist also vor allem die
Stärke. Nur die kraftmäßige Vorherrschaft ermöglicht einer
bestimmten Gruppe, alle anderen Mitglieder der Gesellschaft ihrem Willen
nachhaltig zu unterwerfen und sie zu zwingen, nachteilige „Spieleregeln“ zu
erfüllen. Die Fähigkeit, andere zu zwingen, im Widerspruch zu
deren eigenen Interessen zu handeln, heißt Macht. Daraus folgt: (1) Die kraftmäßige Dominanz (oder, um mit Mao Zedong zu sprechen, „das Gewehr“) garantiert die Macht, (2) Der
Kampf um ihren Erhalt, also für die Einführung und Umsetzung einer
entsprechenden Ordnung bei der Verteilung der Kraftfaktoren, heißt
Machtkampf, (3) Die genannte Ordnung selbst ist ein bestimmtes Machtsystem und
(4) Die bei dieser Ordnung erklärten Rechte der dominanten Gruppe oder
bestimmter einzelner Mitglieder davon, ihren Willen durchzusetzen, heißen
Machtbefugnisse. DIE MACHT UND
DEREN BEFUGNISSE Der letzte Punkt erfordert jedoch weitere Erläuterungen.
Machtbesitz wird oft zu direkt mit den formal festgelegten Rechten und
Befugnissen gleichgestellt. Das ist ein Fehler. Nicht die Befugnisse selbst
sichern die Macht, sofern sie nicht durch eine reale Stärke der jeweiligen
Machtinhaber bekräftigt werden. Die formale Seite der Dinge (die
beispielsweise in der Verfassung und anderen Gesetzen, ob geschrieben oder
nicht, widerspiegelt wird), hat natürlich auch eine bestimmte Bedeutung,
aber das Wichtigste ist die wirkliche Verteilung von Kraftfaktoren. Kein Gesetz
kann die objektive Gegebenheit aufheben, dass Soldaten - ausgehend von der
Natur ihres Berufs - gemeinschaftlich, bewaffnet und kriegerisch sind und
Bauern einzeln, unbewaffnet und als schlechte Krieger auftreten. Ich wiederhole: Die oberste Priorität bei der Machtfrage haben nicht
die verkündeten Rechte und Befugnisse („Freiheiten") bestimmter
gesellschaftlicher Gruppen, sondern die Tatsache, dass diese Gruppen wirklich
die wichtigsten Kraftfaktoren besitzen, also die tatsächliche
Fähigkeit, dem Rest der Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen – egal ob
man auf die Gesetze pfeift oder sich auf sie beruft. So z.B. waren bei den
späten Merowingern (7. Jh.) die fränkischen Könige mit all ihren
formalen Rechten nur ein Aushängeschild bei den Hausmeiern, die bei Hof
und im ganzen Lande geschaltet und gewaltet haben. Oder, aus aktuellem Anlass:
Die vorübergehende Übertragung des Präsidentenrechts von Putin
an Medwedew vor kurzem, „Silowiki“[15] zu
ernennen und zu entlassen, hat dem Letzteren nicht etwa die reale Macht
gegeben. Um das zu erreichen, müssten zusätzlich Putins
Schützlinge auf den jeweiligen Positionen durch die ihrem Führer
persönlich treu ergebenen Mitglieder des Teams von Medwedew ersetzt
werden. Und dafür hatte Medwedew weder die Zeit, noch die
Entschlossenheit, noch die Unterstützung
der Gesellschaft und des Staatsapparats. Somit bieten die Machtbefugnisse zum einen die Möglichkeit, nicht alle, sondern nur einige Kraftfaktoren
an sich zu ziehen. Sie genügen nicht notwendigerweise, um
kraftmäßig zu dominieren. Zum anderen bieten sie nur die Möglichkeit, diese
Faktoren an sich zu reißen. Um die Macht tatsächlich zu ergreifen,
muss man außerdem in der Lage sein (und es auch schaffen), die
Gelegenheit zu nutzen (solange die Befugnisse nicht zurückgenommen
werden). 5. Andere Aspekte der
Sonderordnungen WEGE ZUR
AUFRECHTERHALTUNG DER ORDNUNG Die beiden genannten Hauptbereiche der
Gesellschaftsordnung sind genau die Bereiche, die geregelt werden. Es macht jedoch
Sinn zu verstehen, wie das geschieht und wie diese oder jene Sonderordnung
praktisch aufrechterhalten wird. Dabei werden folgende Teilfragen gestellt: Auf
welche Weise? In welcher Form? Mit welchen Mitteln? An
und für sich gibt es auf die erste Frage nur zwei Antworten, und
dementsprechend werden zwei Herangehensweisen realisiert. Die erste ist die uns
bereits bekannte Gewalt, über die oben schon genügend gesagt worden
ist. Die zweite Art ist die Überzeugung, also eine entsprechende Erziehung
von Menschen, denen die Vorstellung der „Heiligkeit“ der Herrscher und der
Natürlichkeit der bestehenden Ordnung eingeschärft wird. Man
trichtert ihnen Ideologien als „unbestreitbare“ Wahrheiten ein. Wenn
das Verhalten von Menschen weitgehend durch den Inhalt ihrer Köpfe
bestimmt wird, kommt man ja gar nicht umhin, die Gelegenheit zu nutzen und sich
zu bemühen, diese Gefäße mit dem für die Herrscher
wünschenswerten Inhalt zu füllen. Für die „Elite“ ist es ja viel
angenehmer und effizienter, wenn die Untergebenen schuften und die Produkte
ihrer Arbeit nicht zwangsweise abgeben, sondern freiwillig und mit freudigem
Lächeln im Gesicht oder wenn sie sich zumindest damit abfinden,
ausgebeutet zu werden, weil dieses Übel eben unvermeidlich und
unausrottbar ist. Daher
ist es nicht verwunderlich, dass die zweite Methode, neben der Gewalt, in der
Weltgeschichte recht oft verwendet wird, und dabei desto häufiger, je
stärker sich die technischen Mittel der Massenbeeinflussung von Menschen
entwickeln. NORMEN Wie diese
beiden Methoden der Aufrechterhaltung der Ordnung werden auch ihre
„Spielregeln“ in Rechts- und Moralnormen unterteilt. Dabei spielen die
Rechtsnormen die Hauptrolle in diesem „Stück“; darauf vor allem werde ich
kurz eingehen. Das
Recht (d.h. die allen gut bekannten Gesetze, Vorschriften, Verordnungen,
Stellenbeschreibungen und andere Verlautbarungen der Machtorgane) regelt das
Verhalten der Menschen. Einerseits ist es wichtig, um die anhaltende Dominanz
und die Privilegien der herrschenden Gruppe zu sichern und andererseits, um das
reibungslose Funktionieren und die Existenz der Gesellschaft als Ganzes zu
garantieren. Das Recht regelt den genannten Bereich, und die Ordnung wirkt eben
in diesem Bereich: Darüber hinaus ist alles die Privatangelegenheit der
Mitglieder der Gesellschaft, die entweder durch die Moral geregelt wird oder
ganz und gar ungeregelt bleibt. Man sollte allerdings nicht glauben, dass die
Moral nur unbedeutende Handlungen regelt: Natürlich greift sie auch auf
das Wirkungsgebiet des Rechts über, einmal helfend, ein anderes Mal
hemmend. Wegen
der oben beschriebenen Bedeutung der Rechtsnormen kommt ihnen erstens ein
Zwangscharakter zu, sie legen fest, was man tun darf, was nicht und was man tun
soll, mit Schwerpunkt auf dem Letzteren. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die
Verbindlichkeit eines bestimmten Verhaltens zu sichern, und deswegen regeln sie
(trotz ihrer Bezeichnung als „Recht“) insbesondere die Pflichten (was man nicht
darf und was man soll). Die Abschweifung zu den Rechten (was man darf) ist
hierbei nur dadurch bedingt, dass die Verpflichtungen der Einen oft die Rechte
der Anderen sind, sowie dadurch, dass es bestimmte Ausnahmen von der Regel gibt. Zweitens
(aus dem gleichen Grund) wird die Einhaltung der Rechtsnormen strikt mit Gewalt
gesichert. Das Verbindliche ist eben deswegen verbindlich, weil es unter allen
Umständen durchgesetzt wird, und der einzige zuverlässige Garant
dafür ist Zwang. Genauer gesagt: Wenn bestimmte Anordnungen nicht
erfüllt werden, wird das durch die speziell für diesen Zweck
geschaffenen Straforgane mit aller Strenge des Gesetzes bestraft. Und hier
gehen wir schon zum Thema „Mittel zur Einhaltung der Ordnung“ über. MITTEL UND
WERKZEUGE ZUR EINHALTUNG DER ORDNUNG Die Herstellung der Ordnung in der
menschlichen Gesellschaft wird, wie oben erwähnt, durch eine spezielle
Funktionsabteilung verwirklicht, deren Mitglieder mit Stolz den Namen
„Verwalter“ tragen. Allerdings ist diese Gruppe (genauso wenig wie die Gruppe
von Ärzten, die aus Urologen, Anästhesisten, Psychologen etc.
besteht) keineswegs homogen. Die zunehmende Komplexität der von ihr
gelösten Aufgaben (die durch die Entwicklung der Gesellschaft verursacht
wird) erfordert einerseits, dass sie in Unterabteilungen aufgespalten wird, die
sich auf die Verwaltung von bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens
spezialisieren. Andererseits erfordert diese Komplexität, dass die
Produktivität der Verwaltungsarbeit gesteigert wird, was vorrangig durch
die Ausrüstung dieser Funktionäre mit entsprechenden Werkzeugen
gesichert wird. Außerdem ist es wichtig hinzuzufügen, dass sowohl diese
speziellen Abteilungen, als auch alle Verwalter überhaupt (im Gegensatz zu
Kinderärzten, Zahnärzten, Logopäden etc. sowie zu den
Ärzten im Allgemeinen) keine vereinzelten, für sich existierenden
Mengen von Fachleuten darstellen. Es handelt sich um klar und deutlich
strukturierte, hierarchisch organisierte Gruppen – „Apparate“. Das ergibt sich
aus ihrer Funktion. Erstens kann die Verwaltung als Prozess der
Aufrechterhaltung von Ordnung nicht ohne Ordnung bei den Verwaltern selbst
realisiert werden (ihre Organisierung ist also a priori erforderlich). Die
Verwaltung kann inhaltlich darauf reduziert werden, Entscheidungen zu treffen,
zu befehlen und die Erfüllung der Befehle durchzusetzen (wobei die
Behörden in herrschende und untergebene geteilt werden). Deswegen muss die
Verwaltung zweitens in ihrer Organisation Hierarchieprinzipien widerspiegeln (hierbei
ist also eine hierarchische, „pyramidale“ Organisation oder, um den jetzt in
Russland beliebten Ausdruck zu gebrauchen, die „Machtvertikale“ nötig).
Daher wird jede Verwaltungsabteilung, die eine konkrete Managementaufgabe
löst (sei es die Verwaltung der Gesellschaft als Ganzes oder einiger ihrer
Teile) natürlicherweise immer als ein hierarchisch strukturierter Apparat
aufgebaut. So gibt es also folgende Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung: In
konkreten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens spezialisierte
Verwaltungsapparate und in der Gesellschaft als Ganzes einen Einheitsapparat;
als Instrument dieser Apparate dient die Infrastruktur, die bei der
Realisierung ihrer Funktionen verwendet wird. DER STAAT Die
angeführte allgemeine Regel gilt natürlich auch im Falle der
ungerechten Gesellschaftsordnungen. Diese unterscheiden sich von anderen nur
dadurch, dass für ihre Aufrechterhaltung eine größere Gewalt
erforderlich ist, die nicht zu rechtfertigen ist (jede Verwaltung impliziert Gewalt;
der Unterschied besteht allerdings in ihren Zielen und ihrem Umfang). Das
heißt, dass eine hypertrophe Entwicklung der jeweiligen Apparate (mit
ihren Instrumenten) erforderlich ist, die bei hypothetischen gerechten
Gesellschaftsordnungen entweder gar nicht oder in einem viel geringeren
Maße nötig ist (hinsichtlich der Zahlen, der Instrumente, etc.) So
braucht man bei ungerechten Gesellschaftsordnungen (verglichen mit den
gerechten) viel mehr innere Truppen, Straforgane aller Art, U-Haftanstalten und
Gefängnisse; die Haftbedingungen und die Gerichtspraxis müssen
härter sein usw. Andernfalls kann eine effektive Unterdrückung der
Gesellschaft nicht gesichert werden. Allerdings sind auch ungerechte Gesellschaftsordnungen in dieser Hinsicht
nicht immer gleich; sie unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Ungerechtigkeit
und danach, inwieweit diese Ungerechtigkeit auffällig ist. Es ist klar,
dass je anständiger die Gesellschaftsordnung an sich ist, je besser ihre
ausbeuterische Natur verschleiert werden kann und je leichter diese ideologisch
zu rechtfertigen ist, desto weniger Gewalt benötigt wird, um sie zu
bewahren. Für uns ist allerdings das Wichtigste, dass der Verwaltungsapparat in
ungerechten Gesellschaftsordnungen gesetzmäßig eine besondere
Qualität erhält. Er ist nicht nur ein Verwaltungs-, sondern auch ein
Gewaltapparat (und zuweilen viel stärker das Letztere). Dieser spezifische
Apparat hat einen besonderen Namen, „der Staat“ (in der Umgangssprache wird der
Begriff natürlich auch als Synonym für das Wort „Land“ verwendet,
aber in der Gesellschaftskunde wird so hauptsächlich ein besonderer, im
oben genannten Sinne, Verwaltungsapparat bezeichnet). DER SCHLUSSTRICH
Am Ende dieses Kapitels bleibt folgendes festzustellen und hervorzuheben: Die
Herausbildung von ungerechten Gesellschaftsordnungen bedeutet nicht mehr die
Herausbildung von funktionalen Beziehungen der Menschen. Die Menschen werden
nicht nach Funktionen, sondern als Herren und Untergebene, Ausbeuter und
Ausgebeutete, Unterdrücker und Unterdrückte unterteilt. Ihr
Zusammenwirken hat keinen Funktionscharakter mehr; es existiert keine
Zusammenarbeit mehr, sondern Gewalt, die ein Teil der Gesellschaft
gegenüber dem anderen ausübt. Hierbei handelt es sich um soziale
Beziehungen und Interaktionen, und die beteiligten Parteien sind soziale
Gruppen. Das heißt, dass in ungerechten
Gesellschaftsordnungen neben der funktionalen Teilung der Gesellschaft (und
über ihr) auch eine soziale entsteht. Vortrag vier. DIE
KLASSEN UND IHRE VERWANDTEN 1. Die Klassen und ihre
Geschwister
Oben wurden vor allem die Notwendigkeit
und die allgemeinen Eigenschaften der Gesellschaftsordnungen behandelt, die
durch bestimmte Gruppen zu deren Gunsten etabliert werden. Lassen Sie uns nun
auf diese Gruppen selbst eingehen. WAS SIND KLASSEN?
Zunächst einmal: Was ist ihnen allen eigen, was sind ihre gemeinsamen
charakteristischen Merkmale? Wie oben dargelegt, gibt es im Großen und
Ganzen nur zwei davon. Diese Gruppen müssen: 1) Stark
genug sein, um die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten, 2) in der
Lage sein, eine (a) bestimmte (b) für sie vorteilhafte und (c)
realisierbare Gesellschaftsordnung zu ermöglichen. Zum
ersten Punkt scheint alles mehr oder weniger klar zu sein; der zweite erfordert
eine Erklärung, und zwar: Ø „Ermöglichen“
bedeutet nicht „aufzwingen“ (das ist bereits im ersten Punkt
berücksichtigt); gemeint ist die Fähigkeit, sich eine Vorstellung,
eine Idee von der gewünschten Ordnung zu bilden. Schließlich ist bei
weitem nicht jede Gruppe in der Lage, sich hierbei überhaupt etwas
einfallen zu lassen: erstens objektiv (ihrer Natur nach, die sich mit dem
gesellschaftlichen Sein kaum kreuzt), und zweitens subjektiv (nach ihren
intellektuellen Fähigkeiten). Ø „Bestimmt“
in Bezug auf die Ordnung bedeutet einerseits, dass sie eindeutig, in jedem
Detail stimmig ist, eine klare Form hat usw. (davon hängt die
Realisierbarkeit der Ordnung stark ab), und andererseits (und das ist noch
wichtiger) – dass sie besonders konkret, originell ist, dass sie sich grundlegend
von anderen Arten der sozialen Ordnung unterscheidet. Ø „Vorteilhaft“
in Bezug auf die genannte Ordnung bedeutet, dass eine privilegierte Position
eben der Gruppe gesichert wird, die diese Ordnung lanciert hat und für sie
kämpft. Denn es kommt vor, dass eine „neue“ Ordnung, die durch eine
bestimmte Gruppe etabliert wird, in der Tat entweder gar nicht neu, sondern nur
leicht abgeändert ist (dadurch wird die Position der Anhänger der
alten Ordnung nur gestärkt), oder, wenn sie auch neu ist, scheint es
dieser Gruppe nur, dass sie ihren Interessen entspricht. Ø Schließlich
bedeutet die Realisierbarkeit der Ordnung, dass sie in der Tat eingeführt
werden kann, und das ist, außer der o.g. „klaren Form“, durch die
Fähigkeit (einschließlich der subjektiven Bereitschaft) der
Gesellschaft bedingt, im Rahmen der gegebenen „Spielregeln“ zu funktionieren.
Ohne dies kann man sich Ordnungen ausdenken, die entweder durch die
Gesellschaft wegen ihres Entwicklungsniveaus (Unreife oder Überreife)
abgelehnt werden oder grundsätzlich wegen ihres Utopismus nicht
realisierbar sind. In
Anbetracht dieser Erklärungen stelle ich fest: Ich bezeichne als „Klassen“
Gruppen mit den beiden genannten Merkmalen. Die Klasse ist eine ihrer
natürlichen Bestimmtheit nach besondere Gruppe von Mitgliedern der
Gesellschaft, die dank ihrer Gruppenidentität im Hinblick auf die
politische und wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft (also auf die Art und
Weise der Verteilung von Macht und Reichtum) im Wesentlichen gleiche Interessen
haben und zudem über genügend Kraft verfügen, diese Struktur
einzuführen und aufrechtzuerhalten. „UNTERKLASSEN“
Ich möchte gleich darauf aufmerksam machen, dass es erstens zwei Merkmale
gibt, gemäß derer Klassen definiert werden. Zweitens haben sie
außerdem an und für sich einen zusammengesetzten Charakter und
dadurch entsteht ein ziemlich buntes Bild. In der Praxis gibt es durchweg
gesellschaftliche Gruppen, die nach einigen Parametern Klassen ähnlich
sind und nach anderen diesen nicht gerecht werden, und zwar in
unterschiedlichem Maße. Logisch gibt es hierbei folgende Optionen. Was
das erste Merkmal betrifft, kann es drei Arten von Gruppen geben: a) solche,
die dieses Merkmal in vollem Umfang haben b) solche,
die es gar nicht haben und c) solche,
die stark genug sind, um die Macht zu ergreifen (oder, genauer gesagt, die
alten Herrscher zu stürzen und das von ihnen etablierte Verwaltungsregime
zu zerstören), aber nicht in der Lage sind, es auf lange Sicht zu erhalten
(eine umgekehrte Option ist natürlich unrealistisch: Diejenigen, die
imstande sind, die Macht zu erhalten, sind sicherlich auch in der Lage, diese
zu ergreifen). Dabei ist nicht der Fall gemeint, wenn die genannte
Unfähigkeit durch die „Kinderkrankheit“ des Wachstums bedingt ist. Eine
Klasse, die wegen ihrer historischen Unterentwicklung schwach ist, ist immer
noch, zumindest potenziell, eine Klasse, wobei diejenige Gruppe, die aufgrund
der immanenten Mängel auch im „erwachsenen“ Zustand die für sie
nötige Ordnung nicht stabil aufrechterhalten kann, überhaupt nicht in
der Lage ist, sich als Klasse zu realisieren; sie hat im Prinzip kein Recht,
als solche bezeichnet zu werden. Was
das zweite Merkmal betrifft, ist die Streuung noch größer. Hierbei
sind folgende Gruppen möglich (aus Sparsamkeitsgründen stelle ich sie
wiederum in einer etwas verallgemeinerten Form dar): a) solche,
die überhaupt nicht in der Lage sind, irgendeine Ordnung zu
ermöglichen; b) solche,
die imstande sind, eine Ordnung zu ermöglichen, aber in keiner ausreichend
klaren Form; c) solche,
die eine gewisse Ordnung ermöglichen, aber nicht diejenige, die sie selbst
wirklich brauchen; d) solche,
die eine bestimmte und für sie vorteilhafte Ordnung errichten
könnten, die allerdings nicht realisierbar ist, aus welchen Gründen
auch immer; e) solche,
die allen Anforderungen gerecht werden. Dieser
Satz von Optionen ermöglicht verschiedene Kombinationen. Zum Beispiel die,
dass bei einer Gruppe entsprechend Punkt b) alles in Ordnung ist, aber was
Punkt a) betrifft, sie nicht imstande ist, die Macht zu erhalten oder,
umgekehrt, mit Punkt a) alles in Ordnung ist, es aber mit Punkt b) Probleme
gibt. Und so weiter, quer durch die ganze Liste. (Ich möchte daran
erinnern, dass es sich um rein logische Möglichkeiten handelt, in der
Praxis werden bei weitem nicht alle davon realisiert). Das
Vorhandensein von Gruppen, die aus diesem oder jenem Grund das Niveau einer
Klasse nicht erreichen, wirft die Frage auf, wie sie zu benennen wären,
und dabei sollte es im Idealfall einen besonderen Namen für jede dieser
auf ihre eigene Art und Weise minderwertige Gruppe geben. Aber wir brauchen
dieses Ideal nicht zu erreichen: Ich werde diese Gruppen nur verallgemeinert
„Unterklassen“ nennen. „DER STRENGE
DANTE DAS SONETT NICHT HASSTE“[16]
Zugleich können die Unterklassen aller Art ohne weiteres sowohl
miteinander, als auch mit den echten Klassen zu Familien vereinigt werden, und
zwar auf der Grundlage dessen, dass sie (wenn auch in unterschiedlichem
Maße) einzelne Klassenmerkmale besitzen. Mit anderen Worten sind alle
(sowohl Klassen, als auch Unterklassen) miteinander mehr oder weniger verwandt
und das ist ein ganz wichtiger praktischer Umstand. Wenn
die Mitglieder der genannten Familie (nennen wir sie die Familie der
„Klassoide“) Verwandte sind, bedeutet das, dass sie sich im gesellschaftlichen
Leben ähnlich verhalten, einige in vielerlei Hinsicht, andere zumindest
teilweise. Es heißt u.a., dass alle von ihnen so oder so am Klassenkampf
für bestimmte Ordnungen teilnehmen. Nicht jedem Klassoid ist
natürlich beschieden zu siegen (den Unterklassen ist das beispielsweise
nicht beschert), aber jeder von ihnen spielt in diesem Stück seine Rolle,
trägt zum Endergebnis bei und ist dadurch „für die Mutter-Geschichte
wertvoll“[17].
Das Wichtigste ist bekanntlich nicht der Sieg, sondern eben die Teilnahme[18]. Somit
werden gesellschaftliche Prozesse nicht nur durch grundlegende
Klassenkonstellationen, sondern auch durch den Einfluss der bedeutendsten
Unterklassen bestimmt. Es handelt sich nicht um einen Nachteil, sondern um
einen besonderen Umstand. Daher werde ich unten neben dem Begriff
„Klassenstruktur“ (und das sogar häufiger) den allgemeineren (und damit
umfassenderen) Begriff „Klassoid-Struktur der Gesellschaft“ verwenden. 2. Die Klassen und ihre
Eltern WELCHE GRUPPEN
KÖNNEN KLASSEN WERDEN? Als nächstes möchte ich unterstreichen,
dass die vorgeschlagene Klassendefinition außer der beiden o.g. Punkte
nichts anderes beinhaltet. Das bedeutet, dass eine Gruppe, die als „Klasse“
fungiert, in jeder anderen Hinsicht beliebig sein kann. Ihre anderen Züge
(ohne die sie natürlich nicht auskommen kann) haben hierbei keine
prinzipielle Bedeutung und können von Fall zu Fall variieren. Oder, mit
anderen Worten ausgedrückt, Klassen können aus natürlichen
Gruppen gebildet werden, die nach verschiedenen Merkmalen aufgebaut sind: In
einem Fall beispielsweise auf der Grundlage der ethnischen Gemeinsamkeit, im
anderen aus einer bestimmten Funktionsschicht, im dritten aus den Trägern
einer Konfession usw. Die natürlichen Gruppen, auf deren Basis die Klassen
entstehen, können sehr verschiedenartig sein. Sie müssen nur den
beiden o.g. allgemeinen Anforderungen entsprechen und dann sind sie Klassen. In
Wirklichkeit gibt es jedoch nur eine begrenzte Anzahl von Gruppen, die diesen
Anforderungen gerecht werden. Dazu gehören keine so nebensächlichen
Vereinigungen wie die der Bierliebhaber, Fußballfans, Rothaarigen etc. Es
handelt sich nur um die für die jeweilige Gesellschaft besonders
bedeutenden Gruppen, die in ihrer Struktur tief verwurzelt sind und einen
unmittelbaren Einfluss auf die Gesellschaftsordnung ausüben (was ich
bereits oben im Abschnitt über den „Popen und die Popadja“ angedeutet
habe). Aber auch in der „Oberliga“ haben die Gruppen unterschiedliche Chancen,
Klassen zu werden, unter ihnen entsteht Konkurrenz, und es siegt
selbstverständlich der Stärkste. WELCHE GRUPPEN
KOMMEN IN FRAGE? Aber was bedeutet es, der Stärkste in diesem Bereich zu
sein? Nach welchen Parametern messen verschiedene Gruppen ihre Kräfte?
Lassen Sie uns versuchen, dies zu klären. Demaskieren
wir also endlich die Liste der Anwärter. Das sind die bereits
erwähnten Geschlechts- (oder, wenn es beliebt, Gender-) und Altersgruppen
sowie ethnische, konfessionelle und funktionale Gruppen. Warum gerade diese? Ø Diese
Gruppen bzw. Gruppenarten sind einerseits groß genug (anders als z.B.
Verwandtenkreise oder Clans) und andererseits klein genug (im Gegensatz zu
beispielsweise den Rassen), d.h. sie entsprechen mehr oder weniger der
gesellschaftlichen Skala. Ø Die
genannten Gruppen waren Teile aller Gesellschaften vom Altertum bis heute; bis
zur Neuzeit gab es praktisch keine anderen Gruppen. In den letzten 500 Jahren
dienten auch andere Gruppen immer öfter als Basis für die Bildung von
Klassen, aber es würde nicht schaden, zunächst zu klären, wie es
sich damit in den vorangegangenen 5000 Jahren verhielt. Ø Schließlich
sollte separat gesagt werden, warum in dieser Liste die Vermögensgruppen,
d.h. Reiche und Arme, nicht enthalten sind: Ich werde zur passenden Zeit
gesondert darauf eingehen. DER TEUFELSKREIS
Also zum Beispiel hier und jetzt. Meine Vernachlässigung der
Vermögensgruppen ist einfach zu erklären: Sie sind keine
natürlichen Gruppen, sondern rein soziale, sekundäre Phänomene.
Die gesellschaftlich bedeutsame Vermögensschichtung ist eine Folge der
ungerechten Verteilung des Reichtums der Gesellschaft, d.h. eine Folge des
Funktionierens einer entsprechenden Ordnung und nicht ihre Ursache bzw. etwas,
was ihr vorausgeht. Ansonsten handelt es sich um einen Teufelskreis. Ich erkläre
das so: In
der normalen Logik sind die natürlichen Basisgruppen die erstens per se
(also vor der Einführung einer für sie günstigen Ordnung und aus
von ihr unabhängigen Gründen) gebildeten und zweitens
gesellschaftlich bedeutsamen Schichten. Wie passen in diese Bezugsbasis Arme
und Reiche hinein? Zunächst
erhebt sich die Frage, wie sie als gesellschaftlich bedeutsame Schichten
entstehen können. Es ist wichtig, dass es sich dabei nicht um einen
zufälligen Prozess handeln kann. 1) Erstens,
wenn angenommen wird, dass die Vermögensgruppen eine Basis für die
Klassenbildung darstellen, dann sollten die unmittelbaren Ursachen der
Entstehung der genannten Gruppen die initialen (d.h. einen Schritt weiter
entfernten) Ursachen für die Entstehung der Klassen sein. Wenn die finalen
Ursachen der Klassenbildung auf Zufälligkeiten zurückgeführt
werden können, heißt das im Grunde, dass die Klassenbildung selbst
für zufällig erklärt werden kann, und das ist Unsinn. 2) Zweitens
beruft sich die Theorie überhaupt nicht auf Zufälligkeiten, sondern
nur auf Gesetzmäßigkeiten. 3)
Drittens können sich in Wirklichkeit nur einzelne
Leute, aber auf keinen Fall ganze soziale Schichten bei Gelegenheit bereichern
oder verarmen. (Ich betone deutlichkeitshalber, dass nur eine solche
Bereicherung oder Verarmung wirklich zufällig ist, die z.B. durch die
Hebung eines Schatzes oder durch einen Brand verursacht wird, die also in
keiner Weise mit der Struktur der Gesellschaft zusammenhängt. Ich
möchte auch daran erinnern, dass uns eben die Vermögensschichtung der Gesellschaft als Ganzes - und nicht
deren Bereicherung oder Verarmung, ob zufällig oder nicht - interessiert).
Folglich kann eine bedeutsame Vermögensschichtung nur
gesetzmäßig sein. Was
heißt das nun? Es heißt, dass sie sich stabil, zielgerichtet,
geordnet vollziehen muss, also sie muss durch eine bestimmte Art und Weise der
Verteilung des in der Gesellschaft erzeugten Reichtums bedingt sein. Und dabei
durch eine ungerechte Verteilung: Ihr Ergebnis ist ja die Bereicherung der
einen und die Verarmung der anderen. Doch
wie kommt die besagte Ordnung überhaupt auf den Plan? Wer führt sie
ein und wer überwacht sie (wegen ihrer Ungerechtigkeit)? Um welche Klasse
handelt es sich? Bei einer reinen Betrachtung des Vermögens sollten es
doch gerade die Reichen sein und nicht irgendwelche Fremden, die erst nach der
Einführung dieser Ordnung erscheinen. Der behandelte Prozess kann also nicht
zufällig sein und seine Gesetzmäßigkeit setzt voraus, dass er
bezüglich der Einführung einer ungerechten Ordnung der Vermögensverteilung
und damit bezüglich der Klassenbildung sekundär ist. ANDERE
GEOMETRISCHE FIGUREN, DIE IN KEINEM ZUSAMMENHANG MIT DER UNBEFLECKTEN
EMPFÄNGNIS STEHEN Außerdem bedeutet die Zufälligkeit der
Vermögensschichtung, dass ihre beiden „Ströme“ (d.h. die Bereicherung
der einen und die Verarmung der anderen) autonom, wegen eigener Ursachen,
verlaufen und nicht etwa als ein einheitlicher antagonistischer Prozess, bei
dem die Bereicherung der einen auf Kosten der Ausplünderung (und damit der
Verarmung) der anderen erfolgt. Aber wenn diese Prozesse voneinander
unabhängig sind, was haben dann deren Protagonisten miteinander zu tun?
Auf welcher Grundlage soll dann die Notwendigkeit entstehen, ein
zusätzliches Verfahren der ungerechten Verteilung von Gemeingütern,
der Verwandlung der vermögenden Leute in eine herrschende Klasse usw.
einzuführen? Die Reichen würden sich sowieso, auch ohne Beraubung der
Armen, bestens weiter bereichern. Sollte es diese überhaupt nicht geben,
was würde das die Reichen kümmern (und umgekehrt, wohlgemerkt)? Wenn
jedoch der Reichtum der einen auf Kosten der Ausplünderung der anderen
wächst, dann sind es nicht zwei voneinander unabhängige und damit in
Bezug aufeinander zufällige Prozesse, sondern es ist ein einheitlicher
gesetzmäßiger Prozess, der im Rahmen einer bestimmten ungerechten
Ordnung verläuft - mit all den oben beschriebenen Folgen. Schließlich
möchte ich auf eine weitere Schwierigkeit hinweisen. Alle natürlichen
Gruppen unterscheiden sich ihrem Wesen nach. Einige von ihnen sind Verwalter,
andere Slawen und wieder andere Atheisten. Dabei bestimmen gerade die
besonderen Merkmale dieser Gruppen den Charakter der für sie vorteilhaften
Ordnungen. Und was sind die besonderen Eigenschaften der Reichen und der Armen
an sich (und nicht der reichen Jünger Krishnas, der armen Bankiers oder
gar der jüdischen Bettler)? Leider Gottes laufen sie auf die einfache
Tautologie hinaus: Die besondere Eigenschaft der abstrakten Reichen (d.h. der
Reichen überhaupt) besteht lediglich darin, dass sie reich, und der
abstrakten Armen, dass sie arm sind. Jeder Versuch, unter diesen Gruppen eine
Grundlage für die Klassenbildung zu finden, führt nur dazu, dass man
bei den besagten „besonderen Eigenschaften“ landet. Wichtig ist nicht die
Tatsache, dass ein Bauer arm ist, sondern dass er Bauer ist, nicht die
Tatsache, dass ein Araber reich ist, sondern dass er Araber ist. Lassen
wir nun dieses Thema vorübergehend ruhen; wir werden später darauf
zurückkommen müssen. 3. Wessen Basis ist
stärker? OHNE METAPHER
Lassen Sie uns nun zu unserer Suche nach dem stärksten
Langstreckenläufer zurückkehren. Ich möchte klarstellen, dass
„stark“ im aktuellen Kontext nicht etwa „eine echte Kraft besitzend“ bedeutet.
Es ist nur eine Metapher. Es handelt sich natürlich nicht darum, dass die
Geschlechts- und Altersgruppen (z.B. Männer in ihren besten Jahren) in
einer Gesellschaft real mit ethnischen Gemeinschaften (z.B. mit Polen) oder
funktionellen Schichten (z.B. mit Verwaltern) um die Macht kämpfen. Das
ist absurd. Das können nur Gruppen gleicher Art: Männer mit Frauen
(Geschlecht), Kinder mit älteren Menschen (Alter), Polen mit Tschechen
(Ethnien), Muslime mit Christen (Konfession), Verwalter mit Händlern
(Funktion) usw. Gruppen verschiedener Art nehmen es miteinander nicht physisch
auf, sondern bezüglich ihrer Nützlichkeit für die Menschen,
deren erklärtes Ziel es ist, persönliches Wohlbefinden auf Kosten
anderer zu erreichen. Eine natürliche Gruppierung, die in dieser Hinsicht
die meisten Fähigkeiten und Präferenzen hat, gewinnt logischerweise
das Rennen, d.h. wird zur Grundlage für die Bildung einer Klasse. Deshalb
müssen wir nun feststellen, welche von den o.g. Gruppenarten im obigen
Sinne nützlicher sind, sprich welche von ihnen ein größeres
Potenzial haben, das o.g. „lichte“ Ziel zu erreichen. Wie kann man das
herausfinden? EGAL, WAS MAN
TUT, ES FÜHRT ZU NICHTS GUTEM Das Hauptziel der Umwandlung einer
natürlichen Gruppe in eine Klasse ist also die Ausbeutung des Restes der
Gesellschaft durch diese Gruppe. Man kann sich jedoch ein solches Ziel nur dann
setzen, wenn die o.g. Gruppe nicht die ganze Gesellschaft darstellt, sondern
nur ein Teil davon ist. Man kann nur jemand anders, aber nicht sich selbst
ausbeuten. Wie werden unsere Gruppen dieser Bedingung gerecht? Es ist kein Problem bei Alters- und
Funktionsschichten: Es gibt viele davon, und sie alle sind eben Teile der
Gesellschaft. Befriedigend sieht es auch bei Geschlechtsgruppen aus:
Natürlich gibt es hier nur zwei riesige Gruppen (Männer und Frauen),
aber jede von ihnen ist auch nur ein Teil der Gesellschaft. Dafür ergeben
sich in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten bei ethnischen und vor allem bei
konfessionellen Gruppen. 1) Zum
einen ist in diesen Fällen die Ausbeutung nur in multi-, aber nicht in
monoethnischen oder monokonfessionellen Gesellschaften möglich. Dabei sind
die Multiethnizität und (in noch geringerem Maße) die
Multikonfessionalität lediglich für Kaiserreiche, aber nicht für
alle (und wohl eher nicht für die meisten) Gesellschaften charakteristisch.
Die Klassenbildung auf dieser Grundlage geschieht also bei weitem nicht
überall. 2) Zweitens
ist die ethnische und noch mehr die konfessionelle Abgrenzung ihrer Natur nach
instabil. Ethnische Unterschiede werden (beim Zusammenleben von Ethnien und
einem aktiven kulturellen und genetischen Austausch zwischen ihnen, was im
Rahmen einer Gesellschaft fast unumgänglich ist) in der Regel innerhalb
von einem bis zwei Jahrhunderten ausgelöscht. Konfessionelle Unterschiede
haben dagegen überhaupt keine (objektive) dauerhafte Grundlage: Um die
Konfession zu ändern, ist nur der subjektive Wunsch oder, genauer gesagt,
die vorsätzliche Entscheidung eines Gläubigen nötig. Nichts
hindert die Mitglieder einer Gesellschaft, die aus religiösen Gründen
diskriminiert werden, sich ausnahmslos zur staatlichen Religion zu bekennen
(das wurde bekanntlich nirgends verboten, sondern im Gegenteil stark
gefördert und sogar erzwungen), und damit nun zur „herrschenden Klasse“ zu
gehören. Somit
sind in dieser Hinsicht die Potenziale der beiden letztgenannten Gruppenarten
in den multi-ethnischen und multi-konfessionellen Gesellschaften instabil und
stehen den Potenzialen der Alters- und Funktionsschichten im Rang nachgeordnet;
in mono-ethnischen oder mono-konfessionellen Gesellschaften sind sie gleich
Null. MAN WÜRDE
SCHON GERNE INS PARADIES GELANGEN, ABER WEGEN DER SÜNDEN GEHT ES NICHT[19] Ein
anderer Aspekt, der die Ausbeutung im Rahmen einer bestimmtem Gruppenart
ermöglicht, ist der Charakter dieser Gruppen an sich. Bei weitem nicht
alle von ihnen können tatsächlich einander ausbeuten. Das
auffälligste Beispiel dafür sind die Altersschichten. Die
schwächsten unter ihnen (im normalen physischen Sinne) sind natürlich
Kinder und ältere Menschen, und die stärksten sind Menschen mittleren
Alters. Anscheinend können nach diesem Kräfteverhältnis nur die
Ersteren durch die Letzteren ausgebeutet werden. Allerdings sind die
tatsächlichen Beziehungen von Altersgruppen in Wirklichkeit genau
umgekehrt aufgebaut: Die Ersteren leben auf Kosten der Arbeit der Letzteren.
Und das nicht nur, weil bei den Kindern und bei den älteren Menschen
nichts zu holen ist (dabei können sie natürlich nicht ausgebeutet,
bräuchten dafür nicht ernährt zu werden), sondern weil die
Gesetze der biologischen Reproduktion der Spezies „Homo sapiens“ in diesem
Bereich gegenüber den Gesetzen des sozialen Seins dominieren. Etwa das Gleiche ist, mit einigen Nuancen,
auch für die Beziehungen zwischen Männern und Frauen
charakteristisch. Der Hauptunterschied hierbei liegt natürlich in der
Tatsache, dass man, im Gegensatz zu den Kindern und den älteren Menschen,
nicht behaupten kann, dass bei den die Frauen nichts zu holen wäre.
Deshalb haben Männer als eine stärkere Gruppe Frauen im Laufe von
Tausenden von Jahren stellenweise in gewissem Maße ausgebeutet
(mancherorts wird es bis heute praktiziert). Allerdings ist erstens die
Effizienz dieser Ausbeutung im Vergleich zur Ausbeutung der Männer recht
bescheiden: Die meisten Reichtümer in der Gesellschaft werden immerhin von
den Männern erzeugt. Zweitens bedingt die o.g. Reproduktion der Spezies
(die unser Verhalten bestimmt), verbunden mit einer größeren
Arbeitseffizienz der Männer, dass diese die Frauen (und Kinder)
unterhalten, und nicht umgekehrt. Auch hier sind die kraftmäßig
Dominierenden nicht so sehr die Ausbeuter, sondern vielmehr die Ausgebeuteten
(soweit in dieser biologischen Situation solche sozialen Termini überhaupt
gelten können). Und schließlich drittens: Die Frauen sind oft
für die Männer nicht so sehr die Quelle des Reichtums, sondern der
Reichtum an sich, und es wird für dessen Verteilung gekämpft. Wenn es
hierbei um die Ausbeutung geht, dann gar nicht im politökonomischen Sinne.
Die Teilung nach Geschlechtern macht somit vor allem die politische, soziale,
kulturelle usw. Diskriminierung der schwächeren Gruppe (Frauen), aber
nicht deren Ausbeutung möglich (wir sollten Diskriminierung nicht mit
Ausbeutung verwechseln). Daher können Klassen auf dieser Grundlage nicht
entstehen. Dafür
passen ethnische, konfessionelle und funktionelle Gruppen bequem in dieses
Prokrustesbett. Jede Ethnie ist durchaus in der Lage, durch die Ausplünderung
einer anderen Ethnie zu leben; kein Gott verbietet den Vertretern einer
Konfession die Vertreter einer anderen Konfession auszuplündern (solange
es diese noch nicht geschafft hat, das Glaubensbekenntnis zu ändern, um
das zu vermeiden); schließlich kann eine bestimmte Funktionsschicht ohne
weiteres alle anderen Funktionsschichten ausbeuten. Der liebe Gott muss ihr nur
genügend Kraft für diese „fromme“ Sache verleihen. Diese
Überlegungen beziehen sich darauf, welche Gruppen imstande sind, die
anderen auszubeuten. Es ist erkennbar, dass es das bei Alters- und
Geschlechtsgruppen aus einem bestimmten Grund nicht der Fall ist (weswegen ich
über diese nicht mehr sprechen werde); bei ethnischen und konfessionellen
Gruppen ist das aus einem anderen Grund nur bedingt möglich. DAS SÜSSE
WORT „GEWINN“[20]
Gehen wir nun dazu über, die Effizienz der Ausbeutung zu vergleichen, die
die drei verbliebenen Gruppen erzielen können. Es ist ja klar, dass die
Gruppierungen bevorzugt werden, die größere Vorteile mit sich
bringen. Wie
bereits erwähnt, kann die Effizienz (sprich die Rentabilität) der
Ausbeutung nach zwei Parametern gemessen werden. Erstens nach ihrer
„Produktivität“, also nach dem Volumen der Güter, die durch eine
bestimmte Gruppe von Ausbeutern der Gesellschaft entnommen werden. Zweitens
nach der „Aufwandsintensität“ der Ausbeutung, also nach dem Kraftaufwand,
der erforderlich ist, um ihr die genannte „Marge“ zu entreißen. Kurz
gesagt, die Buchführung hierbei ist einfach: Einkommen minus Ausgaben
gleich Gewinn; genau darauf orientiert sich jedes Mitglied einer bestimmten
Gruppe, wenn es das Team wählt, wo es mehr Vergnügen bei allen o.g.
Spielen hat. Dabei kümmert sich dieses Mitglied natürlich keineswegs
um das Gesamteinkommen der ganzen Gruppe, um atemberaubende Bruttozahlen der
Eisen- und Stahlproduktion[21],
sondern darum, wie viel von „Brot und Spielen“ ihm persönlich zuteilwerden Aber
wodurch wird bestimmt, wieviel von den „Freuden des Lebens“ auf einen Ausbeuter
entfällt? Das wird natürlich vor allem durch seinen Platz in der
jeweiligen Gruppe bestimmt. Die „Beute“ wird ja nicht gleichmäßig
und fair geteilt. Aber das bezieht sich nicht mehr auf die Effizienz der
Ausbeutung, wo es nur um rein „wirtschaftliche“ Aspekte geht, und zwar um die
o.g. „Produktivität“ und „Aufwandsintensität“. Befassen wir uns also
eingehender mit der Ersteren. DAS SÜSSESTE
WORT „NUTZFAKTOR“ Das Volumen dessen, was an einen konkreten Ausbeuter geht,
ist ceteris paribus direkt proportional zum Volumen dessen, was der
Gesellschaft entnommen wird, und umgekehrt proportional zur Anzahl der
Mitglieder der Ausbeutergruppe. Daher besteht das lebenswichtige Interesse
jedes Ausbeuters darin, einerseits mehr zu entnehmen und andererseits die
Anzahl der „Mitstreiter“ zu reduzieren. Eben danach streben alle. Und
hier stellt sich - erstens - heraus, dass bei weitem nicht alle verbliebenen
Gruppenarten a) bei „Redundanz“ ohne weiteres reduziert werden können (das
bezieht sich z.B. auf Ethnien) oder, noch schlimmer, b) überhaupt imstande
sind, sich in einem zahlenmäßigen Rahmen zu halten; wie oben
erwähnt, leiden darunter die konfessionellen Gruppen, die für alle
Willigen offen sind. Wie soll denn bei einer solchen Lage der gewünschte
Nutzfaktor der Ausbeutung erzielt werden? Aber
es kommt noch besser (hier geben mit Sicherheit nur konfessionelle Gruppen das
Rennen auf). Das Hauptproblem bei der Lösung des genannten Problems ist -
zweitens - das Vorhandensein einer „Kraftbarriere“, die keineswegs
überschritten werden darf. Anderenfalls hat man das Nachsehen anstatt
reicher zu werden. Die genannte „Barriere“ ist ein sehr ernstes Hindernis. Wie
kann man den Nutzfaktor der Ausbeutung erhöhen, ohne sie zu
überschreiten? Praktisch gar nicht. Der einzige Weg besteht darin, die
Arbeitsproduktivität zu erhöhen, aber die hängt von den
Wünschen und Bemühungen der Ausbeuter kaum ab. Alle anderen
eventuellen „Manöver“ stoßen unweigerlich auf die genannte
„Barriere“. So viel man auch experimentiert, z.B. mit der
Vergrößerung der Zahl der Ausgebeuteten oder mit der Erhöhung
der Steuern, alles erfordert eine parallele Stärkung der Ausbeuter, also
wenn man alles andere gleichsetzt, die
Erhöhung ihrer Anzahl. Daher erweist sich in dieser Situation als die
beste diejenige zahlenmäßig kleine Gruppe, die in der Lage ist, an
sich mehr zu erreichen, die also ursprünglich eine niedrigere
„Kraftbarriere“ hat (in Bezug auf ihre Anzahl). Bei wem ist sie denn niedriger? NICHT AUF DAS
WIEVIEL KOMMT ES AN, SONDERN AUF DAS WIE Natürlich bei einer Gruppe, bei
der es nicht auf das Wieviel, sondern auf das Wie ankommt. Es gewinnt nicht
derjenige Feldherr, der mehr Infanterie zur Verfügung hat, sondern
derjenige, der ein paar schwere Maschinengewehre verwendet. Kurz gesagt: Es
gewinnt die Gruppe, deren Kraftüberlegenheit mehr als bei den anderen
Gruppen (oder Gruppenarten) nicht durch Zahlen, sondern durch andere
Kraftfaktoren bestimmt wird. Dabei geht es nicht um zufällige und
vorübergehende Gründe, sondern um deren Natur (sowie um die der
konkurrierenden Gruppen), also um eine natürliche, immanente
Gruppenungleichheit in dieser Hinsicht. Wer sieht hier besser aus: Ethnien oder
funktionelle Schichten? (Ich habe konfessionelle Gruppen aus den o.g.
Gründen aus der Behandlung bereits ausgeschlossen, um Energie zu sparen). Gibt
es etwas in der Natur von bestimmten Ethnien (mit Ausnahme ihrer
größeren Kopfstärke), was ihnen eine stabile
Kraftüberlegenheit gegenüber den anderen Ethnien einräumen
würde? In nennenswertem Maße eindeutig nicht. Alles, was die einen
können, können im Prinzip auch die anderen, insbesondere wenn es um
materielle Faktoren geht. Natürlich gab es in der Geschichte ab und zu
bestimmte Ausbrüche der Angriffslust von
bestimmten Stämmen und Nationalitäten, aber erstens wurden sie gar
nicht durch besondere genetische oder kulturelle Codes dieser Ethnien
verursacht, sondern gewöhnlich nur durch ihren Druck auf den Lebensraum
(also eben durch ihre übermäßige Kopfstärke), und zweitens
endeten diese Aufschwünge immer zwangsläufig mit
Rückschlägen, im Zuge der Umsiedlung von Kriegern dorthin, wo sie
ausreichend Platz hatten, und ihre Spuren wurden vom Staub der Zeiten bedeckt. Gleichzeitig
haben diesbezüglich verschiedene Funktionsschichten wesentliche
Unterschiede. Das Repertoire und das Potenzial von Mitteln und Hebeln, die
ihnen beim Machtkampf zur Verfügung stehen, werden eben durch ihre
Funktionsstellung bestimmt. Somit hat jede Funktionsschicht einerseits ihre
eigenen Mittel und Hebel, andererseits haben die einen mehr und die anderen weniger
davon. Und das alles ist absolut objektiv, eben von Natur aus. Daraus ergibt
sich, dass die relative Kopfstärke von verschiedenen Gruppen dieser Art,
die nötig ist, um die „Kraftbarriere“ zu überwinden, sehr variabel
ist; in einigen Fällen ist sie sehr gering. Die
Verwalter und die Krieger sind überall stabil den Bauern und den
Handwerkern kräftemäßig überlegen, und das ist nicht durch
ihre (Verwalter und Krieger) überwiegende Kopfstärke bedingt (sie
kann sogar relativ klein sein), sondern durch ihr Monopol auf andere wichtige
Kraftfaktoren, die ihnen eigen sind oder die ihnen aufgrund ihrer
Tätigkeit zur Verfügung stehen. Der zahlenmäßige
Unterschied von Ausgebeuteten und Ausbeutern kann also bei der funktionellen
Gruppierung viel größer als bei der ethnischen sein, folglich ist
hier die Effizienz der Ausbeutung bzw. die Attraktivität dieser Art der
Gruppierung für alle höher, die sich nach persönlichem
Wohlbefinden auf Kosten anderer sehnen (und ihre Zahl ist Legion). WESSEN AUFWAND
IST GERINGER? Allerdings bezieht sich das auf die Kopfstärke der
Ausbeuter. Und wie steht es mit dem Aufwand? Um das herauszufinden, muss man
klären, was damit gemeint ist und wie dieser Aufwand sich darstellt. 1) Der
Aufwand ist hier natürlich vor allem mit der Etablierung und
Aufrechterhaltung einer ungerechten Gesellschaftsordnung verbunden, also
erstens mit dem Kraftaufwand, der hierfür nötig ist und der für
verschiedene Gruppen unterschiedlich ist: Den einen „Vergewaltigern“ fällt
es leichter als den anderen, der Gesellschaft ihre Herrschaft aufzuzwingen,
weil sich der Widerstand der „Vergewaltigten“ in seiner Heftigkeit
unterscheidet. 2) Zweitens
ergibt sich der Aufwand aus der fachkundigen Erarbeitung der Ordnung, mit einem
klaren Verständnis davon, wie sie sein sollte, und zwar nicht nur in dem
Sinne, dass es einer Gruppe leichter als der anderen fällt, ihre Vorteile
in dieser Hinsicht zu definieren, sondern auch in dem Sinne, dass es immer
problematischer sein wird, plumpe und schlecht formulierte Pläne
durchzuführen als klare und gut durchdachte. 3) Schließlich
besteht der Aufwand aus der Einführung und Aufrechterhaltung der Ordnung -
vom rein technischen Standpunkt aus betrachtet. Auch hier sind die
erforderlichen Organisationsanstrengungen, der Ressourcenaufwand u. ä. bei
verschiedenen Gruppen unterschiedlich, je nach ihrer Position, ihren
Fähigkeiten, ihrem Organisationsgrad usw. Wer ist dabei hoch zu Ross und wer ist leider nur das Pferd? Hinsichtlich
des ersten Punktes zeigen sich natürlich die funktionellen Gruppen von
ihrer besten Seite. Ein einheimischer Räuber wird immerhin nicht so sehr abgelehnt
wie ein fremder Eindringling. Hinsichtlich Punkt zwei und drei haben diejenigen
Priorität, die im Leben der Gesellschaft stärker verwurzelt sind, die
direkt an ihrem Funktionieren beteiligt sind; diejenigen, die solche Interessen
haben, die in einer bestimmten Gesellschaftsordnung stärker zum Ausdruck
kommen; schließlich diejenigen, die an sich so oder so die Ordnung in der
Gesellschaft einführen und aufrechterhalten (womit sich bekanntlich
Verwalter und „Silowiki“ befassen). In allen diesen Punkten haben funktionelle
Gruppen den Ethnien gegenüber natürlich auch einen riesigen
Vorsprung. Funktionelle
Gruppen erreichen also als erste die Ziellinie (und zwar weit vor den zweiten
und dritten „Läufern“). Eben sie waren die Basis, auf der in der
primären Epoche (als, lassen Sie mich daran erinnern, nur die zuvor
genannten Gruppenarten miteinander konkurrierten) die frühen Klassen und
Unterklassen (d.h. die ersten Klassoide) gebildet wurden. „DER MOHR HAT
SEINE SCHULDIGKEIT GETAN…“ Am Ende möchte ich Sie darauf aufmerksam
machen, dass ich im Grunde rein logisch zu diesem Schluss gekommen bin. Es
bleibt die Frage: Wozu? Es ist ja ohnehin leicht zu erkennen, dass sich die
primäre Klassenbildung in der realen Geschichte auf der Basis der
funktionellen Gruppen abgespielt hat. Ich könnte mir sparen, so scheint
es, all die o.g. komplexen mentalen Konstrukte zusammen zu puzzeln, könnte
den Stier bei den Hörnern packen und unverzüglich historische Fakten
darlegen. Wenn man jedoch eine Theorie entwirft, ist es notwendig, sich vor
allem der Logik zu bedienen. Man sollte nicht einfach Fakten präsentieren
und diese dann im Nachhinein (a posteriori) erklären, sondern man sollte
danach streben, ein Anfangsverständnis dieser Fakten (a priori) zu
erreichen. Hierbei muss man etwas vorhersagen, indem man sich auf bestimmte
Ursachen und Gesetzmäßigkeiten stützt, die in Bezug auf die
genannten Fakten grundsätzlicher Natur sind. Ich habe nach bestem Wissen
und Gewissen versucht, genau das zu tun. Vortrag fünf. DIE
ENTWICKLUNG DER KLASSOID-STRUKTUR DER GESELLSCHAFT ANHALTSPUNKTE Aus
den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich zwei (für die Zwecke
dieses Vortrags) wesentliche Schlüsse. 1) Erstens,
dass die Bildung von Klassen in der Anfangsperiode (d.h. von der Entstehung der
ersten Gesellschaften bis zur Neuzeit) auf der Basis von funktionalen Gruppen
erfolgte. Dies deutet darauf hin, dass die Klassoide in dieser Zeit unter den
für die genannte Epoche charakteristischen funktionalen Schichten gesucht
werden sollten. 2) Zweitens,
dass die funktionale Struktur das Fundament der Gesellschaft ist, so dass (a)
alle anderen bedeutenden gesellschaftlichen Erscheinungen (dazu gehört
natürlich auch die Klassoid-Struktur) auf irgendeine Weise mit der Natur
dieses Fundaments korrelieren müssen und (b) alle entscheidenden
Metamorphosen der Gesellschaft einzig und alleine auf der Basis von (bzw.
infolge von) Änderungen ihrer funktionalen Struktur erfolgen können.
Mit anderen Worten folgt die Klassoid- (einschließlich Klassen-)
Entwicklung der funktionalen Entwicklung und spiegelt diese auf die eine oder
andere Art wider. (Es gibt hierbei natürlich, wie immer bei solchen
Prozessen, auch eine gewisse Rückkopplung). Das gibt uns Anhaltspunkte
für die Erforschung von späteren (bezogen auf die primäre
Epoche) Wechselfällen der Geschichte. ÜBER DIE
PERIODISIERUNG Genauso leicht ist auch das Problem der Periodisierung zu
lösen. Wenn die Entwicklung der Klassoid-Struktur der funktionalen
Entwicklung folgt, muss sie die gleichen Etappen wie diese durchlaufen. Ich
habe bis jetzt in der Geschichte der Menschheit zwei Etappen festgestellt, in
denen sich die funktionale Struktur der Gesellschaft entwickelte, und habe sie
nach der Produktionsart benannt, die in der entsprechenden Epoche vorherrschend
war: Die Landwirtschaftsepoche (oder, anders gesagt, die Periode, in der die
Produktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen vorherrschte) und die Epoche
der Industrieproduktion (also die Periode der vorherrschenden Produktion von
Industrieerzeugnissen). Die Entwicklungsstufen der Klassoid-Struktur
müssen formal (jedenfalls zeitlich) mit diesen Perioden zusammenfallen
(und das ist tatsächlich der Fall). Allerdings sind Klassoide keine funktionellen Schichten. Daher
unterscheiden sich auch die Entwicklungsstufen der Klassoid-Struktur von den
Entwicklungsstufen der funktionalen Struktur. Die Erstgenannten haben andere
Merkmale und sollten auch anders (nicht als landwirtschaftliche und industrielle
Entwicklungsstufen) bezeichnet werden. Was deren Wesen ist und wie sie richtig
genannt werden sollten, werden wir im Laufe der konkreten Behandlung
klären, die ich nun beginne. 1. Die erste Stufe ANWÄRTER DER
ERSTEN PERIODE Die erste Periode der Entwicklung von Klassen und „Unterklassen“
entspricht nach allen oben genannten Voraussetzungen der Landwirtschaftsepoche.
Das ist die primitivste Periode, sowohl im Hinblick auf die Entwicklung der
funktionalen Struktur der Gesellschaft, als auch in vielerlei anderer Hinsicht.
Die Gesellschaft gliedert sich hierbei im Wesentlichen in zwei Teile: Bauern
und Verwalter. Alle anderen funktionalen Schichten stecken noch in den
Anfängen und sind zahlenmäßig sehr klein. Nur in einzigartigen
Gesellschaften mit besonderen Existenzbedingungen weisen sie eine bedeutende
Entwicklung und Massenhaftigkeit auf. Aber das ist, wie bereits erwähnt,
kein Gegenstand der allgemeinen Theorie, nach der sich in dieser Epoche nur
Bauern und Verwalter entwickeln. In der Anfangsphase gibt es also nur zwei potenzielle Klassoide. Jeder
davon stellt eine im Wesentlichen innerlich einheitliche Funktionsschicht dar
(das gilt insbesondere für die Bauern). Es sind nicht etwa einige
verschiedene wie in den späteren Epochen, geschweige denn, dass es sich
bei ihnen um etwas Überfunktionales handelt, wie wiederum in späterer
Zeit. Der Grund dafür, ich wiederhole das, ist die Primitivität der
funktionalen Struktur der frühen Gesellschaften. DIE BASIS DES
PRIMITIVISMUS Und worin hat diese Primitivität ihre Ursache?
Natürlich ergab sie sich aus der Primitivität der anfänglichen
Produktion. Die Produktion war bereits entstanden und verursachte die Bildung
der Gesellschaft. Es erfolgte eine gewisse funktionale Differenzierung von Menschen,
bei der Verwaltungsspezialisten eine separate Position einnahmen. Die
Produktion konnte jedoch damals darüber hinaus nichts mehr hervorbringen:
Das Niveau der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung war noch äußerst niedrig. Die Klassoide konnten nur
auf der Grundlage der beiden o.g. funktionalen Schichten existieren und fielen
sogar direkt mit ihnen zusammen (im Weiteren trennten sich die funktionalen und
die Klassoid-Strukturen, wie wir sehen werden). DER CHARAKTER DER
PRODUKTION Ich habe allerdings bisher nur auf das mangelnde Potenzial der
anfänglichen Produktion hingewiesen, also auf deren Unfähigkeit, eine
nennenswerte gesellschaftliche Arbeitsteilung zu sichern. Es handelt sich
hierbei um eine besondere quantitative Bewertung ihrer Primitivität. Aber
was sind die qualitativen Eigenschaften dieser Produktion? Die Primitivität der ursprünglichen Produktion kam darin zum
Ausdruck, dass sie erstens, wie ich sagte, vor allem landwirtschaftlich
geprägt war und zweitens (und das ist für uns am wichtigsten) im
Rahmen der Naturalwirtschaft ausgeführt wurde. All die wenigen
lebensnotwendigen Produkte in dieser Epoche produzierten die Bauern praktisch
allein. Das Handwerk steckte noch in den Kinderschuhen und spielte eine
nebensächliche Rolle; außerdem befriedigte es nicht die Bedürfnisse
der Bauern, sondern vor allem die der Verwalter. Man kann also schlussfolgern,
dass die zuvor beschriebene zweiteilige Klassoid-Struktur der primären
Gesellschaften letztlich nichts anderes als den nicht spezialisierten Charakter
der Produktion dieser Epoche (Naturalwirtschaft) widerspiegelte. Die Produktion
war damals eben deswegen nicht in der Lage, eine entwickelte gesellschaftliche
Arbeitsteilung zu erzeugen, weil sie selbst in dieser Hinsicht nicht
spezialisiert, sondern homogen war. DIE TRÄUME DER
BAUERN Es gibt also zwei hypothetische Bewerber für eine Klasse mit einem
speziellen (in diesem Fall funktionalen) Status und den sich daraus ergebenden
besonderen Interessen in Bezug auf die Gesellschaftsordnung. Worin bestehen
diese Interessen? Ich beginne mit den Bauern. Worin liegt ihr wirtschaftliches Interesse,
also wie sollte nach ihrer Meinung (die sich aus ihrem Sein in der
Naturalwirtschaft ergibt) die optimale Wirtschaftsordnung sein? Natürlich
sollte sie am besten folgendermaßen aussehen: Erstens sollten die Bauern
Alleinherren in ihrer Wirtschaft sein, keiner sollte ihnen etwas zu sagen haben
und niemand sollte sie stören dürfen, und zweitens sollten die Bauern
alles, was sie produzieren, selbst verbrauchen können, ohne es mit jemandem
teilen zu müssen. Es wäre natürlich nicht schlecht, irgendjemand
an einem anderen Ort auszuplündern, wenn sich eine günstige
Gelegenheit dazu böte, aber nur gelegentlich, weil man sonst leider
aufhören müsste, Bauer zu sein, wenn man jemanden
regelmäßig berauben wollte: Man müsste lernen zu kämpfen
und sich von der landwirtschaftlichen Tätigkeit in der heißesten
Phase des Jahres abwenden, eben dann, wenn „ein Tag das ganze Jahr
füttert“[22]
usw. Das wirtschaftliche Interesse der Bauern (solange sie wirklich Bauern
sind) besteht also darin, dass niemand sie an ihrem Geschäft als Landwirte
hindert und dass niemand ihnen die Produkte ihrer Arbeit wegnimmt. Ihr Ideal
besteht darin, allein zu sein mit ihrer Arbeit und den Früchten dieser
Arbeit auf ihren Höfen, oder wenn es - im schlimmsten Fall - gar nicht
anders geht, in Siedlungen mit einem überschaubaren Umfang, wo alle
Probleme entweder entsprechend der Tradition oder auf einer
Gemeinde-Versammlung mühelos gelöst werden. Und tasten Sie bitte diese
Harmonie nur ja nicht an! Darüber hinaus ist den Bauern alles egal, denn
in ihrem Leben gibt es eben kein „darüber“. Und welches sind ihre politischen Interessen, die über die oben
beschriebenen Lösungen von gemeindebezogenen Problemen im Rahmen und mit
den Mitteln der primitiven direkten Demokratie hinausgehen? Diese bestehen
darin, dass die Bauern im Idealfall überhaupt keine anderen Machthaber
brauchen. Das Allerbeste wäre, wenn es niemand gäbe, der sich
einmischt, raubt, herumkommandiert. Als selbstständige Hersteller von
allem, was sie brauchen (und zwar nur davon, ohne Ausrichtung auf einen
nennenswerten Austausch von Produkten), also als Menschen, die in ihrem
Lebensunterhalt nur von der Natur und ihrer persönlichen Arbeit,
höchstens noch von den nächsten Nachbarn abhängen, brauchen die
Bauern keine Verwaltung außerhalb der Gemeinde, keine politische Macht.
Sie sind von Natur aus Anarchisten. Die politische Lehre des Anarchismus ist in
erster Linie die Widerspiegelung von bäuerlichen Ansichten bezüglich
des Staates, der Macht außerhalb der Gemeinde: Wozu braucht man ihn
überhaupt? Und selbstverständlich hatte der Anarchismus als
politische Strömung in der Praxis nur eine Bedeutung in bäuerlich
geprägten Ländern (in Europa waren das Russland, Italien und
Spanien). DAS KLEINERE
ÜBEL Jedoch ist das nur ein Ideal, das leider nicht erreichbar ist. Die
harte Realität korrigiert, wie immer, die süßen Träume der
„Idioten“. Es wäre gut für die Bauern, nur mit ihrem Stück Land
und sonst mit nichts und keinem zu tun zu haben, aber außer der
natürlichen Umgebung gibt es leider noch die soziale. Es stellt sich
heraus, dass es immer jemand gibt, der raubt, verwüstet, bei der Arbeit
stört usw. Und diese Bastarde kommen nicht etwa einzeln, es erscheinen
ganze Banden von ihnen und sie sind durch die Einwohner einer separaten
Siedlung (oder sogar einer ganzen Gruppe von Siedlungen) nicht zu
bewältigen. In diesem Zusammenhang macht sich für die Bauern ein
gewisser Außenschutz erforderlich, eine bestimmte Ordnung, die jemand von
außen sichert, sei sie auch unvollkommen, wenn sie zumindest akzeptabel
ist. Es fragt sich: Warum von außen? Warum können die Bauern diese
Sache nicht selber übernehmen? Die Antwort lautet: Weil sie dafür
weder Kraft, noch Geschlossenheit, noch Ressourcen, noch Fertigkeiten haben.
Sie können sich einfach nicht schützen, ohne aufzuhören, Bauern
zu sein. Entweder ein Säbel in der Hand oder ein Pflug. Und das
Phänomen „Kosakentum“ widerlegt das nicht. Saporoska Sitsch war ein Sammelort von Kriegern, nicht von Bauern;
das gleiche gilt für die Banden von Stenka Rasin. In allen anderen
Fällen, in denen die Kosaken wirklich ihr landwirtschaftliches Wesen
pflegten, existierten sie mit Sicherheit nicht einsam und allein, sondern beim
Staat, als sein besonderer Dienststand. Ohne Unterstützung des Zaren, der
ihnen die Wehrpflicht und den Grenzdienst auferlegt hatte, wären die
Kosaken samt ihrem Stück Land schnell durch einen der zahlreichen
umherschweifenden Räuber gefressen worden. Deshalb lässt sich die lebensnaheste Version der bäuerlichen
politischen Interessen darin zusammenfassen, einen Gönner zu finden, der
die Bauern gegen eine mäßige Gebühr schützt. Mit anderen
Worten: Es ist der Traum von einem „guten Zaren“. DIE TRÄUME
DER VERWALTER IM ALLGEMEINEN Das sind die Interessen der Bauernschaft, die
durch ihre Position in der Gesellschaft und bei der Produktion bestimmt werden.
Über die Interessen der Verwalter schreibe ich hier nur kurz und ganz
allgemein, weil sie der Gegenstand eines extra Vortrags sind. Eben diese Schicht
bestimmte, wie wir bald sehen werden, die Gesellschaftsordnung der zu
behandelnden Epoche. Daher werden wir über den konkreten Inhalt ihrer
Interessen dann im Detail reden, wenn wir die Gesellschaftsordnung dieser
Epoche behandeln. Vorerst stelle ich nur ihre abstrakte „Normalität“ fest. Ich meine
damit den gleichen „Gentleman-Set", der jeder Gruppe eigen ist. Wie alle
normalen Menschen, sind die Verwalter natürlich in erster Linie daran
interessiert, das Sozialprodukt zu ihren Gunsten neu zu verteilen. Dabei werden
die wichtigsten Produzenten dieses Produkts, die Bauern - und bei Gelegenheit
auch alle anderen - beraubt. Es wird vor allem Kraft (und folglich eine
besondere Ordnung der Verteilung ihrer Faktoren) benötigt, um eine stabile
Dominanz der Verwalter zu gewährleisten. Eben für diese Ordnung
kämpfen sie (gegen die Bauern, wen sonst?), eben diese Ordnung versuchen
sie zu etablieren. Aber gelingt es ihnen? Das hängt vom
Kräfteverhältnis dieser Klassoide ab. DAS
KRÄFTEVERHÄLTNIS Dieses Kräfteverhältnis ist natürlich
voll und ganz eines zugunsten der Verwalter. Die Bauern als Gruppe sind viel
schwächer als sie, wenn auch viel zahlreicher. Worin besteht die Schwäche
der Bauern und die Stärke der Verwalter? Ich werde die wichtigsten Punkte
aufzählen, die ausreichend sind, um eine garantierte Vorherrschaft zu
gewährleisten. Erstens haben die im Rahmen der Naturalwirtschaft arbeitenden Bauern eben
wegen dieser Art des Wirtschaftens nichts miteinander zu tun; sie existieren
abgesondert und sind zu einer dauerhaften, umfassenden, weit über ihre
Haushalte hinausgehenden Vereinigung unfähig. Ihre ganze Lebensweise
verhindert das. Jeder Bauer lebt und stirbt für sich allein, und darum
fällt es leicht, sie einzeln zu vernichten. Natürlich übertreibe ich ein wenig, um ein theoretisches Ideal zu
schaffen: In der wirklichen Geschichte wirtschafteten die Bauern bei weitem
nicht in allen Gesellschaften allein auf ihren Höfen. Viel häufiger
ließen sie sich zusammen nieder, bildeten Siedlungen, in denen entsprechende,
manchmal sogar recht zahlreiche Gruppen entstanden. Das ändert jedoch das
Bild nicht grundlegend. Auch in diesen Fällen gab es keine wirkliche
Verbindung zwischen den Gemeinschaften, und der größte Teil der Bauernschaft
blieb abgesondert. Die Verwalter dagegen sind schon durch den Charakter ihres Berufes vereint.
Ihre Aufgabe ist es, die Gesellschaft zu ordnen. Das erfordert von ihnen, wie
oben erwähnt, sowohl (a) einen gewissen Organisationsgrad, d.h.
Eigenschaften wie z.B. Vollzugsdisziplin, die Gewohnheit, sich unterzuordnen
und Befehle zu geben, usw. und (b) eine Organisation, d.h. einen hierarchisch
strukturierten Apparat. Somit stellen sie immer eine geballte Faust dar. Zweitens sind die Bauern schlechte Krieger: Sie haben keine
militärischen Fertigkeiten, die ja bei ihren wirtschaftlichen
Aktivitäten einfach nutzlos sind und nicht geübt werden. Die Bauern
haben weder Zeit noch Möglichkeit, diese Fertigkeiten zu entwickeln. Die
Verwalter dagegen übernehmen häufig auch die Funktion des Schutzes
vor externen Bedrohungen (manchmal ist das sogar ihre Hauptfunktion). Auch bei
ihren eigenen beruflichen Aktivitäten müssen sie zwangsläufig
Gewalt anwenden. Wie sollte man ohne Zwang verwalten? Gewaltorgane sind
erforderlich, um in jeder Gesellschaft die Ordnung herzustellen und
aufrechtzuerhalten. Daher gibt es unter den Verwaltern fast immer
Gewalteinheiten oder die Verwalter sind zugleich Sicherheitskräfte (vor
allem in den frühen Stadien) und können sich ohne weiteres
militärische Fertigkeiten aneignen und diese ausüben. Drittens ist außer den o.g. Fertigkeiten natürlich auch der
tatsächliche Besitz von Waffen wichtig. Offensichtlich ist ein Bewaffneter
stärker als ein Unbewaffneter. Auch in dieser Hinsicht ziehen die Bauern
den Kürzeren. Ihre natürlichen Arbeitswerkzeuge können schlecht
als Instrumente des Krieges und des Mordes dienen. Dagegen sieht es bei den
Verwaltern, die durch die Art ihrer Beschäftigung Verteidiger und
Hüter der Ordnung sind, auch hier bestens aus. Waffen sind ja gerade ihre
Arbeitswerkzeuge. Außerdem ist viertens wesentlich, wer über welche Ressourcen
verfügt. Die Bauern haben in ihrem Gepäck nur
das, was sie produzieren und was ihnen versehentlich noch nicht weggenommen
worden ist. Mit solchem Gepäck kann man keine großen Sprünge
machen. Für schwere Kämpfe und längere militärische
Aktionen reicht das nicht aus. Die Verwalter dagegen verfügen in der Tat
über alle gemeinsamen Ressourcen der Gesellschaft: Sie sind ja ehedem
beauftragt worden, die gemeinsamen Angelegenheiten zu verwalten. Ganz zu schweigen
davon, dass die Verwalter als Sicherheitskräfte auch an anderen Orten
durch Raub etwas „verdienen" könnten, wenn sie Muße dafür
haben. Schließlich ist fünftens die Tatsache an sich wichtig, dass die
Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung der Beruf der Verwalter ist. Das
spielt einerseits als Rechtfertigung ihres Machtanspruchs eine Rolle
(nämlich des Anspruchs darauf, dass alle sich ihren Anweisungen und ihrem
Willen unterordnen), und andererseits als eine weitere Fertigkeit, die sie besitzen,
diesmal eine rein administrative. Für die Bauern liegen all diese Dinge
außerhalb ihres Verständnisses und ihres Könnens. Sie sind
lediglich dazu in der Lage, die durch die Verwalter hergestellte Ordnung zu
verwünschen, ohne etwas Besseres vorschlagen zu können. Kurzum, die Verwalter sind in jeder Hinsicht stärker als die
Landwirte. Daher ist die Vorherrschaft der Verwalter in den Gesellschaften mit
der beschriebenen Klassoid-Struktur (einschließlich Sowjetrussland)
selbstverständlich. Letztlich können nur die Verwalter einerseits
zumindest eine gewisse Ordnung überhaupt herstellen (und das tun sie auch
mit Gewalt). Andererseits etablieren sie eben die Ordnung, die (a) ihre Macht
und (b) die Verteilung des hauptsächlich durch die Bauern produzierten
gesellschaftlichen Reichtums zu ihren Gunsten sichert. DER JÄGER
UND DER HASE: WAS IST EINE KLASSE UND WAS EINE „UNTERKLASSE“? Daher sind in der
Anfangsepoche unter zwei Anwärtern nur die Verwalter eine Klasse. Nur sie
entsprechen in allen Merkmalen deren Definition, während die Bauern die
Definition einer Klasse deutlich verfehlen. Erstens sind sie nicht in der Lage, die Macht in der Gesellschaft mit
Gewalt zu erhalten. Die Bauern sind höchstens imstande, sich in einem
Aufstand zu erheben und bestimmte Verwalter zu stürzen. Das passierte auch
dann und wann in der Geschichte, vor allem in
den Regionen mit kollektivistischer Mentalität, z.B. in China, wo die
Bauern (kraft dieses Kollektivismus) am ehesten in der Lage waren, sich im großen Stil zusammenzuschließen. Aber
alle diese siegreichen Bauernaufstände endeten natürlich nur damit,
dass im Ergebnis deren Führer und ihre engsten Mitkämpfer zu neuen
Verwaltern wurden und wieder eine Ordnung etablierten, die die Verwalter
begünstigte. Im Höchstfalle war diese Ordnung am Anfang ein wenig
weicher als die vorherige. Zweitens taugt die Ordnung, die die Bauern benötigen würden, an
sich nichts. Ihre politischen Interessen sind unerfüllbar, und zwar nicht
nur diejenigen, die ihr Ideal sind, sondern sogar die Minimalvarianten. Eine
anarchische Struktur der Gesellschaft ist pure Utopie in einer recht komplexen
Gesellschaft, die ein zentralisiertes Ordnungssystem erfordert, weil die
Ordnung diesen Anforderungen widerspricht, und in einer
primitiv-landwirtschaftlichen Gesellschaft, weil diese den vorliegenden Realitäten
widerspricht. Eine mehr oder weniger bedeutende selbstverwaltende
Bauerngemeinschaft kann erstens überhaupt nicht stabil funktionieren, weil
nämlich die Bauern aufgrund ihrer unvermeidlichen Gestaltlosigkeit zu einer
effektiven Selbstverwaltung nicht fähig sind. Zweitens wäre eine
solche Gemeinschaft zu schwach, um im Laufe einer längeren Zeit den
externen feindlichen Angriffen zu widerstehen. Aber auch das Konzept des „guten Zaren" ist nicht viel besser, weil es
gute Zaren eben einfach nicht gibt. Alle Zaren können ihre Macht nur
insoweit ausüben, als sie von den Bojaren und vom Adel unterstützt
werden (Sie können sich doch nicht auf die schwachen, ausgeplünderten
Bauern stützen!). Daher sind die Zaren gezwungen, die erste Regel zu
befolgen, nämlich nichts zu tun, was den Interessen ihrer „Stützen“
drastisch widerspricht. Wäre der Zar an sich auch ein äußerst
guter Mann, es gibt keine Alternative: Entweder muss er den Plünderungen,
der Gewalt und der Korruption der Vertreter seiner Klasse mit Nachsicht
begegnen oder er wird gestürzt. In dieser Lage überleben nur die
„bösen Zaren", d.h. die, die „böse“ agieren, egal, ob sie sich
als „gut“ positionieren und sich angeblich um ihre Untertanen kümmern
(wobei die Zaren verständlicherweise in der Regel auch sonst keine Leute
sind, die schrecklich leiden, wenn sie jemandem etwas Böses angetan
haben). Im
Hinblick auf die o.g. Mängel sind die Bauern keine Klasse, sondern nur
eine „Unterklasse“. DER
ALLMÄHLICHE CHARAKTER DER MACHTERGREIFUNG Aber zurück zur
gesellschaftlichen Machtergreifung durch die Verwalter. Natürlich handelt
es sich hierbei nicht um einen plötzlichen Akt. Wenn die Sache vom
Standpunkt der allgemeinen Theorie aus behandelt wird, die fremde Eroberungen
als Gegenstand der Theorie der Wechselwirkungen von sozialen Gebilden
ausschließt (allerdings ist es auch bei Eroberungen komplizierter, als es
bei flüchtiger Betrachtung scheint), erfolgt die natürliche (und umso
mehr die primäre, die älteste) Wandlung der Verwalter von
bloßen Funktionsträgern, die einfach die Verwaltungsfunktion in der
Gesellschaft ausführen, zu herrschenden Machthabern über einen
längeren Zeitraum und allmählich, unmerklich, in kleinen Schritten.
Erstens geschieht das im Anschluss an die genauso allmähliche und
unauffällige Entwicklung der Verwalter selbst, dadurch, dass sie immer
mehr Kraft, Ressourcen und Vollmachten ansammeln. Zweitens findet das im
Anschluss an ihre Verwandlung aus einer Klasse an sich in eine Klasse für
sich statt, d.h. einerseits im Anschluss an die Erkenntnis (a) der
Besonderheiten ihrer Position in der Gesellschaft, (b) der Möglichkeiten,
ihre egoistischen Interessen zu befriedigen, die sich daraus ergeben, und (c)
der Gemeinsamkeit ihrer Gruppeninteressen. Andererseits wird diese Erkenntnis
durch den Zusammenhalt der Verwalter im Kampf um die Realisierung der genannten
Möglichkeiten gefestigt. Und schließlich drittens geschieht die o.g.
Verwandlung im Anschluss an die gleichzeitige, genauso allmähliche
Umformung der regierten Gesellschaft selbst, die sich daran gewöhnt, nach
den neuen Regeln zu leben, wobei die die Verwalter begünstigende Ordnung
nach und nach für natürlich und legitim gehalten wird. Dies erfolgt
insbesondere bei einem Generationenwechsel. Mit anderen Worten, die oben genannte Machtergreifung ist kein politischer
Umsturz, ist keine Revolution, sondern eine Evolution, eine schleichende
(objektive und subjektive) Entartung sowohl der Verwalter selbst, als auch der
von ihnen verwalteten Gesellschaft und deren Ordnung. Eines Tages erwacht die
Bevölkerung und begreift, dass sie tatsächlich unter der Faust ihrer
„Diener“, sprich, jetzt ihrer Führer, lebt. Im Ergebnis erhält diese
Klasse einen ganz neuen Charakter: Sie ist nun nicht nur in der Lage, die Macht
zu ergreifen, sondern ist in Wirklichkeit zur herrschenden Klasse geworden, die
das Herrschaftspotenzial realisiert hat. BÜROKRATEN
UND BEAMTE Es gibt also zwei Zustände, in denen sich die Klasse (oder, in
einem anderen Koordinatensystem, die Funktionsschicht) der Verwalter befinden
kann (und das war in der Geschichte tatsächlich so). Das sind (1) die
Verwalter ohne Macht (es spielt hierbei keine Rolle, aus welchem Grund, ob sie diese noch nicht erlangt
oder als Folge einer demokratischen Revolution bereits verloren haben) und (2)
regierende Verwalter. Die Ersteren nenne ich „Beamte“ und die Letzteren
„Bürokraten“. Nach ihrer funktionalen Rolle sind beide natürlich
Verwalter, nach ihrem sozialen Status eine Klasse (und zwar ein und dieselbe).
Der Unterschied zwischen ihnen liegt nur in ihrer Beziehung zur Macht und ihrer
entsprechenden Position in der Gesellschaft – entweder als ihre Diener oder als
ihre Herren. Und sicher ist dieser Unterschied genauso verschwommen wie die
natürliche historische Transformation der Ersteren in die Letzteren: Es
lassen sich hierbei nur die Punkte des Prozesses ihrer Verwandlung aus einer
Larve (Diener) in einen Schmetterling (Herren) klar definieren, die nicht zur
Übergangszeit gehören. Im Rahmen dieser Übergangszeit hingegen
muss man relative Begriffe, wie z.B. „eher ja als nein", „vielmehr"
usw. verwenden. DER UNTERSCHIED
ZWISCHEN DEN ETAPPEN Die Machtergreifung in der Gesellschaft durch die
Verwalter bedeutet nicht nur ihre Verwandlung von Beamten in Bürokraten,
sondern auch eine besondere Organisierung dieser Gesellschaft, d.h. die
Etablierung einer bestimmten (bürokratischen) Ordnung. Sie leitet sich natürlich
direkt aus der Klassoid- und, weiter, aus der funktionalen Struktur dieser
Gesellschaft ab. Die Letztere bestimmt hierbei die Erstere, und diese wiederum
bleibt nichts schuldig und bestimmt durch das Verhältnis von Klassoiden,
wer im Moment der Herr ist und damit den Charakter der entsprechenden
Gesellschaftsordnung. Diese Abhängigkeit bedeutet
einerseits, dass jeder Entwicklungsstufe der funktionalen Struktur eine eigene
Entwicklungsstufe der Klassoid-Struktur und dieser wiederum eine entsprechende
Stufe der Gesellschaftsordnung entspricht. Die bürokratische
Gesellschaftsordnung ist lediglich die erste Stufe dieser Leiter. Andererseits betone ich, dass es sich
um eine Abhängigkeit von in ihrem Wesen verschiedenen Objekten handelt:
Die Funktionsstruktur unterscheidet sich von beidem, von der Klassoid-Struktur
und von der Gesellschaftsordnung. Daher unterscheiden sie sich auch in ihren
Entwicklungsstufen. Man sollte hinzufügen, dass diese Stufen überdies nicht
notwendigerweise zeitlich zusammenfallen. Die Machtübernahme in der
Gesellschaft durch einen der Klassoide z.B. findet immer mit einer gewissen
Zeitverzögerung nach der Herausbildung der Klassoid-Struktur statt. Damit
jemand die Gesellschaftsordnung gewaltsam zu seinen Gunsten ändern kann,
ist es zunächst notwendig, dass dieser Jemand nicht wie Phönix aus
der Asche neu ersteht, sondern bis zum gewünschten Zustand reift, und sich
dazu, so weit wie möglich, in eine Klasse für sich verwandelt. Die
o.g. Verwalter müssen auch, wie zuvor erwähnt, zumindest eine Zeit
lang als einfache Beamte gewisse Härten überstehen. DER BEGRIFF EINER
FORMATION (GESELLSCHAFTSORDNUNG) Wir haben es also mit einer weiteren,
besonderen Entwicklungsstufe der Gesellschaft zu tun, wo es nicht um
funktionale oder Klassoid-Strukturen, sondern um spezielle Typen von Ordnungen
geht. Diese Entwicklungsstufen der Gesellschaft, die mit der Vorherrschaft von
besonderen Klassen zusammenhängen, werden Formationen und die Entwicklung
der Gesellschaft von einer Ordnung zur anderen wird Formationsentwicklung
genannt. Wir behandeln zunächst die primäre Entwicklungsetappe mit
der Vorherrschaft der Bürokratie mit den ihr eigenen Interessen und ihrem
Willen. Man sollte also hierbei von einer „bürokratischen Formation“
reden. (Ich erkläre noch einmal: Ich behandelte oben die erste
Entwicklungsstufe der funktionalen Struktur der Gesellschaft und nannte diese
„landwirtschaftlich“; dann ging es um die entsprechende Entwicklungsstufe der
Klassoid-Struktur, und ich nannte diese die „Etappe der Naturalwirtschaft“; nun
rede ich von der ersten Entwicklungsstufe der Gesellschaftsordnung und nenne
diese Ordnung nach ihrem Demiurg „bürokratisch“ und diese Etappe ihrer
Entwicklung - die „bürokratische Formation“). 2. Die zweite Etappe im
Allgemeinen DIE FUNKTIONALE
STRUKTUR DER NEUEN EPOCHE Setzen wir aber nun unseren historischen Exkurs fort.
Zuerst frischen wir unser Wissen von der Konstellation der funktionellen
Gruppen in der postlandwirtschaftlichen Periode auf. Wer steht dabei im
Blickfeld? Von den neuen und bedeutenden Schichten sind das, soweit ich mich
erinnern kann, vor allem Industriearbeiter verschiedener Richtungen, angefangen
mit den direkten Produzenten der Industriegüter bis hin zu verschiedenen
Ingenieuren, Technikern, Produktionsmanagern usw. (in der Zeit der entwickelten
Industrie). Dann finden sich auch in der Infrastruktur Tätige, d.h.
diverse Beschäftigte in der Zirkulation der oben genannten Industrie- und
landwirtschaftlichen Erzeugnisse: Transportarbeiter, Straßenbauer,
Vermarkter, Lagerarbeiter etc. sowie Mitarbeiter der Finanzsphäre, die die
im Zusammenhang mit der Entstehung eines entwickelten Austausches auftretenden
Zahlungsströme regeln. Von den alten Schichten bevölkern in dieser Zeit nach wie vor die
schon dagewesenen Agrarbeschäftigten (Landwirte und Viehzüchter) und
Verwalter des gesellschaftlichen Lebens (nicht der Produktion) die Welt. Jetzt
sind sie jedoch sehr differenziert, also hochspezialisiert auf einzelne Arten
der landwirtschaftlichen und der Verwaltungstätigkeit. Schließlich erscheinen hier in embryonaler Form, von den
unbedeutenden neuen Schichten (hinsichtlich der Anzahl und der Qualität),
Fachleute in den Bereichen der Bildung, Medizin, Wissenschaft, Kultur, der
persönlichen Dienstleistungen usw. DIE BASIS UND IHR
CHARAKTER Wo ist all diese „Pracht“ hergekommen? Natürlich ist sie
aufgrund einer viel weiter fortgeschrittenen, d.h. hocheffektiven und komplexen
Produktion entstanden (verglichen mit der vorangegangenen landwirtschaftlichen
Periode). Diese Entwicklung ist es, die jene „Lebensfeier“ bezüglich der
vorhandenen Ressourcen und der technischen Differenzierung ermöglichte.
Die oben beschriebene funktionale Arbeitsteilung ergibt sich weniger aus dem
gesellschaftlichen Sein, sondern vielmehr aus der direkten Produktion. Vor
allem in der Produktion findet die Schichtung statt und die Spezialisierung auf
Hunderte und Tausende von verschiedenen Berufen (das bedeutet eine immer engere
Kooperation). Die Mehrheit der wichtigsten Funktionsschichten dieser Epoche
sind die Arbeitnehmer aus verschiedenen Sektoren und Teilsektoren der Industrie
und, in geringerem Maße, aus der sie nachahmenden Landwirtschaft. Es ist also offensichtlich, dass
hierbei alles auf der Produktion basiert. Sie hat erstens einen dominierend
industriellen und zweitens einen stark differenzierten, d.h. komplexen und hoch
spezialisierten Charakter. Das findet seinen direkten Ausdruck in der enormen
Mannigfaltigkeit funktioneller und Berufsgruppen (im Vergleich zur Vorperiode)
und erzeugt indirekt eine begleitende erhöhte soziale Schichtung, die
nicht produktionsbezogen ist. Und was ergibt sich daraus im Bereich des sozialen
Aufbaus? DER BEDARF AN
ÜBERFUNKTIONALITÄT Die erste für uns wichtige offensichtliche
Folge der gesteigerten gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist die relative
Verminderung von Funktionsschichten (im Vergleich zur Größe der
gesamten Gesellschaft). Dort, wo sich nur die riesengroße homogene Masse
der Bauern träge im Wind der Geschichte bewegte, wuseln nun Tausende von
unterschiedlichen Gruppen und Grüppchen herum. Der Gesellschaftsfluss
teilte sich im funktionalen Sinne in eine Vielzahl von getrennten Bächen,
und jeder davon ist für sich genommen (wegen seiner offenbaren relativen
Begrenztheit und Schwäche) nicht mehr in der Lage, einen Anspruch auf die
Vorherrschaft in der Gesellschaft zu erheben, d.h. darauf, die Rolle einer
Klasse oder zumindest einer Unterklasse zu spielen. Mit anderen Worten bedeutet das, dass
die Funktionalität und die „Klassoidizität“ in dieser Epoche der
totalen Spezialisierung und des allgemeinen Auseinanderklaffens nicht mehr so
eng verflochten waren wie in der naiven Zeit der primären Gesellschaft,
als diese nur aus zwei Teilen bestanden hatte. Die Funktionsschichten fielen
mit den Klassoiden nicht mehr zusammen. Daraus ergibt sich, dass die Menschen,
die das Niveau der Klassoide erreicht hatten, sich aus anderen, nicht
funktionalen Gründen gruppierten. Das erforderte eine gewisse
überfunktionale Gemeinsamkeit von Interessen, eine überfunktionale
Vereinigung. Dies
bezieht sich insbesondere auf neue Schichten, die im professionellen Sinne am
stärksten fragmentiert sind; allerdings ist das bei allen Gruppen der
Fall, die keine besonderen Einheiten von Verwaltern sind. Nur die Letzteren
leiden praktisch gar nicht an ihrer beruflichen Schichtung. Trotz einer
Differenzierung nach den Arten ihrer Verwaltungsarbeit sind sie so oder so
gezwungen, sich im Rahmen der von ihnen verwalteten Gesellschaft zu einem
einheitlichen Apparat mit all seinen innewohnenden „Reizen“ in Form der Leitung
durch Einzelne, hierarchischer Unterordnung usw. zu strukturieren. Bei den
Nicht-Verwaltern jedoch wird ihre Streuung über einzelne Sektoren und
Berufe durch nichts kompensiert. Sie müssen die Gründe für ihre
soziale Konsolidierung (mit dem Ziel, für die Einführung der ihnen
gemäßen Ordnung zu kämpfen) anderweitig finden, nicht in ihrer
gemeinsamen Funktionsstellung, sondern in anderen Gemeinsamkeiten und
Interessen, die ganze Blöcke von Fachgruppen vereinen. Was könnte
hierin zum Ausdruck kommen und was kommt tatsächlich zum Ausdruck? DIE TOTALE WECHSELSEITIGE ABHÄNGIGKEIT Den Ausweg aus der Sackgasse weist den Menschen wiederum die
intensive Arbeitsteilung, die sie vorher erst dahin gebracht hatte, genauer
gesagt, der durch sie erzeugte hohe Spezialisierungsgrad unter den Produzenten.
Er wird unvermeidlich durch eine vitale Abhängigkeit der hoch Spezialisierten
voneinander begleitet. Natürlich verursacht ihre Konzentration auf die
Herstellung eines bestimmten Produkts (z.B. Nägel oder Seife) einen
enormen Anstieg der Arbeitsproduktivität in diesem Bereich (und das ist
die notwendige Bedingung für die Existenz der entsprechenden Produktion).
Allerdings hat das auch eine negative Folge: Keiner dieser Teilproduzenten kann
sich erstens durch seiner Hände Arbeit mit allen lebensnotwendigen
Produkten versorgen. Jeder produziert nur eines davon und kann die anderen Produkte
jeweils nur von anderen Tätigen erhalten, die genauso wie er hoch
spezialisiert sind und fremde Produkte benötigen. Zweitens gibt es eine
ähnliche Abhängigkeit bei der mehrstufigen Herstellung von komplexen
Produkten, also in dem Fall, wenn die Herstellung des Endprodukts in eine
Anzahl von Zwischenoperationen aufgeteilt wird, von denen jede von bestimmten
Spezialisten ausgeführt wird. Alle Tätigen der späteren Phasen
des Prozesses benötigen die Produkte der Produzenten der vorhergehenden
Stufen als ihren Rohstoff, als Ausgangsmaterial, während die Hersteller
der vorhergehenden Stufen die Produkte der Unternehmer der späteren Phasen
als Verbraucher ihrer Zwischenprodukte benötigen. Somit können die o.g. besonderen Schichten in beiden Fällen ohne
einander nicht existieren; sie können genauso wenig existieren, ohne die
Produkte ihrer Arbeit auszutauschen. Einerseits benötigen sie also die
Anwesenheit ihrer Kooperationspartner, andererseits ist es wichtig, dass nicht
nur das gesamte Spektrum von Produkten ihrer Arbeit hergestellt wird und
gefragt ist, sondern auch, dass diese frei ausgetauscht werden können.
Welchen Sinn würde die Herstellung all der lebenswichtigen Erzeugnisse
haben, wenn der Austausch zwischen den einzelnen Herstellern unmöglich
wäre, aus welchen Gründen auch immer? Sie würden zwar ihre Seife
oder ihr Erz, aber kein Brot und keine Nägel haben. Daher haben
spezialisierte Hersteller ein klares Interesse am ungestörten
Funktionieren des Warenaustausches. Der aber wird insbesondere durch
die zuvor erwähnten Mitarbeiter der Infrastruktur gesichert: Transport-
und Lagerarbeiter, Händler aller Art usw. Allerdings ist die technische
Begleitung des Prozesses nur eine Seite der Medaille. Nicht weniger wichtig ist
die soziale Begleitung: Rechtliche Fragen, Schutz usw. Um es einfach
auszudrücken: Die Gesellschaftsordnung sollte den Austausch nicht
verhindern. DAS WIRTSCHAFTLICHE INTERESSE IM ALLGEMEINEN Das ist jedoch nichts anderes als ein
wirtschaftspolitisches Interesse. Neben dem allgemeinen Interesse aller
arbeitenden Menschen, Herren ihres eigenen Unternehmens zu sein, keiner Gewalt,
Plünderungen usw. ausgesetzt zu sein, brauchen die spezialisierten
Hersteller entsprechend dem Charakter ihres Lebens eine Gesellschaftsordnung,
die den Austausch ihrer Arbeitsergebnisse nicht erschwert, sondern erleichtert.
Daran sind natürlich auch die Beschäftigten der o.g.
Austausch-Infrastruktur interessiert. Es handelt sich dabei nicht um eine pure
Laune, sondern um eine Lebensnotwendigkeit: Die Existenz der einen hängt
davon genauso ab wie die der anderen. Was aber wollen sie denn eigentlich? DIE ART DES
AUSTAUSCHES Um das zu verstehen, ist es notwendig, die Art des Austausches
dieser Epoche zu klären. Er kann in verschiedenen Arten auftreten; erstens
geordnet oder spontan, zweitens je nach seinem Entwicklungsgrad, der dem
Entwicklungsgrad der Produktion entspricht. Auf verschiedenen
Entwicklungsstufen der Produktion erlangt der Austausch ihrer Produkte
bestimmte Besonderheiten und einen bestimmten Organisationsgrad bzw. eine
bestimmte Spontaneität. In den frühesten Stadien, als die
spezialisierte Produktion noch in den Anfängen und die wichtigste Form
ihrer Organisation die „planmäßige" Maßarbeit war, hatte
auch der Austausch größtenteils einen primitiven Charakter, indem
die Produkte direkt von Hand zu Hand ausgetauscht wurden. Allerdings machten
die Weiterentwicklung der Spezialisierung (d.h. eine größere
Bandbreite der Arbeits- und Produktarten) und der Übergang zu einer mehr
oder weniger massenhaften Produktion diese einfachste Organisation des
Austausches unmöglich. Wodurch konnte sie abgelöst werden und wodurch
wurde sie tatsächlich abgelöst? Durch eine andere, komplexere
Organisationsform? Natürlich nicht. Einerseits
aus rein historischen Gründen nicht. Die Produktion der hier behandelten
Epoche entwickelte sich und funktionierte vor allem spontan im Ergebnis der
Tätigkeit vieler voneinander und niemand sonst
abhängiger privater
Produzenten. Keiner verwaltete diese Prozesse. Deshalb konnte keine
Organisation des Produktaustausches entstehen. Mit anderen Worten, es gab
niemanden, der die Warenverteilung unter den Produzenten kontrollierte. Die
Bürokratie, die sich zu dieser Zeit auf die Verwaltung von
öffentlichen Angelegenheiten spezialisierte, war natürlich vor allem
daran interessiert, die gesellschaftlichen Reichtümer zu ihren Gunsten zu
verteilen, aber keineswegs daran, wie sie unter den Herstellern verteilt
wurden. Dies war der Bürokratie fast überall ganz egal (und wo das
nicht der Fall war, ging die Produktion ganz zugrunde). Andererseits war eine wirksame (nicht
räuberische) zentrale Produktverteilung unter den Herstellern der
genannten Epoche rein technisch unmöglich. Auch heute noch, bei (a) einem
unvergleichlich höheren Niveau der Vergesellschaftung der Produktion, (b)
einer deutlich besseren wissenschaftlichen Durchdringung des Problems und (c)
einer unvergleichlich stärker fortgeschrittenen kulturellen,
intellektuellen und technologischen Ausstattung der Verwaltung, stellt das eine
sehr komplexe und in vielerlei Hinsicht praktisch unlösbare Aufgabe dar,
ganz zu schweigen von den Realitäten und dem Potenzial der deutlich
weniger entwickelten Produktion und Verwaltung in früheren Zeiten. Daher war von den beiden möglichen
Formen des Produktaustausches die natürliche Regulierung das einzig
Akzeptable für die spezialisierten Produzenten in dieser Epoche. Mit
anderen Worten heißt das „Marktregulierung“. Der Markt (An- und Verkauf)
behauptete sich auch überall als führender Mechanismus der Verteilung
des Reichtums zwischen denen, die ihn produzierten (jedoch natürlich nicht
zwischen ihnen und der Bürokratie). Dabei werden die Produkte für den
Verkauf hergestellt und sind somit Waren und deren Hersteller Warenproduzenten.
Vermittler, die den Umsatz dieser Waren auf dem Markt erleichtern, indem sie
diese an einem Ort kaufen und an einem anderen Ort verkaufen, sind
Händler. Und, ich wiederhole, all diese (und einige andere) Schichten sind
größtenteils gleichermaßen daran interessiert, dass die
marktwirtschaftlichen Beziehungen frei funktionieren, also dass fremde Produkte
frei gekauft und eigene Produkte frei verkauft werden können (egal, wie
diese Produkte zu ihren „eigenen“ geworden sind, d.h. ob sie diese selber
produziert oder erworben haben). DIE KONKRETHEIT
DES WIRTSCHAFTLICHEN INTERESSES Die günstigste und zugleich lebenswichtige
Gesellschaftsordnung für die hoch spezialisierten Produzenten der
behandelten Epoche ist also die Ordnung, die den freien An- und Verkauf
sichert. Alles andere hängt auf irgendeine Weise damit zusammen. Was sind
die wichtigsten Normen dieser Gesellschaftsordnung? Für den An- und Verkauf ist es erstens erforderlich, dass kein Dritter
sich willkürlich in die Beziehungen des Verkäufers und des
Käufers einmischt. Er darf ihnen weder das Austauschverhältnis (den
Preis) diktieren noch Anweisungen geben, wer was an- und verkauft (und folglich
auch herstellt); er darf also über ihre Waren und überhaupt über
ihre Mittel und ihre Arbeit nicht verfügen. Die Möglichkeit der
Einmischung in das Geschäft durch Außenseiter, die ihren Willen
diktieren, negiert den An- und Verkauf sowohl als Prozess (das ist dann nur die
Verteilung durch einen Dritten), als auch im Hinblick auf die
Gewährleistung seines Ergebnisses (derjenige, der in der Lage ist, die Art
des Geschäfts zu bestimmen, ist auch in der Lage, das Spiel jederzeit neu
zu spielen). Also, ich wiederhole, die erste wesentliche Voraussetzung hierbei
ist, Fremde vom Geschäft fernzuhalten, und das bedeutet nichts anderes als
die Unantastbarkeit des Privateigentums. Zweitens ist auch die Gleichberechtigung von beiden Geschäftsparteien,
Käufern und Verkäufern, selbst obligatorisch. Keine von ihnen darf
Privilegien oder Präferenzen haben, die es ermöglichen würden,
den Kontrahenten zu einem für ihn nachteiligen Austausch zu zwingen. In
diesem Fall wäre das wiederum kein An- und Verkauf, sondern ein
gewöhnlicher Raub. Daraus ergibt sich die Forderung nach Gleichheit von
Rechten und Freiheiten, die den Bürgern die Möglichkeit gibt,
über sich selbst und ihr Eigentum zu verfügen. Kurzum, der Akt des An- und Verkaufs erfordert Freiheit in jeder Hinsicht.
Man kann ihn (sinnvoll) besteuern, Zölle und sonstige Abgaben erheben, man
kann verbieten, in den Kirchen und auf den Plätzen zu handeln; man darf
jedoch in keiner Weise die Freiwilligkeit des Geschäfts unterbinden und
dessen Gleichwertigkeit (nämlich die Befriedigung von beiden Parteien)
verletzen. Andernfalls geht der Markt einfach zugrunde. Der unmittelbare An-
und Verkauf sollte ausschließlich die Sache der gleichberechtigten
Parteien, des Verkäufers und des Käufers, sein. DAS POLITISCHE INTERESSE Und was ist notwendig, um
alle Interventionen und Ungleichheiten zu beseitigen? Letzten Endes müssen
natürlich rechtliche Normen eingeführt werden, die jedem Beteiligten
Privilegien und Willkür verwehren, und deren strikte Einhaltung durch die
Errichtung einer geeigneten Ordnung gewährleistet wird. Zuvor jedoch
müssen diejenigen, die an einer solchen Ordnung interessiert sind (in
diesem Fall die marktorientierten Gruppen), die Macht in der Gesellschaft
ergreifen und sie aufrechterhalten. Es ist klar, dass ohne Machtergreifung
selbst die genannten Normen nicht eingeführt und ohne Machterhaltung diese
nicht erfüllt werden können, sogar wenn sie rein formal existieren
sollten. Nun, was braucht man, um die Macht zu ergreifen? Eine ausreichend
große Kraft. Was braucht man, um die Macht zu erhalten? Die
Fähigkeit, solch ein Verfahren der Verteilung von Kraftfaktoren zu
entwickeln und zu realisieren, das die Dominanz der machtinteressierten Gruppen
in der Gesellschaft gewährleistet. Ich gehe unten auf das Kraftpotenzial
der Warenhersteller und anderer Marktteilnehmer ein. Vorerst konzentriere ich
mich auf ihre Fähigkeit, eine für sie profitable politische Ordnung
zu „produzieren". Oder, genauer gesagt, auf die Frage, ob es eine solche
Ordnung überhaupt gibt. Denn es ist nicht so sehr die subjektive
Fähigkeit wichtig, etwas zu „erfinden" (notfalls sagt es einem jemand
anderer vor), sondern die tatsächliche Möglichkeit der Existenz einer
bestimmten Ordnung an sich (erinnern wir uns nur an die Bauern mit ihrem
utopischen Anarchismus). Kann es also eine Ordnung geben, in der den
Bürokraten die Macht weggenommen und „unseren" Schichten gegeben
wird? Ja, die kann es geben. Wenn wir über das Problem sprechen, der Bürokratie ihre Macht zu
nehmen, wird dies in der Regel durch eine beliebige Art der demokratischen
Bildung von Organen der öffentlichen Verwaltung gelöst. Was
gehört hierbei zum Standardsatz (ohne ins Details zu gehen)? 1) Erstens
die Wählbarkeit und Absetzbarkeit (die
obligatorische Rotation) aller Verwalter, begonnen bei einer bestimmten
Beamtenebene. 2) Zweitens
die sogenannte Gewaltenteilung, d.h. die Trennung von gesetzgebender, ausführender und richterlicher Staatsgewalt
(die eigentlich bereits durch ihre allgemeine Wählbarkeit
gewährleistet wird). 3) Drittens
eine solche Verteilung der Zuständigkeiten auf den Stufen des
Verwaltungsapparates, dass keiner seine Vollmachten überschreitet, also dass
Probleme, die auf lokaler Ebene gelöst werden können, eben dort
gelöst werden, ohne übermäßige Konzentration der ganzen
Macht und aller Ressourcen bei der höchsten Verwaltung. Wenn diese Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden,
verlieren die Verwalter ihre Macht (und verwandeln sich dadurch von den „Herren
Bürokraten“ in die durch die Wähler kontrollierten Beamten). Wenn wir jedoch über die Aneignung dieser der Bürokratie
verlorengehenden Macht durch eine der potenziellen Klassen sprechen, kann das
durch zweierlei erreicht werden. Zum einen durch besondere Formen der
Demokratie, die diese oder jene machthungrige Gruppen begünstigen, z.B.
durch die Einführung des Wahlzensus, bei dem nur Personen mit einem hohen
Einkommen das Recht haben, die Verwalter zu wählen (Vermögenszensus),
was in der Tat den Reichen die Macht gibt. Zum anderen durch die Fähigkeit
bestimmter Gruppen (unter bestimmten Umständen), den Wahlprozess zu
beeinflussen, ihre Rechte effizient auszuüben, zu wählen und
gewählt zu werden usw. Wenn hierbei alle wichtigen Vorteile (zu denen z.B.
wiederum der Reichtum gehört) auf der Seite „unserer" Gruppe sind,
ist es nicht einmal nötig, die Gesetzgebung den „Besonderheiten“ dieser
Gruppe anzupassen. Man kann also verkünden, um (beinahe) mit Lenin zu sprechen: „Es gibt
so eine Ordnung!"[23] – bei
der die Macht den Verwaltern entrissen und den Regierten, vor allem den
Anhängern des Marktes, übertragen wird. Es geht nur darum, diese
Ordnung zu „erfinden" und zu etablieren. Ersteres wird durch die Kultur
und Letzteres durch die Kraft gesichert, und in beiden Bereichen ist das
Potenzial der Marktschichten ausreichend. DIE BOURGEOISIE
Die Warenhersteller und verschiedene andere Marktteilnehmer, die zusammen eine
marktorientierte Gruppe bilden, haben also einen kompletten Satz von
spezifischen Interessen in Bezug auf die Art der Gesellschaftsordnung und
stellen damit eindeutig einen besonderen Klassoid dar, dessen
Gruppenidentität, ich wiederhole, darin besteht, dass dies die Gesamtheit
von den mit dem Markt verbundenen Funktionsschichten ist, die
traditionsgemäß als „Bourgeoisie“ bezeichnet wird (was eigentlich
falsch ist, weil das wörtlich nicht „Marktleute", sondern
„Bürger", „Stadtbewohner“ bedeutet). Dafür ist dieses Wort
symptomatisch, weil die Marktschichten sich zunächst eben in den
Städten konzentrierten und dort die Mehrheit der Bevölkerung
ausmachten. Die Bauern wurden Farmer (und verbürgerlichten sich damit)
erst später, im Zuge des Ausbaus von Städten und der wachsenden
Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Aber zurück zu der Tatsache, dass wir es angesichts der Bourgeoisie
mit einem Klassoid zu tun haben. Unsere nächste Frage: Ist das eine
Klasse? Ist die Bourgeoisie in der Lage, die Macht zu ergreifen und zu halten
(indem sie die ihr gemäße politische Ordnung einführt)?
Verständlicherweise geht es hier darum, ob das Bürgertum stark genug
dafür ist. Womit können sich die Bourgeois hierbei rühmen? DIE STÄRKE
DER MARKTSCHICHTEN Zunächst mit mehr oder weniger Zusammenhalt. Bereits
die enge Spezialisierung der Bourgeois macht sie, wie schon gesagt, voneinander
abhängig und damit am allgemeinen Wohlergehen interessiert. Das
beeinflusst positiv ihre Fähigkeit, in geeinter Front für die
Verteidigung der gemeinsamen Interessen einzutreten. Darüber hinaus
verbindet der Markt selbst die Menschen durch den nachhaltigen Austausch von
Produkten ihrer Arbeit. Das ist der Ort ihrer regelmäßigen Treffen
und Geschäftskontakte; im Ergebnis entstehen natürlich viel engere
Verbindungen und viel vertrautere Beziehungen als z.B. bei den Landwirten, die
im Rahmen der Naturalwirtschaft produzieren und voneinander nichts wissen
wollen. Hinzu kommt auch die Konsolidierung der Bourgeoisie durch das
räumlich enge Zusammenleben der Bevölkerung in den Städten. Zweitens haben wir es hier mit einer
ganz anderen Qualität der Persönlichkeit zu tun. Die durch den Markt
herausgebildeten Menschen sind mit den Bauern, den verängstigten
Analphabeten, nicht zu vergleichen. Die Bourgeois sind in den regionalen und
sogar in den Welthandel involviert; sie verkehren mit vielen Menschen, haben
viel mehr Überblick, viel mehr Wissen über alles. Schließlich
haben sie sogar ein anderes Auftreten: Sowohl wegen ihrer konstanten Kontakte
mit den Menschen, als auch wegen der Anforderungen des Marktes selbst, wo
Initiative, Einfallsreichtum, Intelligenz, Energie usw. wichtig sind. All diese
Eigenschaften bilden sich bei den Marktteilnehmern heraus. Dieses kulturelle
Potenzial erhöht sich mit der Entwicklung der Warenproduktion, entsprechend
Wissen und Technologie. Die persönlichen Eigenschaften der Bourgeois
werden im Laufe der Zeit geradezu unvermeidlich durch ein relativ hohes Niveau
der Kultur ergänzt. Drittens übersteigen die
Ressourcen der Bourgeoisie (bei einer ausreichenden Entwicklung) die Ressourcen
aller anderen Gruppen in der Gesellschaft, einschließlich der
Bürokratie. Einerseits produzieren die Bourgeois den größten
Teil der Wirtschaftsgüter überhaupt. Andererseits hat die Produktion
zwecks Verkauf das höchste Potenzial der Entwicklung und dementsprechend
der Bereicherung derjenigen, die sich damit befassen. Viertens ist es sinnvoll, die soziale Macht des Kapitals festzustellen.
Genauso wie die Bürokraten ihre Diener in den Kampf schicken, sobald es
brenzlig wird, stehen hinter den mittleren und großen Unternehmern nicht
nur ihr Vermögen, sondern auch die von ihnen beschäftigten
Arbeitnehmer - Handwerksgesellen, Arbeiter, Ingenieure, Angestellte usw., und
mit der Zeit gibt es ziemlich viele davon. Der Chef kann sie zwingen, das zu
tun, was er will, weil sie von ihm abhängig sind (etwa so, wie heute in
Russland die Lehrer und andere Staatsbeamte gezwungen werden, die
Wahlergebnisse zu fälschen, Kundgebungen für Putin mitzumachen etc.),
von viel einfacheren Möglichkeiten wie der direkten Bestechung der
Machthaber, der Schaffung von privat bezahlten militärischen
Sicherheitseinheiten u.a.m. ganz zu schweigen. Fünftens ist der direkte Zugang der Bourgeois zu den Waffen wichtig.
Deren Produktion ist ohnehin schon immer eine Sache der Handwerker gewesen.
Technologische Fortschritte in diesem Bereich haben ein weiteres dazu getan.
Waffen wurden zur Sache der Großindustrie und der komplexen
Massenproduktion und fielen somit unter die Kontrolle ihrer Produzenten (oder,
genauer gesagt, der Produktionseigentümer). Gerade sie bestimmen
letztlich, ob die Waffen überhaupt hergestellt werden und wem sie in die
Hände fallen. Sechstens führte die o.g. Entwicklung von Waffen und die
Ausrüstung der Truppen damit unvermeidlich zur Umwandlung der Letzteren. Die Bürokraten mit ihren Ritterschwärmen waren nicht konkurrenzfähig
gegen die reguläre Armee. Und woher wurde sie rekrutiert?
Hauptsächlich aus den Vertretern des „dritten Standes": den
Söhnen der Bauern, Farmer, Handwerker und anderer Vertreter des gemeinen
Volkes, d.h. nicht der Bojaren, Adligen und ihresgleichen wie davor. Eine
solche Armee ist keine sichere Stütze im Bürgerkrieg, also beim
innenpolitischen Konflikt der Klassoide. In jedem Fall ist sie eher eine
Stütze des anti- als des probürokratischen Lagers. Siebtens ist folgende Besonderheit der (vor allem politischen) Interessen
der Bourgeoisie zu betonen: Sie sind im Grunde allen anderen
Gesellschaftsschichten nah, aber nicht der Bürokratie. Die Machtform der
Bourgeoisie ist eine besondere Demokratie, und den Massen ist nicht so wichtig,
dass sie besonders ist, sondern vielmehr, dass es Demokratie ist. Der Kampf
dafür kann die Mehrheit des gemeinen Volkes mitreißen. Genauso ist
es auch mit der Ideologie der Bourgeoisie, dem Hohelied auf die staatsbürgerlichen
Freiheiten und die politische Gleichheit. Wer wäre schon dagegen,
außer wiederum die Bürokraten? Im Kampf mit den Letzteren für
das gewünschte politische System kann sich also die Bourgeoisie auf die
breiten Schichten der sonstigen Bevölkerung stützen und diese als
Verbündete heranziehen. Achtens ist die Bourgeoisie selbst zahlenmäßig recht groß.
Mit der Entwicklung der spezialisierten Produktion und dementsprechend des
Marktes werden immer mehr Menschen zu Bourgeois; u.a. verwandeln sich die
Massen der ehemaligen Bauern in Farmer. Im Prinzip wird in einer bestimmten
Etappe die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder bürgerlich. Somit ist die Bourgeoisie an sich stark und kann die Massen der
nichtbürgerlichen Bevölkerung auf ihre Seite bringen. WER IST
STÄRKER? Allerdings sind die Begriffe „stark“ und „am stärksten“
nicht gleichzusetzen. Und man muss eben am stärksten sein, um die Macht in
der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten. Genügt die Bourgeoisie
dieser Anforderung? Wer widersteht ihr dabei? Verständlicherweise sind das vor
allem (und in den frühen Kampfetappen ausschließlich) die Verwalter:
Weil gerade sie zum Zeitpunkt der Herausbildung des „Dritten Standes" an
der Macht sind und weil diese Klasse in jedem Fall in der Gesellschaft
präsent ist und sie verwaltet (es muss sich ja jemand professionell mit so
einer wichtigen Sache befassen!) Daher ist immer die Aufgabe relevant, die
Ansprüche der Verwalter zu unterbinden, jegliche Verwirrung der Regierten
zu nutzen, um die Macht an sich zu reißen, umso mehr, als die Verwalter
mit der Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft auch mehr Chancen
dafür bekommen. Diese Klasse entwickelt sich ebenfalls in jeder Hinsicht
(qualitativ und quantitativ), um den wachsenden Bedarf der Gesellschaft an
effektiver Verwaltung zu decken. Der Bürokratie stehen auch immer mehr
technische Mittel zur Verfügung, mittels derer sie Geist und Körper
der Menschen beeinflussen. Dennoch bedeutet die Tatsache, dass die genannte Stärkung der Verwalter
nicht von selbst (gemäß
gewissen eigenen Gesetzmäßigkeiten), sondern erst nach der
Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft erfolgt, dass die Letzteren
sich unweigerlich schneller entwickeln. Oder, mit anderen Worten, dass die
qualitative Entwicklung und das quantitative Wachstum der Bourgeoisie und ihres
Leistungspotenzials schneller zunehmen als die Entwicklung und das Wachstum der
Bürokraten. Die Verwalter sind nicht in der Lage, die Bourgeois
in dieser Hinsicht einzuholen;
früher oder später erweisen sie sich als schwächer
gegenüber den neuen Bewerbern für die Vorherrschaft in der
Gesellschaft. DIE
BÜRGERLICHE GESELLSCHAFTSORDNUNG Daher ist in der historischen Perspektive
der Ausgang des Kampfes zwischen der Bourgeoisie und der Bürokratie
vorgegeben. Die Bourgeoisie
ergreift mit der Zeit die Macht in der Gesellschaft, womit sie in der Praxis
ihr Recht auf den Klassenstatus bestätigt. Dabei findet die Machtergreifung durch die neuen Herren
der Gesellschaft nicht auf dem evolutionären Weg der allmählichen Umwandlung
der bürokratischen Ordnung in die bürgerliche statt, sondern von
heute auf morgen, in einer historisch kurzen Zeit, in direkten gewaltsamen
Klassenauseinandersetzungen, d.h. bei
politischen Revolutionen, und die Bürokraten ziehen den Kürzeren. Danach etablieren natürlich die
triumphierenden Gewinner die bürgerliche oder, wenn man ihre entwickelte
Form meint, die kapitalistische Gesellschaftsordnung,
zu der ein großer Teil der heutigen
Gesellschaften bis jetzt gehört. * * * Zu guter Letzt - ein paar zusätzliche Kommentare. DER FEUDALISMUS
UND DIE SKLAVEREI Laut dem vorgeschlagenen Verständnis der
phasenmäßigen Entwicklung der Gesellschaft gibt es in der Geschichte
der Menschheit von der Antike bis in die Neuzeit nur eine Gesellschaftsordnung,
die bürokratische, und unmittelbar danach beginnt die bürgerliche.
Indessen ist es in der modernen Wissenschaft (zumindest derjenigen, die die
Tradition des sowjetischen Marxismus fortsetzt) üblich zu glauben, dass es
zwei vorbürgerliche Gesellschaftsordnungen gegeben hat: Die Sklaverei und
den Feudalismus, und manche finden es notwendig, sogar über die dritte zu
sprechen, die asiatische Produktionsweise. Ich werde hier diese Ansichten nicht
darlegen und nicht kritisieren. Ich sage einfach, dass sie falsch sind.
Asiatische und europäische („feudale") Gesellschaften sind gleich in
Bezug auf den Typ der Gesellschaftsordnung; sie sind nur lokale Varianten des
bürokratischen Systems. Sie unterscheiden sich nur
zivilisationsmäßig, durch einzelne Besonderheiten, wie die Arten ein
und derselben Gattung. Die klassische Sklaverei (natürlich die antike,
eine andere gab es nun einmal nicht) nimmt hierbei eine Sonderstellung ein. Sie
ist eine Art „Ausrenkung“ am Körper der Geschichte, bedingt einerseits
durch die Zivilisationsbesonderheiten der antiken griechischen und
römischen Gesellschaften und andererseits durch den besonderen Charakter
ihres Lebensumfeldes in der entsprechenden Epoche. Wir haben hier also das
Ergebnis einer ganzen Reihe von äußeren Einflüssen auf den
normalen allgemeinen theoretischen Verlauf des historischen Prozesses. Genauer
gesagt sind die antiken Gesellschaften mit ihrer klassischen Sklaverei das
Ergebnis von vielseitigen Handelsbeziehungen im Mittelmeerraum zu jener Zeit
(die auf den segensreichen Nährboden der ursprünglich individuellen
Gesellschaften der Griechen und Italiker gefallen waren), der Warenproduktion
und somit der Bourgeoisie. Es gab dort keine Sklavengesellschaftsordnung;
sondern es gab das protobürgerliche System in einer rudimentären
Form. Diese Gesellschaftsordnung konnte in der Form auch nur auf der Basis der
ihr im gewissen Sinne adäquaten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen
dieser Zeit und dieser Region realisiert werden. FUNKTIONEN UND
KLASSEN Ich fasse auch das Verhältnis zwischen den Klassoiden und
Funktionsschichten zusammen. Das ist, wie schon gesagt, nicht ein und dasselbe,
obwohl sie manchmal der Zusammensetzung nach zusammenfallen können. Es
muss aber nicht sein, zum einen logisch (d.h. in Bezug auf die Definition der
beiden Begriffe) und zum anderen praktisch. Bei einer vom anfänglichen
Primitivismus ausreichend weit entfernten Entwicklung der Gesellschaft
gehören zu Klassoiden zumeist nicht mehr einzelne Funktionsschichten (mit
einem beliebigen Grad der Gemeinsamkeit), sondern ganze Gemeinschaften von
ihnen, die auf einer Grundlage gebildet werden, die keinen direkten Bezug zu
deren Funktionen hat. Darüber hinaus können die
gleichen funktionellen Gruppen in verschiedenen Positionen unterschiedlichen
Klassoiden angehören. Das bezieht sich z.B. auf die Eigentümer und
Arbeitnehmer in bestimmten Unternehmen (ich werde darauf viel später
eingehen), aber ein viel anschaulicheres Beispiel dafür sind die Bauern,
die sich aus Landwirten, die im Rahmen der Naturalwirtschaft gearbeitet haben,
in warenproduzierende Farmer verwandelt haben. Der Funktion nach sind sie
gleich, aber im sozialen Sinne sind sie wie Klassoide (dem Charakter ihrer
Interessen nach) unterschiedlich. Die Ersteren verbindet die Beschäftigung
in der Landwirtschaft und die Letzteren die Herstellung von Waren zum Verkauf.
Außerdem ist hier auch die Umwandlung von Bauern aus einer Unterklasse in
einen Teil einer Klasse zu beobachten. Die Farmer gehören zur Klasse der
Bourgeoisie und nicht zur Unterklasse der Bauern. Schließlich möchte ich noch erwähnen, dass die
Zugehörigkeit zu einer Klasse in keiner Weise mit der Erfüllung einer
gesellschaftlichen Funktion verbunden sein kann. Das ist z.B. bei der Position
des Erbadels in der bürokratischen und der Rentiers in der
bürgerlichen Gesellschaft so. _______________ Neben zwei Entwicklungsstadien der
funktionalen und der Klassoid-Struktur der Gesellschaft gibt es also zwei
Entwicklungsabschnitte der Gesellschaftsordnung, die nach den Klassen definiert
und benannt werden, die diese Ordnung bestimmen. Wie sprechen von der
bürokratischen und kapitalistischen (bürgerlichen)
Gesellschaftsordnung. Mit deren Untersuchung werden wir uns im Folgenden
befassen. Vortrag sechs. DIE BÜROKRATISCHE GESELLSCHAFTSORDNUNG: DIE GENESIS, DAS POLITISCHE
SYSTEM UND DIE MACHTERHALTENDE POLITIK 1. Die Herkunft der
Bürokratie DIE
ENTSTEHUNGSGESCHICHTE Die Bürokratie besteht aus den herrschenden
Verwaltern. Ihrer Herausbildung liegt die Genesis der Funktionsschicht von
Verwaltern zugrunde, d.h. die Aussonderung der Gesellschaftsverwaltung zum
eigenständigen Beruf. Die Funktion an sich gab es auch zuvor schon: Ohne
die Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung ist jedes soziale Gebilde
instabil. Allerdings wurde die genannte Funktion in der Geschichte der
Menschheit lange (während der gesamten Urzeit) quasi „ehrenamtlich",
unprofessionell, gewöhnlich durch ältere Mitglieder der
Urgesellschaften erfüllt. Aber eines Tages (genauer gesagt, eines
Jahrtausends, weil dieser Prozess recht langwierig war und außerdem in
verschiedenen Regionen in unterschiedlichem Tempo verlief) änderte sich
die Situation, die Verwaltung wurde zum Beruf für die entstandene Schicht
der Funktionäre. Warum passierte das? (Es sei hier schon vorweggenommen,
dass ich Einiges aus den vorangegangenen Vorträgen zum Zwecke einer
zusammenhängenden Darlegung wiederholen werde; außerdem ist dem
Leser bestimmt schon Vieles entfallen). DIE
AUSGANGSURSACHE UND DIE PRIMÄREN FOLGEN Der Hauptgrund dafür war der
Übergang der Menschheit von der bloßen Gewinnung von benötigten
Gütern (vor allem von Lebensmitteln) zu deren Herstellung, d.h. vom Jagen
und Sammeln zur Landwirtschaft. Was hatte das zur Folge? 1) Erstens
eine beträchtliche Erhöhung der Menge der genannten Güter, die
den Gemeinschaften nun zur Verfügung standen, insbesondere in den
Gebieten, in denen es einen fruchtbaren Boden und ein für die
Landwirtschaft günstiges Klima gab. 2) Zweitens
die Sesshaftigkeit. Einerseits ermöglichte die Landwirtschaft (im
Gegensatz zum Jagen und Sammeln, was zwangsläufig mit einer
halbnomadischen Lebensweise einherging), sich stabil auf ein und demselben
Gebiet zu ernähren. Andererseits wurde Sesshaftigkeit wünschenswert
und sogar notwendig (1) im Hinblick auf die daraus resultierenden großen
Lebensmittelvorräte, die (a) zu schwer waren, um sie von einem Ort zum
anderen zu transportieren und (b) eine spezielle Lagerung erforderten; (2)
aufgrund der Kosten für die Landkultivierung, z.B. für die
Säuberung des Landes von Steinen bzw. Holz, den Bau von Bewässerungsanlagen,
Terrassen u.a.m. Konnte man das alles verlassen und weggehen, weiß Gott
warum und wohin? Schließlich (3) erforderte die Landwirtschaft rein
technologisch, sich auf einem bestimmten Grundstück zu befinden, zumindest
während der landwirtschaftlichen Arbeitsabläufe. So hatte der
Übergang zur Landwirtschaft die Menschen an bestimmte Gebiete gebunden. SEKUNDÄRE
FOLGEN UND DIE NOTWENDIGKET DER VERWALTUNG Daraus ergaben sich folgende
sekundäre Folgen: 1) Das
schlagartige Wachstum der Anzahl von Menschen – die sogenannte neolithische
demografische Revolution. 2) Es
entstand die Möglichkeit, dass viele Menschen auf engem Raum zusammenleben
konnten. Früher, als sie sich vor allem vom Jagen und Sammeln ernährt
hatten, konnten zumeist nur einige Dutzend, maximal Hunderte von ihnen
zusammenleben, und nun reichte die Nahrung, die pro Quadratmeter Boden erzeugt
wurde, für eine weit größere Anzahl von Menschen aus. 3) Es
zeichnete sich auch eine Tendenz zum räumlich engen Zusammenleben ab: Es
waren damit nämlich kooperative Vorteile verbunden und es ging einfach
darum, dass fruchtbares Land und gutes Klima nicht überall verfügbar
waren. Daher zogen die Massen natürlich dorthin, wo Land und Klima am
besten waren. Im Ergebnis dessen entstanden beträchtliche Menschenansammlungen,
Massensiedlungen und folglich große soziale Gebilde. Tausende und Zehntausende von Menschen lebten
fortan eng zusammen, und das führte natürlich sofort zu einer enormen
Verkomplizierung ihrer Beziehungen untereinander, u.a. zu zahlreichen und vielfältigen
Konflikten. Das Leben in diesem Kessel begann zu sieden und zu brodeln, was den
Bedarf, die in diesen sozialen Gebilden entstehenden Unstimmigkeiten zu
bereinigen, Ordnung zu schaffen und sie zu erhalten, enorm erhöhte. Sie
mussten also verwaltet werden. Diese Funktion gewann hierdurch eine besondere
Bedeutung, sie erforderte viel mehr Aufwand als zuvor und damit also eine
berufliche Leistung. Die Aussonderung einer entsprechenden Schicht von
Funktionären wurde zur sozialen Notwendigkeit. Darüber hinaus spornte in der realen Geschichte (im Hinblick auf die
Umwelteinflüsse und nicht nur auf die Logik der allgemeinen Theorie)
zuweilen auch der äußere Druck dazu an: Bedrohungen durch Nachbarn,
die Notwendigkeit, sich gegen Angriffe und Raub zu schützen usw. Das
verschärfte das Problem, erforderte einen gewissen Zusammenhalt, die
Koordination von Aktivitäten in den Gruppen, also wiederum ihre
Verwaltung, wenn auch fortan mit einem spezifischen Nebensinn, zum Schutz und
zur Kriegsführung. Vor diesem Hintergrund bildete sich eine besondere Art
von Verwaltern: Keine Administratoren, sondern Feldherren. Das war besonders
charakteristisch für spätere Gesellschaften, die in einem
entwickelten sozialen Umfeld mit vielen konkurrierenden sozialen Gebilden,
ihrem kulturellen Einfluss, ihrer politischen Gewalt und ihrer
Attraktivität als Beuteobjekte entstanden. DIE
MÖGLICHKEIT DER VERWALTUNGSPROFESSIONALISIERUNG Das waren die
Umstände, die die Notwendigkeit der Entstehung einer Schicht von
Verwaltern bedingten. Allerdings sollte man sich zur logischen Abrundung die
Frage stellen, ob sie überhaupt entstehen konnte. War dies unter den
damaligen Umständen überhaupt möglich? Wichtig ist ja nicht nur
die Notwendigkeit, sondern auch die Möglichkeit dafür, die in unserem
Fall vor allem auf die Fähigkeit der Gesellschaft hinausläuft, diese
Schicht von Spezialisten zu ernähren, d.h. die Verwalter von der direkten
produktiven Arbeit freizustellen (von welcher Professionalisierung sollte sonst
die Rede sein?). Damit war, wie schon gesagt, auch alles in
Ordnung. Das durch den Übergang zur Landwirtschaft bedingte Wachstum der
Menge von in der Gesellschaft produzierten Gütern war völlig
ausreichend, um dieses Problem zu lösen. DAS FAZIT Und
dort, wo es sowohl die Möglichkeit, als auch die Notwendigkeit eines
Phänomens gibt, ist die praktische Umsetzung nur eine Frage der Zeit. Dies
war auch bei der Professionalisierung der Verwaltung der Fall. Dieser Prozess
war, wie schon erwähnt, sehr lang und evolutionär (das bezog sich
insbesondere auf den normalen, allgemein-theoretischen Ablauf, also auf die
Fälle, in denen es keine Eroberungen und keinen anderen relevanten
Einfluss des externen sozialen Umfeldes gab). Im Ergebnis bildete sich eine
besondere Funktionsschicht von Verwaltern, die sich dann zur Bürokratie
verwandelte. In der Gesellschaft wurde das bürokratische System etabliert.
Ich habe oben schon genügend über die Ursachen dessen sowie über
die kraftmäßige Vorherrschaft der Bürokraten gesagt. Die Gesellschaft wurde dabei
hauptsächlich in zwei Schichten geteilt: Die herrschende Klasse der
Verwalter und die durch sie ausgebeuteten Regierten (hauptsächlich aus den
Bauern bestehend), was z.B. seinerzeit einer der größten alten chinesischen
Philosophen Menzius (Mengzi) feststellte, wobei er die damalige soziale
Realität folgendermaßen definierte (und rechtfertigte): „Ist es denn
möglich, das Reich der Mitte zu verwalten und sich gleichzeitig mit
Landwirtschaft zu beschäftigen? Es gibt Beschäftigungen von
großen und von kleinen Menschen... Deswegen sagt man: „Einige strengen
ihren Kopf, andere ihre Muskeln an. Derjenige, der seinen Kopf anstrengt,
verwaltet die Menschen. Derjenige, der seine Muskeln anstrengt, wird verwaltet.
Derjenige, der die Menschen verwaltet, wird durch sie ernährt. Das ist das
universelle Gesetz des Reichs der Mitte“. Und, ich würde hinzufügen, nicht
nur dieses Reichs. DIE
BÜROKRATIE UND DER STAAT Erinnern wir uns nun daran, dass die
Funktionsschicht der Verwalter organisatorisch nichts anderes als den
Verwaltungsapparat der Gesellschaft darstellt. Daraus ergibt sich, dass die
Verwandlung dieser „Diener" der Gesellschaft in deren Herren gleichzeitig
die Verwandlung des o.g. Apparats in den Staatsapparat, also die Herausbildung
(oder zumindest die letzte Etappe der Herausbildung) des Staates darstellt (im
politisch-ökonomischen und nicht im landeskundlichen Sinne dieses Wortes).
Die Bürokratie und der Staatsapparat sind im genannten Zeitraum ihrem
Wesen nach ein und dasselbe. Die Genesis
der Bürokratie ist auch die Genesis
des Staates als des Apparats der Zwangsverwaltung der Gesellschaft. Der Staat
ist genau auf diese Weise, durch die Verwandlung der Verwalter in die Herren
der Gesellschaft, in die Bürokraten, entstanden. Jedoch sind in der Wissenschaft vor
allem andere Meinungen verbreitet. Der Sowjetmarxismus stellte sich die Sache
z.B. so vor, dass die Gesellschaft angeblich zuerst auf irgendeine Weise
(beinahe marktmäßig!) in Reich und Arm unterteilt wurde; dann
schufen die Reichen den unter ihrer Kontrolle stehenden Gewaltapparat, den
Staat, um ihren Reichtum und ihre Rechte auf die Ausplünderung der Armen
zu schützen. Das stimmt nicht. In der Geschichte gab es nichts davon,
weder in der Theorie und umso weniger in der Praxis. Bei allen Beispielen, auf
die man sich gewöhnlich beruft (und das sind verständlicherweise vor
allem die probürgerlichen Realitäten der antiken Welt) handelt es
sich um falsch interpretierte oder gar offen verfälschte Fakten. In der Tat ging der
Staatsbildungsprozess, ich wiederhole, einen geraden Weg, nämlich mittels Aussonderung
von Verwaltern (in Form des hierarchisch strukturierten Verwaltungsapparats)
und deren anschließender Verwandlung in Bürokraten, die mit dem
Staatsapparat gleichzusetzen sind. (Im Übrigen war die Situation genauso,
als die Bourgeoisie der Bürokratie die Macht abgenommen und sie in Beamte
verwandelt hatte. Der Staatsapparat blieb jedoch nichts anderes als eine Klasse
der Verwalter; diese Klasse (Apparat) ist nun allerdings unter der Kontrolle
der Bourgeois und führt deren Willen aus). DIE
ZUSAMMENFASSUNG UND DIE WEITERE AUFGABENSTELLUNG In verschiedenen Regionen der
Erde, mal früher, mal später, je nach den Bedingungen, entstanden
also mit dem Aufkommen der (vor allem landwirtschaftlichen) Produktion
große funktional strukturierte Vereinigungen von Menschen, die
Gesellschaften, die in der ersten Etappe überall durch die Verwalter
(Bürokraten) als Herren geführt wurden. Sie legten die Ordnung fest,
die sie persönlich benötigten, und darum heißt diese erste
Etappe die bürokratische Gesellschaftsordnung. Alle Gesellschaften in der
Geschichte der Menschheit haben diese Etappe hinter sich gelassen. (Die
primitiven Stämme der Buschmänner, Polynesier u.a. fallen hierbei
selbstverständlich nicht ins Gewicht; weil sie eben keine Gesellschaften
sind, haben sie dieses Niveau noch nicht erreicht). Viele Gesellschaften,
darunter auch Russland, gehören bis jetzt zu diesem System. Gleichzeitig entstanden und existierten
verschiedene bürokratische Gesellschaften erstens in unterschiedlichen
natürlichen (damit ist die Herausbildung ihrer Zivilisationsunterschiede
verbunden) und insbesondere sozialen Außenbedingungen und zweitens bei
unterschiedlicher Entwicklung dieser Gesellschaften selbst. Eine Sache ist es,
die Untertanen zu schützen und sich gegen externe Banditen wie
seinesgleichen zur Wehr zu setzen und eine ganz andere, die bürokratische
Ordnung aufrecht zu erhalten, „umgeben von Feinden"[24] , d.h.
von bürgerlichen Gesellschaften. Eine Sache ist es, in einer
traditionellen bäuerlichen Gesellschaft zu herrschen, wo es keine
besondere Mühe erfordert, und eine ganz andere, dort, wo die Städte,
die Bourgeoisie, die Industrie, das Proletariat und andere gefährliche
Dinge entstanden sind. Hier muss man sich nolens volens bewegen, sich an diese
unerwünschten schwierigen „Wetterbedingungen“ anpassen; man muss sich
anpassen und die bürokratische Ordnung als eine besondere,
„sozialistische" oder „souveräne"[25]
„Demokratie“ tarnen. Daraus ergeben sich die sowohl rein formalen, als auch inhaltlichen Unterschiede
der bürokratischen Regime. Im Großen und Ganzen bleibt die
Bürokratie dennoch immer dieselbe; sie verfolgt die gleichen Ziele und
nutzt ähnliche Mittel, um diese zu erreichen. Eben diese wichtigsten Ziele
und Mittel sind jetzt zu behandeln. Wodurch wird die Bürokratie
überhaupt charakterisiert? Welche Ordnung etabliert und verteidigt sie? 2. Das politische System WAHLEN? DAS
KÖNNTE EUCH SO PASSEN! Auf politischem Gebiet besteht das allgemeine
Interesse der Bürokratie verständlicherweise darin, ein System
aufzubauen, zu reproduzieren und zu schützen, das ihre Macht sichert. Mit
anderen Worten, ein System, bei dem diese Klasse die Gesellschaft kontrolliert,
und nicht umgekehrt. Was bedeutet das? Wie kann das erreicht werden? Was ist
hierbei das Wichtigste? Um das zu verstehen, gehen wir im gegenläufigen
Sinn vor. Wie kann denn eine Gesellschaft, d.h. deren andere Schichten und Klassen,
den Staatsapparat mit seinen Gewaltinstrumenten, materiellen Ressourcen und
sonstigen Potenzialen kontrollieren? Und zwar nicht vorübergehend, nicht
während eines Aufstandes und des Sturzes der „Herren Verwalter“, die zu
weit gegangen waren, sondern dauerhaft. Meutereien oder die Drohung damit sind
ja keine Kontrollmittel; sie bringen nicht die Aufrechterhaltung einer
antibürokratischen Ordnung, sondern die Zerstörung jeglicher Ordnung.
Es gilt also, ein Kontrollmittel zu finden, das den Staatsapparat im Zaum
hält, so dass eine egoistische unsoziale Politik eine sofortige Entlassung
bedeuten würde. Ein solches Kontrollmittel sind regelmäßige Wahlen. Die
Einführung der Wählbarkeit
ist der erste und wichtigste Schritt zur Machtenthebung der Verwalter. Sie ist
das Herz des politischen Systems namens Demokratie. Unter dem Prinzip der
Wählbarkeit von Beamten hängt die Frage, ob sie einen Posten
bekleiden oder nicht, vom Willen ihrer Wähler ab, und ihre Politik kann
daher die Bedürfnisse der Massen nicht völlig ignorieren, absolut
egoistisch sein und nur die privaten Interessen eines konkreten Verwalters oder
die Interessen seiner Klasse als Ganzes verfolgen. Schlägt man hierbei
über die Stränge, sei es durch ein Gesetz oder eine Entscheidung im
Widerspruch zu den Interessen der Wähler, dann findet man sich sofort auf
deren Platz wieder und wird zu einem einfachen Bürger. Und umgekehrt,
eine mangelnde Kontrolle der Verwalter setzt voraus, dass sie nicht gewählt,
sondern auf ihren „Kampfposten“ durch Anwendung von Gewalt eingesetzt werden. Wenn die Verwalterklasse ihre Dominanz
erhalten will, darf sie nicht zulassen, durch die regierte Bevölkerung wählbar zu sein, sondern sie muss sich selbst an
die Stelle des Staatsapparats setzen, der die Gesellschaft verwaltet.
Natürlich bedeutet dies durchaus nicht, dass man auf verschiedene kleine
„Hilfen“ verzichtet (die Verbreitung paternalistischer Erwartungen, die
Erinnerung an Gottes Willen, das Geschrei über „geheiligte Prinzipien“ und
über den besonderen „Nutzen“ der Monarchie etc.); so etwas wird geradezu
begrüßt. Aber letztlich behauptet sich die Bürokratie an der Spitze
der Gesellschaft einfach durch Gewaltanwendung. Sie hängt also
bezüglich ihrer Position nicht vom Willen des Volkes ab, sondern im
Gegenteil, sie zwingt ihm ihren Willen auf. DIE BEZIEHUNGEN
ZWISCHEN DEN VERWALTERN Auf die gleiche Art und Weise bilden sich auch die
Beziehungen innerhalb der gegebenen Klasse heraus. Auch hier entscheidet alles
die Stärke, sowohl bezüglich der Tatsache, wer überhaupt dem
Staatsapparat angehören soll, als auch bezüglich dessen, wer welche
Position einnimmt. Natürlich behauptet sich bei solchen Szenarien der
Stärkste an der Machtspitze, gefolgt von den Schwächeren (in seiner
unmittelbaren Umgebung), bis hin zu den ganz kleinen Fischen auf der untersten
Stufe des Verwaltungsapparates. Der jeweilige Platz im Staatsapparat wird durch
das Kräfteverhältnis bestimmt; folglich wird die gesamte genannte
Klasse auf natürliche Art und Weise in Form einer Krafthierarchie
(Pyramide) aufgebaut. Merkwürdig ist dabei, dass dies nicht nur das
Kräfteverhältnis der Mitglieder der gegebenen Klasse widerspiegelt,
sondern auch z.T. den Aufgaben der Verwaltung selbst als Funktion entspricht,
die genauso eine hierarchische Organisation erfordert, wenn Entscheidungen
getroffen, Befehle erteilt und ausgeführt werden. Es ist also eine gewisse
Harmonie zwischen der Organisationsform der Bürokratie und den
Erfordernissen der Verwaltung zu vermerken. DER POLITISCHE
CHARAKTER DER KLASSE Alles oben Dargestellte ist nicht zufällig; es
spiegelt die Tatsache wider, dass die Bürokratie nach ihrer Funktion und
Stellung in der Gesellschaft eine rein politische Klasse ist. Die Bourgeoisie
z.B. hat erstens nur eine indirekte Beziehung zur Politik; ihre Sache ist die
Produktion, die wirtschaftliche Tätigkeit. Sie beschäftigt sich als
Klasse nur unprofessionell mit der Politik, bei den Wahlen, als Wählerschaft, die den Schutz
der für sie günstigen Ordnung benötigt und die deswegen die
Beamten mit der Demokratie terrorisiert. Die Bourgeois selbst befinden sich
hauptsächlich außerhalb der Verwaltungsorgane und befassen sich nach
wie vor mit ihrem Hauptgeschäft. Bei Bürokraten (und bei Verwaltern
überhaupt) ist es anders: Sie sind geschlossen, mit Leib und Seele in der
Politik. Das ist ihr Hauptgeschäft: Verwalten, politische Entscheidungen
treffen, Befehle erteilen und diese ausführen. Zweitens hat die Bourgeoisie ihre
Fabriken, ihre Geschäfte, ihr Eigentum, ihren Reichtum hinter sich. Dies
ist nicht nur eine wichtige Quelle ihrer Kraft und ihres Einflusses, sondern
auch die Grundlage ihrer Unabhängigkeit vom Staat und voneinander.
Für die Bourgeoisie ist eben dieser Eigentumsstatus wichtiger als ein Platz
im Staatsapparat. Die Bürokraten haben jedoch nichts dergleichen hinter
sich; sie haben nur ihre Posten und die damit verbundenen Befugnisse. Eben das
und nur das macht sie zu den Mitgliedern ihrer Klasse. Ohne Posten ist man kein
Verwalter mehr. Und um einen Posten zu bekommen, braucht man (bei Nichtexistenz
von Wahlen) anfangs nur Kraft. Sowohl die Position dieser Klasse in der
Gesellschaft als auch die Position eines einzelnen Verwalters im Staatsapparat
wird durch Stärke bestimmt. Hinter den Bürokraten, vor allem den
„klassischen“, steht letzten Endes nur ihre unmittelbare Kraft (die Anzahl der
Kämpfer, über die sie verfügen). Ihr Kampf sowohl mit den
anderen Klassen der Gesellschaft, als auch untereinander (darum, wer am
Kopfende des Tisches sitzen soll) wird letztlich auf dem Schlachtfeld,
sozusagen im kriminellen Gezerre ausgetragen. (Kein Wunder, dass die
Bürokraten leicht eine gemeinsame Sprache mit den Banditen finden: Sie
sind vom gleichen Schlage). DAS ERNENNUNGSSYSTEM
Der bürokratische Staatsapparat ist also, ich wiederhole, hierarchisch
aufgebaut. Oben befinden sich die Stärkeren, unten die Schwächeren.
Das bedeutet, dass diejenigen, die unten sind, nur mit Zustimmung derjenigen,
die oben sind, zum Staatsapparat gehören. Während in einer Demokratie
die Zugehörigkeit zu den Verwaltern durch den Willen der Wähler
bedingt ist, wählen im bürokratischen System im Gegenteil die Chefs
ihre Untergebenen, also die Mitglieder des untenstehenden Apparats. Das System
wird in der Tat nicht durch Wahlen, sondern durch Ernennung geprägt
(obwohl ja rein formal derjenige, der seine Untergebenen ernennt, diese, könnte
man sagen, aus einer Reihe von
möglichen Kandidaten wählt). Die bürokratische Bildung des Apparats besteht eben in diesem
Verfahren der Ernennung von untergeordneten Stellen durch übergeordnete.
Eigentlich ist das nichts anderes als ein System des Vasallentums. Die Chefs
ernennen hierbei Untergebene im Bereich der gesamten hierarchischen
Dienstpyramide, natürlich außer in den beiden Randstufen, der
niedrigsten und der höchsten. Am unteren Ende wird niemand ernannt, weil
diese Stufe bereits direkt an das gemeine Volk angrenzt, und den Obersten kann
im Gegenteil niemand ernennen, denn er ist ja der Stärkste. Wer sollte ihn
denn ernennen? Er ist ja sakrosankt (Es geschah
relativ selten, dass Zaren durch Gremien
der Adligen, geschweige denn durch Volksversammlungen gewählt wurden).
Dann wird die Ernennung de facto, de jure und auch ideologisch bekräftigt.
Erstens durch die Einführung von Rechtsnormen durch den Stärksten
(unterstützt durch seine Satrapen und mit Zustimmung des
größten Teils der Bürokratie). Zweitens geschieht das durch der
Gesellschaft aufgezwungene Sichtweisen über „das universelle Gesetz des Reichs der Mitte“,
über die Legitimation des Monarchen als des Herrschers „von Gottes Gnaden“ (was durch seine
Salbung zum König durch „Stellvertreter Gottes auf Erden“, Päpste,
Gebieter und andere kirchliche Würdenträger aller Art anschaulich
bekräftigt wird). So werden mit der Zeit die Oberhoheit und die damit
verbundenen Machtbefugnisse des Hauptbürokraten einerseits als
traditionell und heilig angesehen und von allen bedingungslos anerkannt und
andererseits als lebenslänglich und vererbbar behandelt. Manchmal kann
deswegen nicht einmal der stärkste Bürokrat an die Spitze des
Apparats gelangen: Die Autorität der etablierten Tradition überwiegt
in den Augen der Untertanen oft die reale Macht. Die Unterstützung durch
die „Volksmeinung“ sowie die Bereitschaft der Massen, sich einer konkreten Person
unterzuordnen, sind ja auch nicht zu unterschätzen. DIE WURZEL DER
MACHT Ich betone noch einmal, dass das Recht, die Apparatschiks zu ernennen und
zu entlassen, nichts anderes ist als das Mittel, diese zu kontrollieren. Das
ordnet sie dem Willen dessen unter, der über dieses Recht verfügt, in
unserem „bürokratischen“ Fall also den übergeordneten Stellen.
Genauso wie in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung die Bevölkerung
die Staatsdiener durch deren Ernennung nach Wahlen abhängig macht,
hängen in der bürokratischen Gesellschaftsordnung die Verwalter von
denjenigen ab, die sie ernennen. Die ernannten Verwalter haben ihren Schirmherren sowohl die
Zugehörigkeit zum Apparat an sich und die Position darin, als auch die
Chancen zu verdanken, die Karriereleiter hinaufzugelangen oder (leider)
hinunterzufallen. Solche Menschen hängen natürlich am Mund ihrer
Gönner und unterstützen sie direkt in ihrem Kampf um einen Platz auf
dem „Verwalter-Olymp“. Und umgekehrt: Es ist klar, dass die Gönner ihre
Untergebenen (Vasallen) nicht nach der Augenfarbe (und nicht einmal nach ihrer
beruflichen Eignung, höchstens nach ihren kämpferischen
Qualitäten), sondern nach der persönlichen Loyalität
auswählen. Die Schirmherren
sind vor allem an der Stärkung ihrer eigenen Position im Kampf um die Macht
interessiert, und das wird einerseits durch die Anzahl der Untergebenen
bestimmt (wer mehr „Kämpfer“ hat, der ist stärker). Das hat eine
ständige unkontrollierte Aufblähung jeglichen Verwaltungsapparats zur
Folge. Andererseits ergibt sich diese Stärkung aus der persönlichen
Ergebenheit der „Kämpfer“ ihrem „Heerführer“ gegenüber. Daher ist das Recht (und vor seiner
gesetzlichen Festlegung die praktische Möglichkeit), untergeordnete
Apparatschiks zu ernennen, der wichtigste Machthebel. Dementsprechend hält
derjenige, der diesen Hebel besitzt, d.h. der „Personalleiter“, die
Antriebsriemen der Macht in seinen Händen. Die Machthierarchie ist nichts
anderes als die Hierarchie der Ernennungen. Der gesamte Staatsapparat ist dem
„Obersten Ernenner“ unterstellt. Und als der Führer der Bürokratie
erweist sich immer (wenn nicht gleich, dann doch letzten Endes) der „Personalleiter“,
also derjenige, der tatsächlich die anderen Apparatschiks ernennt. WER HAT DIE REALE
MACHT IM BÜROKRATISCHEN SYSTEM? Dies wird durch folgende Fakten deutlich . Wie wird das Recht (die
Möglichkeit) zu ernennen erworben? Im Allgemeinen, wie gesagt, wird es mit
Gewalt erobert. Aber alles Weitere kommt auf den Grad der Spezialisierung
konkreter Bürokratien an. Im klassischen Fall, d.h. in den antiken und
mittelalterlichen Gesellschaften, in denen der Verwaltungsapparat noch kaum
differenziert ist, gehören die Personalangelegenheiten zusammen mit allen
anderen Befugnissen und Aufgaben zum Vorrecht ihres Oberhaupts (des Zaren,
Königs, Pharaos, Padischahs, Wangs, Kaisers etc.) Jedoch in komplexeren
Gesellschaften, in denen der Staatsapparat erstens zahlenmäßig viel
größer ist und zweitens beruflich in Abteilungen aufgeteilt werden
muss, bilden die Personalverantwortlichen manchmal auch eine Sonderabteilung
der Apparatschiks mit ihrem jeweiligen Leiter. Bei fehlender Demokratie
reißt sich eben diese Mannschaft allmählich die ganze Macht in der
Gesellschaft unter den Nagel und eben deren Führer wird zum höchsten
Machthaber in der jeweiligen Bürokratie. Das geschah so zum Beispiel
mehrmals in Sowjetrussland. Warum bezwang der durch nichts
brillierende Stalin mit seiner Truppe von Mittelmäßigen im heftigen
Clan-Kampf die deutlich talentierteren und angeseheneren Trotzki, Kamenew,
Sinowjew, Bucharin und ihresgleichen (die darüber hinaus leitende
Staatsposten bekleideten)? Ganz einfach: Weil den „Eisenhintern“ (Lenins
Aussage über Molotow) ganz naiv die langweilige Angelegenheit der lokalen
Personalarbeit anvertraut worden war. Im Ergebnis setzten sie überall ihre
Anhänger ein und sicherten sich damit eine Mehrheit in allen leitenden
Behörden und bei allen Parteitagen. Warum überrollte der törichte
Chruschtschow die viel einflussreicheren Malenkow, Molotow, Woroschilow und
andere? Aus dem gleichen Grund. Man hätte ihn nicht auf den
„sekundären“ (so hieß das in der damaligen Rangordnung: Seine
ungebildeten Mitstreiter hatten ja keine Lehren aus Stalins Erfahrung gezogen)
Posten des Leiters des ZK-Sekretariats setzen sollen, ihm also nicht wiederum
die gleiche langweilige und „rein technische“ Arbeit mit dem Personal
überlassen sollen. Natürlich wiederholte sich die Geschichte eins zu
eins. In Kürze bekleideten Chruschtschows Schützlinge alle lokalen
Posten, und Molotow, Woroschilow u.a. wurden in den Ruhestand versetzt. Aber noch amüsanter ist, dass auch
Chruschtschow selbst aus seinem politischen Erfolg keine Lehren zog. Er
ließ sich zu internationalen Auftritten hinreißen und vertraute
damit letzten Endes Breschnew die Rolle des Personalleiters an; die (für Chruschtschow)
traurigen Folgen blieben natürlich nicht aus (wobei sicher auch die
allgemeine Unzufriedenheit der Bürokratie mit Chruschtschows Politik viel
zu seinem Sturz beigetragen hat). Ich wiederhole, in jedem
bürokratischen System herrscht in Wirklichkeit derjenige (oder hat die
größten Siegeschancen im Clan-Kampf, bis alles bereinigt ist), der
für die Kader-Ernennung zuständig ist und überall seine
Anhänger einsetzen kann, und durchaus nicht derjenige, der den Apparat de
facto leitet, also die Entscheidungen trifft, Anweisungen gibt und für
deren Umsetzung sorgt, ohne jedoch dabei über Personalbefugnisse zu
verfügen. Aber viele Leute lassen sich eben durch die äußeren
Machtmerkmale irreführen und glauben, dass die Macht nur dadurch
gekennzeichnet ist. Diese scheinbare Macht überschattet in unseren Augen
oft die tatsächliche. ZUSAMMENFASSUNG
Das politische System der Bürokratie zeichnet sich also durch zwei
wesentliche Punkte aus. Zum einen hat diese Klasse (der Staatsapparat) eine
hierarchische Struktur, die nicht nur den Anforderungen der
Verwaltungstätigkeit entspricht, sondern auch eine Hierarchie der
Stärke ihrer Mitglieder widerspiegelt. Daher befindet sich natürlich
der stärkste Bürokrat an der Spitze dieses Zikkurats
(Stufenpyramide), der damit über die maximal möglichen Befugnisse
verfügt und in seiner Macht vollkommen ist (die Macht ist eben gleich der
Stärke, der Fähigkeit, den anderen seinen Willen aufzuzwingen). Im
Idealfall handelt es sich hierbei um einen Diktator, der tun und lassen kann,
was ihm in den Sinn kommt. Mit anderen Worten, wir haben hier eine harte
Zentralisierung der Verwaltung, die sog. „Machtvertikale“, worin letztlich
alles vom höchsten Hierarchen „handgesteuert“ wird und von seinen Launen
abhängt (natürlich nur insoweit, als es die Dominanz und das
Wohlergehen seiner Klasse im Allgemeinen nicht bedroht, d.h. den Basisschichten
des Apparats nicht schadet und den Führer dann ohne deren
Unterstützung lässt). Zum anderen ergibt sich aus der
gleichen hierarchischen Machtstruktur der Bürokratie, dass ihre
schwächsten Mitglieder nur nach dem Willen der stärkeren so schwach
sind. Die Vorgesetzten entscheiden hierbei, wer die niedrigeren Stufen des Zikkurats
besetzt; mit anderen Worten, diese Vorgesetzten sind es, die für entsprechende
Ernennungen zuständig sind. Die Machtverteilung innerhalb des
Staatsapparats kommt eben in der Ernennungshierarchie zum Ausdruck und
läuft letztlich immer darauf hinaus. Derjenige, der ernennt, ist für
den zu Ernennenden der Chef, d.h. der Oberherr. Ebenso kommt die Herrschaft dieser
Klasse in der Gesellschaft in deren Selbsternennung zum Ausdruck. Sie „ernennt“
sich selbst zum Verwalter, d.h. sie maßt sich wiederum das Recht an zu
verwalten. Das einfachste zeitnahe Beispiel für eine solche gewaltsame
Machtergreifung ist die Entfernung von Wahlbeobachtern
mit Hilfe der Polizei. In so einer Situation ist die Bürokratie
gegenüber der Bevölkerung natürlich weder kontroll- noch
rechenschaftspflichtig; im Gegenteil, sie ist machtvollkommen. Dabei erfolgte die genannte
Selbsternennung in der klassischen Epoche des Bürokratismus vorwiegend von
selbst, ohne besonderen Aufwand. Zu dieser Zeit dachte einfach niemand an
Demokratie. Was für Wahlen hätte es auch in der primitiven und
atomisierten Bauerngesellschaft geben können? Sie wären technisch
einfach unmöglich gewesen, ganz zu schweigen von den weit wesentlicheren
Hindernissen: der Ignoranz, völliger politischer Ohnmacht und Armut der
Bauern. Tatsächliche Probleme erschienen bei der Klasse der Verwalter erst
dann, als die Entwicklung der Produktion neue soziale Schichten mit Machtansprüchen
hervorbrachte, als also die sogenannte Zivilgesellschaft entstand. Hier musste
(und muss bis jetzt) die Bürokratie schon strampeln, indem sie sich auf
jede Art und Weise gegen die Übergriffe auf das Allerheiligste, die
Selbsternennung (sprich auf die Dominanz in der Gesellschaft) wehrt. Wie tut
sie das? 3. Die Monopolisierung von
Kraftfaktoren DER SPRINGENDE
PUNKT Jede Politik, die auf die Aufrechterhaltung der Macht einer bestimmten
Klasse gerichtet ist, läuft letztlich, wie oben erwähnt, auf eine Verteilung von Kraftfaktoren hinaus, bei der
die Herren so viel wie möglich und die Ausgebeuteten und
Unterdrückten so wenig wie möglich solcher Faktoren besitzen. Das
Gleiche tun selbstverständlich auch die Bürokraten. Ihre Hauptaufgabe
besteht darin, sich selbst zu stärken und die Untergebenen zu
schwächen, und zu diesem Zweck wird ein ganzes Arsenal von Tricks
verwendet (einschließlich der Verabschiedung von einschlägigen
Gesetzen und deren Durchsetzung). DIE BE- UND
ENTWAFFNUNG Der einfachste und naheliegendste dieser Tricks ist die Bewaffnung
der Herren und die Entwaffnung der Untergebenen, also die Monopolisierung des
Rechts auf Waffenbesitz. Zu allen Zeiten haben die Bürokraten darauf
genau geachtet; sie verwehren allen außer sich selbst den Waffenbesitz,
sprich die Anschaffung, Lagerung und vor allem den Gebrauch von Waffen. Im
Mittelalter wurde das gemeine Volk für Vergehen dagegen auf der Stelle
bestraft, und auch heute wird das in den Strafgesetzbüchern als Verbrechen
betrachtet. Der Zugang von Nichtbürokraten zu Waffen ist streng begrenzt, gewiss unter dem
passenden Vorwand der öffentlichen Sicherheit: „Was sagen Sie! Wie sollte
das denn erlaubt sein?! Sie werden sich doch gegenseitig über den Haufen
schießen!“ DIVIDE ET IMPERA
Der nicht weniger alte und beliebte Trick ist Politik nach der Maxime „Divide et impera“. Diese Taktik ist
überhaupt der Lieblings-Dreh der Bürokraten (genauso wie der aller
anderen „Hegemonen“), ihr Firmenzeichen, ihr Klassiker. Sie benutzen ihn auch
bei ihren internen Querelen. In Bezug auf die Gesellschaft wird die genannte
Taktik ebenfalls „am laufenden Band“ angewendet. Doch zunächst, ich wiederhole,
brauchte man kaum jemanden zu „spalten“ : die Bauern waren ohnehin
desintegriert. Aber mit der Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft,
mit dem Auftreten von unerwünschten Bourgeois und anderen Bürgern,
die zivilgesellschaftliche Keime darstellten, erlangte die
Politik der Desintegration der untergebenen Bevölkerung, der
Volksverhetzung, für die Bürokraten eine besondere Relevanz und wurde
zur Tradition. Insbesondere in der Sowjetunion wurden immer wieder Bauern und
Bourgeois, Arbeiter und Bauern, Jugendliche und ältere Leute,
Gläubige und Ungläubige usw. gegeneinander ausgespielt. Auch in der
Neuzeit wurde diese Taktik
wieder angewendet, sobald unsere modernen Bürokraten eine Bedrohung ihrer
Macht durch die nächstbesten „zornigen
Bürger“ verspürten[26]. IHR SEID KLEINE
LEUTE, VON EUCH HÄNGT NICHTS AB Ein anderer taktischer Schachzug, die
Untergebenen zu schwächen, ist die Unterdrückung all ihrer Versuche,
unabhängig zu sein. Die Bürokratie gibt sich Mühe, den Regierten
jegliche Möglichkeit und selbst den Wunsch zu entziehen, etwas selbst,
ohne ihr Wissen, ihre Erlaubnis und ihre „feinfühlige Führung“ zu
tun. Sie stellt sich extrem feindselig gegen jede Initiative der
Bevölkerung (z.B. gegen Aktionen der Ehrenamtler) und versucht, so gut es
geht, diese im Keim zu ersticken („Stört die Profis nicht!“). Die
Bürokratie hämmert den Menschen (sowohl praktisch, als auch durch
ihre Propaganda) eine einzige (für sie unbezahlbare) Maxime ins
Bewusstsein, dass alles, was nicht erlaubt, verboten ist. Wenn es keine
Genehmigung des jeweiligen Vorgesetzten gibt, dann geht es auf keinen Fall!
Initiative ist strafbar! Jede Aktivität darf nur mit höchster
Genehmigung und unter der direkten Aufsicht des nächsten Polizisten
existieren. Hilflose Menschen, die es nicht wagen
(und im Idealfall auch gar nicht können), einen Schritt ohne Anweisung von
oben zu machen, - das ist der sehnlichste Wunsch der herrschenden (im
Übrigen eigentlich aller) Apparatschiks. Sie brauchen eine Herde, in der
sie die Hirten sind, und tun alles dafür. Die Bürokraten legen es
darauf an, das Leben ihrer Untergebenen selbst in jenen Bereichen zu regeln,
die scheinbar ganz privat sind. Ich meine, dass sie nicht nur die Menschen
daran hindern bzw. ihnen verbieten, irgendetwas selber zu tun, sondern sie
bemühen sich, alle ihre Aktionen zu lenken. Die Bürokratie ist
bestrebt, sich mit ihren Fühlern so weit wie möglich ins Leben der
Menschen hineinzudrängen; sie dringt mit ihren Regeln und Verordnungen
durch alle Ritzen ein, bis hin zu den Anweisungen, wer wen lieben und wer mit wem schlafen
darf. Mit anderen Worten, die Bürokratie versucht auf jede erdenkliche Art
und Weise, den Umfang ihrer Befugnisse zu erweitern und den Verwaltungsgrad der
ihr untergeordneten Gesellschaft zu erhöhen. DER WIDERWILLE
GEGEN DIE BOURGEOISIE Aus diesem Grunde sind die Bürokraten gegen die
Bourgeoisie eingenommen und treten gegen den Markt und das Privateigentum
(natürlich außer ihrem Eigentum) mit Härte auf. Dieser
Widerwille entsteht bei ihnen rein instinktiv, lange bevor das Bürgertum
stark genug wird, um sich in den Kampf um die Macht einzulassen. Es reicht,
dass die Bourgeoisie eine Klasse von Individualisten ist, initiativreich und
unabhängig schon nach der Art ihrer Aktivitäten. Der Markt und das
Privateigentum bilden die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit
vom Staat. Die Bourgeoisie braucht keinen „guten Zaren“. Sie verlässt sich
immer nur auf sich selbst. Die Bürokratie fühlt sich deswegen tief
gekränkt und kämpft mit der Bourgeoisie, so gut sie kann, bis hin zu
ihrer vollständigen Vernichtung als Klasse. HINDERNISSE
FÜR DIE BILDUNG DER ZIVILGESELLSCHAFT Aber zurück zur Politik der
Bürokratie bezüglich der Verteilung von Kraftfaktoren. Worum noch
versucht sie ihre Untergebenen zu bringen? Ihr nächstes Ziel an diesem
Schießstand ist die Selbstorganisation der Bevölkerung. Der hohe Organisationsgrad von Regierten
ist für die Bürokraten noch gefährlicher als deren
Selbständigkeit. Das wäre ja gar ein Schritt in Richtung
Selbstverwaltung, also die Negation des Bedarfs an Verwaltern an sich, ein
Attentat auf das Allerheiligste. Allerdings ist für uns der Organisationsgrad
nur als Kraftfaktor wichtig. Die durch die Organisation vereinten Massen
bedeuten eine direkte Bedrohung für die Allmacht des Staatsapparates. Man
darf also deren Selbstorganisation auf keinen Fall zulassen. Daher
unterdrückt die Bürokratie sie mit allen Mitteln (bis hin zu
Erschießungen), unter jedem Vorwand (bis hin zu eklatanter Demagogie in
der Art: „Nicht kommerzielle Organisationen[27]
sind ausländische Agenten“) und in allen Formen (begonnen schon
beim einfachsten Ausdruck organisierter Aktivitäten von Bürgern wie
Kundgebungen, Versammlungen, Demonstrationen usw.). Die Bürokratie errichtet Hindernisse für die Bildung der
Zivilgesellschaft überall, wo es möglich ist, in welcher Form
auch immer eine solche Gesellschaft aufkommt. All diese Ehrenamtler,
Menschenrechtler, Mütterverbände etc. sind für die
Bürokraten wie eine Gräte im Hals. Also weg mit ihnen! Verbieten,
zerdrücken, Regeln aufstellen, dass sie nicht mehr atmen können oder,
wenn sich eine Chance bietet, einfach vernichten. Das Richtigste wäre,
alle Initiativen im Keim zu ersticken (wie das in der Sowjetunion der Fall
war), ohne überhaupt darauf zu achten, was genau da wächst. Die
Selbstorganisation muss im Idealfall in allen ihren Formen, nicht nur in den
zivilen, sondern auch den nationalen, religiösen, ethnokulturellen,
beruflichen usw. unterdrückt werden. Je desintegrierter die Massen sind,
desto besser für die Bürokraten. WENN MAN EINE
BEWEGUNG NICHT VERNICHTEN KANN, DANN SOLL MAN DIE REGIE ÜBERNEHMEN Und
wenn die Kräfte nicht ausreichen, um die Organisation der Untergebenen
komplett auszulöschen, eignet sich ein Trojanisches Pferd unter dem Motto
„Wenn man eine Bewegung nicht vernichten kann, dann soll man die Regie
übernehmen“ - und diese Bewegung in die richtige Richtung führen. Das
ist auch ein alter und bewährter Trick. Dies wird realisiert einerseits durch
das Eindringen in die Führung von Massenorganisationen, durch Bestechung
ihrer Führer, durch Provokationen, durch Verbreitung falscher
Informationen, die dafür ausgelegt sind, einen überraschenden Effekt
zu erzielen, und andererseits durch die Schaffung von Fake-Strukturen, die die
Selbstorganisation der Bevölkerung imitieren, die breite Masse verwirren und
ihr die Freude daran nehmen, mit solch
einer unklaren Sache überhaupt etwas zu tun zu haben. Die Bürokratie
hat es gern, wie gesagt, zum einen die Initiative an sich zu reißen, alle
Vorhaben der Menschen unter ihre Kontrolle zu bringen (und diese Vorhaben je
nach Umstand auszuhöhlen). Zum anderen versuchen die Bürokraten,
alle, die sie betrügen können, zu mobilisieren, für sich zu
gewinnen (und dann natürlich diesen Teil der Gesellschaft auf ihre
politischen Gegner loszulassen). NUR EIN DUMMER
INDIANER IST EIN GUTER INDIANER[28] Der
Schlüssel zum Erfolg all dieser Aktivitäten sind die Unwissenheit und
Knechtschaft der Massen. Gebildete Menschen sind nicht so leicht zu
täuschen. Man kann ihnen nicht schwarz für weiß vormachen; man
kann sie nicht mit dem kurzen Kommando
„Fass!" auf die Gegner des Regimes loslassen. Daher sind die
Bemühungen der Apparatschiks verständlich, die Untergebenen hinters
Licht zu führen, die Bildung abzubauen und zu klerikalisieren und gegen
Aufklärung, Wissenschaft, überhaupt gegen Intellektuelle (die, die
sich nicht kaufen lassen) als Träger von Kultur, Wissen und anderen
(für Bürokraten) unangenehmen Dingen zu kämpfen.
Verständlich ist auch der Wunsch der Bürokraten, die Köpfe mit
der für sie günstigen Ideologie heiß zu machen: In einem Fall
mit einem falschen Marxismus, im anderen mit Religion (die natürlich der
Herde mit der nötigen Sauce serviert wird). Ungebildete Bürger sind
einfacher zu verwalten. Das Volk soll zum Gesindel werden (insbesondere, wenn
es im Prinzip kaum gebraucht wird, also wenn das Wohlbefinden der Apparatschiks
nicht durch die Arbeit der Untergebenen erreicht wird, sondern einfach durch
das Abpumpen von Erdöl und -gas aus den Lagerstätten des
kontrollierten Gebiets). DER EINFLUSS AUF
DIE GEMÜTER Der Erfolg der Gehirnwäsche erfordert wiederum eine
entsprechende Sicherung. Erstens wird die Zensur eingeführt, die anonyme
Geldüberweisung, vor allem aus dem Ausland, verboten, die Geschäfte
der Opposition vernichtet u.a.m., damit es bei denen, die sich dieser Politik entgegenstellen,
so wenig wie möglich Freiheit und Ressourcen gibt. Zweitens braucht man talentierte
Menschen, um diese Aufgaben zu erfüllen. Talent ist gefragt, um denkende Menschen in Hutformen zu verwandeln, denen man alles
überstülpen kann. Daher
ist es ratsam, einen Teil der Intellektuellen zu kaufen (den, der sich kaufen
lässt) und diesen zum Propagandisten und Agitator der Bürokratie zu
machen. Schließlich ist es drittens
notwendig (und das ist das Wichtigste), die technischen Mittel des Einflusses
auf die Menschen zu monopolisieren. Das wird durch die Verstaatlichung der
Medien, die Kontrolle über das Internet usw. erreicht (das Letztere
bezieht sich auf die heutige Lage: Goebbels begnügte sich mit dem Radio
und der Presse). ÜBERALL SIND
FEINDE! Ich gehe im Einzelnen auf den Standardtrick der Desorientierung von
Untergebenen ein, wie es die Einimpfung der Behauptung ist, dass es ringsumher
lauter Feinde gibt. Das nützt den Bürokraten aus einer ganzen Reihe
von Gründen. Erstens handelt es sich um die schon erwähnte Volksverhetzung, wobei
natürlich der unwissendste Teil der Gesellschaft gegen den
fortschrittlichen ausgespielt wird. Die Bürokratie erklärt
selbstverständlich alle ihre persönlichen Feinde zu Feinden des
Volkes, des Staates, der Gesellschaft und versucht, diese nicht nur selbst zu
vernichten, sondern sich auch mit fremden Federn zu schmücken und Pogrome
durch die scharf gemachte Menge zu
inspirieren. Das alles ist so alt wie die Welt und so aktuell wie die gestrigen
Nachrichten. Zweitens schafft das Geschrei darüber, dass es ringsumher Feinde gibt,
einen passenden Hintergrund dafür, die Schrauben fester anzuziehen. Man müsse sich um den lieben Führer,
die einzige Hoffnung, scharen, sonst könne man nicht durchhalten! In
dieser schweren Stunde verlange der Patriotismus es angeblich, alle
Sonderinteressen zurückzustellen. Denk zuerst an die Heimat und erst dann
an dich selbst[29]
etc. im Sinne von: Der Patriotismus ist das letzte Instrument der
Bürokraten, und sie selbst sind dabei die größten Patrioten. Es ist verständlich, dass für all dies ein externer Feind am
besten geeignet ist: Er wirkt als Gefahr überzeugender. Was sind schon
interne Randsiedler, diese Schmarotzer, die sich in den Löchern
verkriechen und nicht rauskommen wollen, wie man sie auch lockt! Deswegen ist
natürlich der „heimtückische“ Westen der Hauptfeind, der angeblich
ständig davon träumt, uns unsere Reichtümer wegzunehmen. Jedoch
wenn es gerade einmal nicht passend ist, sich mit den mächtigen Feinden
auf der ganzen Welt zu streiten, reichen auch kleinere, z.B. „Extremisten“
(d.h. diejenigen, die es wagen, sich negativ über die Herrscher zu
äußern). Es ist so bequem, sich auf den Kampf mit ihnen zu berufen
und die Wählbarkeit abzuschaffen, den Stellenplan der Sicherheitsdienste
aufzublähen, den Geheimhaltungsgrad zu vergrößern und sonstige
aktuelle politische Aufgaben zu lösen. Drittens geht es nicht nur darum, die Schrauben anzuziehen. Das Volk muss unter der Führung der
Bürokratie früher oder später auch den Riemen enger schnallen.
Es mangelt immer mehr an Nahrung oder der Lebensstandard geht in jedem Fall
zurück, verglichen mit anderen Gesellschaften. Die Unzufriedenheit
wächst, da muss man sie einerseits verwischen und andererseits auf jemand
anderen umleiten. Selbstverständlich wird die Verschlechterung des
Lebensstandards nicht durch Fehlkalkulationen, Diebstahl und die
volksfeindliche Politik der Bürokraten, sondern durch die „Machenschaften
der Feinde“ im In- und Ausland erklärt, und die Unzufriedenheit der Massen
wird auf sie kanalisiert. Sie haben alles zu verantworten! Kurzum, es ist sehr
praktisch, Feinde zu haben. Yankees, Kommunisten, Oppositionelle, Bonzen,
Juden, Kaukasier, Kreative, Verräter der Nation. Was nur würde die
Bürokratie ohne sie tun? Wie würde sie das Volk zum Narren halten können? DIE SORGE UM DIE
MACHT Alles Obengenannte charakterisiert die Politik der Schwächung der
regierten Bevölkerung. Aber damit ist die Sache natürlich nicht
getan. Parallel dazu sind die Bürokraten um ihre eigene,
hauptsächlich die militärische, Stärke besorgt.
In der klassischen Epoche war das recht einfach: Die Verwalter stellten damals
die Hauptstreitmacht dar, und darum bestand ihre auf die eigene Stärkung
abzielende Politik lediglich darin, ihre Kriegskunst in jeder Weise zu
perfektionieren, sich bis an die Zähne zu bewaffnen, befestigte Burgen zu
bauen usw. Heute allerdings sind die „Silowiki“ (vor allem ihr mittleres und leitendes
Offizierskorps) ein separates Aufgebot der Bürokratie. Alle anderen
Apparatschiks befassen sich entweder mit der Wirtschaft, der Diplomatie, der
Kultur oder ähnlichem „Unsinn“; die Sorge um die Festigung der
militärischen Macht steht nach wie vor im Vordergrund der Staatspolitik.
Dabei geht es jetzt vor allem nicht um die Beraubung der Nachbarn (was in den
alten Tagen gängige Praxis war, heute jedoch recht beschwerlich ist) sowie
um den Schutz der eigenen Grenzen, sondern vielmehr um die Bewahrung der
herrschenden Stellung der Bürokratie in der Gesellschaft. Am wichtigsten dafür sind die inneren Truppen; dabei handelt es sich
um Kadertruppen und nicht um solche, die aus der Bevölkerung rekrutiert
werden. Mit der regulären Armee ist in diesem Sinne kaum etwas anzufangen.
Dort dienen bis heute (z.B. bei uns) größtenteils Wehrpflichtige,
Kinder des einfachen Volkes. Sollte es irgendwelche internen Wirren geben, ist
es gefährlich, sich auf sie zu verlassen. Allerdings hält die
Bürokratie für alle Fälle zahlenmäßig große,
gut bezahlte und ideologisch getrimmte Kräfte in ständiger
Einsatzbereitschaft wie die Bereitschaftspolizei, Kosaken, Mitarbeiter der
Sicherheitsdienste, Gendarmen etc., also diejenigen, die einen permanenten
„Zarendienst“ ableisten und deren unmittelbare Aufgabe es ist, die bestehende
Ordnung gewaltsam zu schützen. Die Bluthunde des Regimes sollen in jeder
Hinsicht in guter Form sein, um unter Umständen ihre Bestimmung zu
erfüllen. DIE
PROTEKTIONSPOLITIK Schließlich ist der Bürokratie in der Regel eine
rührende Sorge um die Erhaltung der bäuerlichen Gesellschaft eigen,
weil diese die für das Gedeihen der Verwalter am besten geeignete soziale
Basis ist. Lediglich die Sowjetunion war hierbei eine Ausnahme. Dort fanden die
Bürokraten bei der ungebildeten und kopflos gemachten Arbeiterklasse
Unterstützung (Im Übrigen war diese wiederum nichts anderes als die
vormalige Bauernschaft.). Die Bürokraten aller Zeiten und
Völkerschaften können allerlei Händler, Geldwechsler, Wucherer,
Handwerker nicht ausstehen (vor allem diejenigen, die auf dem Markt arbeiten,
anstatt bei ihren Herren in Lohn und Brot zu stehen). Sie sind verpönt,
werden zu feindlichen Elementen erklärt (Im Grunde genommen wurde der
Begriff „Feinde des Volkes“ nicht in der Sowjetunion erfunden.), kurzum, sie
werden als soziale Fremdlinge drangsaliert (und die Bauern als sozial nahestehende
Elemente begrüßt). Politische Zentralisatoren in China waren z.B. immer misstrauisch
gegenüber Händlern und Handwerkern, lobten jedoch tüchtig die
Bauern, deren Analphabetismus, Armut und Zwietracht sie zu einem in jeder
Hinsicht idealen Objekt der bürokratischen Ausbeutung machten. Der
chinesische Reformer Shang Yang († 338 v. Chr.) lehrte: „Wenn das
Volk dumm ist, lässt es sich leicht verwalten.“ Nach seiner fachkundigen
Meinung sind bei einem schlechten Herrscher „die Beamten durch [diffuse] Reden
verwirrt, und das gemeine Volk ist faul geworden und befasst sich daher nicht
mit dem Ackerbau.
Daher passierte folgendes: Das ganze Volk des Landes hat sich verändert,
sich Beredsamkeit angewöhnt, ist im Handel tätig, begann Freude am
Lernen zu finden, [verschiedenes] Handwerk zu meistern und gleichzeitig den Ackerbau und den
Krieg zu meiden... Wenn Wirren entstehen, ist der Staat leicht zu
zerstören, weil Wissenschaftler die Gesetze hassen, Kaufleute sich
angewöhnt haben, [ständig] ihren Wohnsitz zu ändern, und es
[nicht so einfach] ist, Menschen auszunutzen, die [verschiedenes] Handwerk
gemeistert haben." „Ein Weiser kennt das Wesen der guten Staatsverwaltung,
und darum lässt er die Menschen alle ihre Gedanken wieder auf den Ackerbau wenden. Und wenn
alle Gedanken dem Ackerbau zugewandt sind,
sind die Menschen einfältig und lassen sich leicht verwalten.“ Ein solches
Volk „ist für die Verteidigung und für den [offensiven] Krieg leicht
zu nutzen“. Die Massen „werden weniger lügen und ihren Wohnsitz seltener
wechseln... In der Tat, wenn die Menschen von morgens bis abends im Ackerbau beschäftigt sind, werden sie den
Herrscher [wie ihren Verwandten] lieben und bereit sein, ihr Leben für die
Ausführung seiner Befehle zu opfern.“ Die Bürokraten lieben also die „Arbeitspferde“ bei weitem nicht erst
seit gestern und schon gar nicht wegen des ihnen anhaftenden abstrakten
Humanismus. Akute Attacken dieser Liebe übermannen die Verwalter dann (und
nur dann), wenn „komplizierte“ Menschen auftauchen, also solche, die ihre
Dominanz in der Gesellschaft gefährden. Vortrag sieben. DIE
BÜROKRATISCHE GESELLSCHAFTSORDNUNG: DIE BÜROKRATISCHE
STRATIFIZIERUNG, DAS SYSTEM DER VERTEILUNG VON GÜTERN UND DIE
BESONDERHEITEN DER VERWALTUNG 1. Die Differenzierung von
Bürokraten und ihre Folgen DIE INTERNE
DIFFERENZIERUNG Alle Bürokraten besetzen als solche eine Nische und sind
einander gleich nach ihrer Position in der Gesellschaft und den sich daraus
ergebenden Interessen in Bezug auf die Gesellschaftsordnung. Wir haben oben
diese Hauptinteressen und die jeweilige Gesellschaftsordnung in ihrem
politischen Teil kurz behandelt. Allerdings sind das eben die allgemeinen
Interessen der Bürokratie. Bei einem konkreteren Herangehen an diese
Klasse ist leicht zu erkennen, dass sie aus vielen verschiedenen Untergruppen
besteht, und jede davon hat außer der allgemeinen klassenbezogenen noch
ihre eigene lokale Nische, eine besondere Position und damit ihre spezifischen
Interessen. Daher ist auch der Kampf dieser Untergruppen untereinander für
die Umsetzung der privaten Interessen (mit allen spezifischen Folgen dieses
Kampfes) unvermeidlich. DIE FUNKTIONALE SCHICHTUNG
Die einfachste Form der Differenzierung der Bürokratie war und ist
selbstverständlich ihre funktionale Spezialisierung auf die Verwaltung von
bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Ich gehe hier nicht auf die
Diversifizierung der Verwalter in der modernen superkomplizierten Gesellschaft
ein, aber auch in der Antike gab es bereits die Aufteilung in Administratoren
(verantwortlich für die gesamte Ordnung in der Gesellschaft, Gerichte,
Gesetze usw.), Heerführer (verantwortlich für den Schutz vor externen
Bedrohungen sowie spezialisiert auf die Ausplünderung der Nachbarn),
Ideologen (verantwortlich für die erwünschte Verdummung der
Bevölkerung, sprich die Einflößung von Gehorsam gegenüber
dem Willen der Vorgesetzten) und in einigen Regionen sogar Wirtschaftsleiter
(welche die Produktion und die damit verbundenen Prozesse verwalteten). Grundsätzlich wurden natürlich alle diese besonderen
Verwaltungsfunktionen in den klassischen bürokratischen Gesellschaften von
den gleichen Funktionären erfüllt (vor allem wenn die
Machtvollkommenheit an der Spitze der bürokratischen Pyramide konzentriert
wurde). Der Zar war Bäcker, Zimmermann und Schuster in einer Person, und
das funktionierte, weil die Gesellschaft einfach und anspruchslos war. Jedoch
unter bestimmten besonderen Umständen kam es manchmal vor, dass eine der
genannten Teilfunktionen nach ihrer gesellschaftlichen Bedeutung in den
Vordergrund trat. Dann verloren erstens die sonstigen Teilfunktionen an
Bedeutung und zweitens spiegelten die allgemeinen Organisationsformen des
Staatsapparats und des Verwaltungsprozesses die Besonderheiten dieser
dominanten Teilfunktion wider. Dabei modifizierte das sicher nur die Charakterzüge
des bürokratischen Systems, ohne auf irgendeine Art und Weise dessen
Gattungsmerkmale aufzuheben, vor allem nicht die hierarchische Struktur des
Staatsapparats, das Ernennungssystem usw. Darüber
hinaus kam es oft vor (vor allem in der Anfangsphase des Reifens der
Bürokratie), dass in der Gesellschaft gleich zwei (oder mehr)
konkurrierende Verwaltungszweige mit der gleichen gesellschaftlichen Bedeutung
auftauchten, z.B. militärische und administrative: Der Führer mit
seinem Gefolge und der Älteste mit seinem Apparat. Selbstverständlich
entstand zwischen ihnen sofort ein Kampf um die Vorherrschaft in der
Gesellschaft, der manchmal jahrhundertelang dauerte (wie zwischen den
Brahmanen, Ideologen und den Kschatrijas, Kriegern in Indien). Im Übrigen
kann das wohl einfach als ein Kampf zwischen den Clans beurteilt werden, die
nach Berufskriterien gebildet werden. Das beeinflusste auch nicht
grundsätzlich (d.h. gattungsmäßig) die Gesamtstruktur des
Staatsapparates und der am Ende durch den Sieger etablierten
Gesellschaftsordnung. Viel wesentlicher war in diesem Sinne nicht die Berufs-,
sondern die hierarchische Schichtung der Bürokratie. BÖSE BOJAREN
STÖREN IMMER DEN „GUTEN“ ZAREN Jeder Verwaltungsapparat im Allgemeinen
(und umso mehr ein bürokratischer) ist, wie bereits erwähnt,
hierarchisch aufgebaut. Er besteht - kurz zusammengefasst - aus dem
Zentralapparat (dem Monarchen und seiner unmittelbaren Umgebung) und einer
Masse von mittleren und unteren Apparatschiks. Die Interessen dieser Schichten
sind bei weitem nicht in allen Punkten gleich, beginnend bei ihrer Einstellung
zur regierten Bevölkerung. Erstens sind zentrale Behörden in dieser Hinsicht im gewissen Sinne
„gönnerhaft“ eingestellt; einfache Bürokraten dagegen sehen die
Produzenten eher als Verbraucher, wenn nicht als Räuber. Der Grund
dafür liegt nicht darin, dass die Herrscher besser sind oder dass sie ihr
Volk mehr lieben, sondern einfach darin, dass sie Leiter des Staatsapparates
sind und eine gewisse Ordnung in der Gesellschaft aufrechterhalten müssen,
u.a. indem sie der Willkür der unteren Apparatschiks das Handwerk legen.
Die zentrale Macht muss definitionsgemäß den Einfluss des
bürokratischen Fußvolkes begrenzen und die Regierten vor ihrer
Willkür schützen. Würde der Zar dies nicht tun, wie sollte sich
dann seine Macht zeigen? Sie würde sich dann tatsächlich in der Hand
lokaler Herrscher befinden. Etwas, was sich nicht manifestiert, gibt es de
facto auch nicht. Also sind zentrale Behörden für die Ordnung in der
Gesellschaft verantwortlich, und sie sorgen auch recht und schlecht dafür.
Diese Ordnung bedeutet objektiv immer Schutz der Schwachen dieser Welt vor der
Ungerechtigkeit der Starken. Zweitens hängt das Wohlergehen der zentralen Macht im Grunde genommen
vom Wohlergehen der untergebenen Bevölkerung, von ihrer
Arbeitsproduktivität, von der Effizienz des Wirtschaftens u.a.m. ab
(insbesondere dann, wenn es keine externen Gewinnquellen wie z.B. aus dem Boden
schießende Erdölquellen gibt). Alle Ressourcen des Zentrums haben
ihren Ursprung in den Steuern. Je mehr Güter erzeugt werden, desto mehr
davon wird dem Monarchen zuteil, und deswegen ist er direkt am Wachstum des
Erzeugten interessiert. Der Herrscher fördert das auch auf jede Art und
Weise, wenn er nicht ganz dumm ist. Das Wohlergehen der einfachen
Bürokraten hängt jedoch von den wirtschaftlichen Erfolgen oder
Rückschlägen der durch sie verwalteten Gesellschaft praktisch gar
nicht ab. Ihr Wohlstand wird einerseits durch ihre Stellung auf der
Hierarchieleiter (sie kämpfen ja auch für die Plätze auf
höheren Stufen) und andererseits durch die Einträglichkeit ihrer
Posten, d.h. durch Korruptionsmöglichkeiten, bestimmt. Warum also sollten
sich die unteren Bürokraten um die Produktion und um die Hersteller
kümmern? Es ist viel einfacher und vorteilhafter für sie, etwas
auszuklügeln, um das Volk zu berauben und ihren Teil aus dem Staatskuchen
herauszuschneiden. Der Zar kann es sich nicht leisten, die Bevölkerung
auszunehmen und ihr mehr wegzunehmen, als es in den durch ihn selbst verfassten
Gesetzen festgelegt ist; für Bojaren ist allerdings kein Gesetz
geschrieben. Der Zar ist nicht imstande, aus der Staatskasse etwas zu
entwenden, weil sie ihm sowieso völlig zur Verfügung steht; der
innigste Wunsch der Bojaren dagegen ist es, in die Taschen des Staates zu greifen. Schließlich darf der Zar
seine Untertanen nicht durch übermäßige Steuern und Raub
ausnehmen, andernfalls würde er bald von der Hand in den Mund leben
müssen. Die Bojaren kümmern sich nicht um solche „Kleinigkeiten“: Ein
einfacher Bürokrat erwirtschaftet meistens seinen Gewinn genau auf diese
Weise. Daher ist der Zar objektiv „gut“ und die Bojaren sind eben böse. Drittens hängt die Macht des Zaren weitgehend von der Einstellung der
regierten Gesellschaft zu ihm ab. Es ist wichtig für ihn, als gerecht,
weise, also als jemand zu gelten, der sich väterlich um das Volk
kümmert etc. Dementsprechend muss der Herrscher manchmal etwas tun, um
diesen Ruf zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Für die Bojaren ist das
jedoch unnötig. Sie lassen sich in ihren Handlungen weder von den
Bedürfnissen des Volkes noch von den Interessen des Staates leiten. Der
Zar kann sein Zarenreich nicht verlassen, ohne den Herrscherstatus zu
verlieren, wobei die Bojaren ohne weiteres den Dienst bei einem anderen Zaren
antreten und sogar höhere Posten, Dienstgrade und einen besseren Status
bekommen können. Die Interessen sowohl des Zentrums, als auch der unteren Bürokraten
sind also von Habsucht geprägt , aber die Mittel, mit denen sie realisiert
werden, sind wegen ihrer verschiedenen Stellung in der Gesellschaft sowie
innerhalb der Machthierarchie unterschiedlich. Daher benehmen sich die Oberen
anständiger als die Unteren. Das Benehmen der einfachen Apparatschiks ist
viel egoistischer, volks- und staatsfeindlicher. DER KAMPF DER
HIERARCHISCHEN SCHICHTEN UND SEINE FOLGEN: DIE RADIKALE VARIANTE Außerdem
divergieren die Interessen der oberen und unteren Schichten des Staatsapparats
auch bezüglich der Verteilung von Vollmachten zwischen ihnen. Der Zar und
sein Gefolge würden natürlich gerne die ganze Macht in ihrer Hand
konzentrieren, alles zentralisieren, eine absolute Kontrolle über die
untergeordneten Apparatschiks ausüben, sowohl hinsichtlich ihrer konkreten
Handlungen, als auch in Bezug auf ihr Schicksal, also ihre Stellung in der
Verwaltungs- und Machthierarchie. Der Zar will, dass seine Bojaren und seine
Adligen völlig von ihm abhängig sind und ihm aus der Hand fressen,
und er stellt das auch sicher. Es versteht sich von selbst, dass die Masse der
Bürokraten eine gegenteilige Ansicht vertritt und ebenfalls versucht,
diese Ansicht praktisch und rechtlich so oder so, je nach den Umständen,
d.h. entsprechend ihren Kräften und anderen Möglichkeiten, umzusetzen
(die logischerweise den Möglichkeiten des Zaren umgekehrt proportional sind). In der radikalsten Variante kämpfen dabei die unteren Apparatschiks
auf jede Art und Weise mit denen an der Spitze um ihre volle Freiheit, um ihr
Recht auf Willkür in Bezug auf die untergebene Bevölkerung, um die
sogenannten feudalen Adelsimmunitäten und -freiheiten, darum dass der Zar
in seiner Politik auf sie Rücksicht nimmt, überhaupt um die
Abwesenheit von Kontrolle vonseiten des Zentrums, eben um
Souveränität (im Sinne des modernen Sprachgebrauchs). Jeder Baron
will Herr in seiner Baronie sein, niemandem gehorchen, sich vor niemandem
bücken, mit niemandem seine Beute teilen - ein durchaus
verständlicher Wunsch, der jeden Respekt verdient. Der Kampf um all das ist jedoch nichts anderes als der Kampf für die
Dezentralisierung und für den Zerfall des Staates. Wichtig ist, dass er
immer von diesem Ergebnis gekrönt wird. Ein beliebiger bürokratischer
Zentralismus geht mit der Zeit zwangsläufig zugrunde und es etabliert sich
die sogenannte feudale Kleinstaaterei. Das ist die gesetzmäßige
Evolution des bürokratischen Regimes. Dieses System dreht sich immer im
Kreis, vom Zerfall zum Zentralismus und vom Zentralismus zum Zerfall. In dieser
Hinsicht ist also die Evolution des bürokratischen Systems zyklisch, und
das ist eine direkte Folge seines rein politischen Charakters, wo die
gesellschaftlichen Zellen (Bauerngemeinschaften) an sich nichts außer dem
bürokratischen Staatsapparat miteinander verbindet, und dieser
Staatsapparat ist auch in keiner Weise innerlich verbunden, außer durch
die Stärke eines konkreten Führers. Sollte er schwächer werden,
kommt der Zentralismus an sein Ende. Und die Stärke jedes Führers nimmt mit der Zeit ab, einfach weil
sie nur auf der Unterstützung der unteren Bürokratie, auf deren
persönlicher Ergebenheit dem Patron gegenüber, also auf ihrer
„Unverdorbenheit“ basiert. Aber diese „Unverdorbenheit“ ist natürlich grundsätzlich
nicht von Dauer, denn die Interessen der oberen und unteren Schichten sind im
o.g. Sinne einander entgegengesetzt.
Der Kampf der unteren Schichten für die Freiheit von der Willkür der
oberen ist an sich eine Verletzung des ursprünglichen
Status quo, des „Gesellschaftsvertrages“, eine Erosion der Grundlage der
zentralen Macht und also deren Schwächung. Wenn dieser Prozess kritische
Ausmaße annimmt, ist die Sache vorbei: Der Staat zerfällt. Der Kampf um die Macht, um einen Platz im Staatsapparat, ist für die
Bürokratie als Ganzes überhaupt eine Lebensfrage und tägliche
Praxis. Dieser Kampf ist unter den Bedingungen des Zentralismus so oder so ein
Kampf mit dem Zentralismus. Er verursacht eine Verschiebung des Gleichgewichts
der Kräfte im Staatsapparat vom Zentrum zur unteren Ebene, von oben nach
unten. Und wenn der Staatsapparat in kleine Zellen, in Mengen von
unabhängigen Baronen, zerfällt, beginnen sie sofort gegeneinander zu
kämpfen. Diese Fehden führen früher oder später zum
endgültigen Sieg von jemandem, der den zentralisierten Staat wieder
herstellt. Die Bürokraten aller Zeiten und Völker schwingen
ständig auf dieser Wippe wie
Kinder. DIE CLAN-STRUKTUR
UND IHRE ROLLE Ein paar Worte über die Organisationsformen des
beschriebenen Kampfes. Natürlich beteiligen sich die Bürokraten nicht
allein daran; sie sind in die sogenannten Clans, d.h. Gruppen von Menschen,
aufgeteilt, die ihrem Führer persönlich treu sind. Eigentlich liegt
eine solche Aufteilung in der Natur der Bürokratie. Jeder Chef, der seine
Untergebenen ernennt, bildet dadurch um sich einen Clan. Die Clan-Struktur
durchdringt den gesamten bürokratischen Apparat von oben nach unten und
ist das Hauptprinzip bei seiner Bildung (aufgrund des Ernennungssystems). Der
Kampf um die Macht trägt also immer einen Clan-Charakter. Niemand
kämpft allein, weder beim Zentralismus noch während der Fehden, nur
dass dieser Kampf beim Zentralismus vor allem „unter dem Teppich“ erfolgt,
während es beim Staatszerfall zu offenen gewaltsamen Auseinandersetzungen
kommt. Somit ist die Clan-Struktur mit den im Eingeweide der Bürokratie
gesäten Drachenzähnen zu vergleichen, die den maroden Staatsapparat
keimend auflockern und vernichten. DER SEPARATISMUS
Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die spezielle Art der
Differenzierung der Bürokratie wie deren Aufteilung in den Zentralapparat
(Ministerien und Ressorts) und die regionalen Eliten (lokale Führer mit
ihren Untergebenen). Im Grunde genommen ist das auch eine Aufteilung in das
Zentrum und die Peripherie des Staatsapparats, in die obere und die untere
Ebene, die jedoch nach dem regionalen „geografischen“ Prinzip aufgebaut ist.
Dies fördert insbesondere die Bildung von Clans und (das ist das
Wichtigste) präsentiert sie bereits in der direkten fertigen Form von
Apparaten zur Verwaltung der Regionen, im Unterschied zu den zentralen Clans
mit ihren funktionellen Einschränkungen. Ein Ressort befasst sich nur mit der Lösung von speziellen fachlichen
Problemen; seine Macht ist lediglich ein Spiegelbild der zentralen Macht im
Allgemeinen. Es gibt hierbei keine Verbindung mit der Bevölkerung, keine
lokale Verwurzelung, keine Ressourcen ohne Bezug zur Staatskasse etc. Bei den
regionalen Verwaltern ist das alles vorhanden. Daher fällt es ihnen
relativ leicht, unabhängig ihre Kräfte zu sammeln, sich vom Zentrum
abzuspalten und einen getrennten Apparat zu bilden, und sie streben auch
danach. Dieser Kampf für die Dezentralisierung, für die Verringerung
der zentralen Vollmachten, führt bereits zum Separatismus. Es geht hierbei
nicht mehr darum, dass eine funktionelle oder sonstige Abteilung des
Zentralapparats unabhängiger wird, sondern darum, dass ganze Gebiete mit
ihrer Bevölkerung abgetrennt werden und sich in gesonderte Staaten
verwandeln. DIE
GEMÄßIGTE VARIANTE Aber, ich wiederhole, all das ist eine extreme,
radikale Variante. Es ist der Kampf der unteren Bürokratie gegen das
Zentrum und den Zentralismus im Allgemeinen, der in jeder Hinsicht die Einheit
der hierarchischen Klasse sichert. Dieser zerstörerische Kampf kann nur
dann stattfinden, wenn für die Masse der unteren Bürokraten die
Vorteile der Dezentralisierung deren Nachteile übertreffen, also wenn z.B.
nichts diesen Kampf bremst oder wenn es keine externe oder interne (seitens
anderer Klassen) Bedrohung für die Macht der jeweiligen Bürokratie
gibt, die ihren Zusammenhalt erfordert. Wenn jedoch eine solche Bedrohung da
ist oder wenn gewisse Umstände die Dezentralisierung auf irgendeine Weise
behindern, dann kann der Kampf gegen den Zentralismus in begrenztem Umfang
verlaufen (und verläuft auch meist tatsächlich so). Dann ist das
nicht mehr ein Kampf um das totale Fehlen von Kontrolle der unteren
Bürokratie (und damit um den Zerfall des Staates), sondern ein Kampf um
die zumindest teilweise Ausweitung ihrer Rechte in den für sie wichtigen
Bereichen. Im Einzelnen kämpfen in dieser
weicheren Kompromissvariante die unteren Apparatschiks gegen die oberen zumeist
nur für die Abschaffung des Rechtes des Zaren, die Bojaren ihres Amtes zu
entheben, sie zu entmachten und ihnen die mit ihrer Macht verbundenen
Privilegien zu nehmen, sie von der Mitgliedschaft in der herrschenden Klasse
auszuschließen. Unnötig zu sagen, dass die unteren Bürokraten in der radikalen Variante für das
Gleiche kämpfen. Allerdings erreichen sie hierbei nicht nur das, sondern
auch eine Reihe anderer Immunitäten, während es in der
gemäßigten Variante damit sein Bewenden hat. Daher endet der Kampf
gegen die Willkür der höheren Behörden eigentlich niemals, unter
keinen Umständen, unabhängig davon, welche Bedrohungen auch immer es
geben mag. Er verhindert ja nicht den Zusammenhalt des Apparats in den
Auseinandersetzungen mit den anderen Klassen und Staaten. Im Endergebnis ist dann die Zugehörigkeit zur Klasse der
Bürokraten unabhängig vom Willen des Monarchen und aller höheren
Instanzen, zuerst in der Praxis, und dann auch laut Gesetz, wenigstens in Bezug
auf ihr Recht, die Bürokraten niedrigerer Ebene von der Mitgliedschaft in
dieser Klasse auszuschließen und sie von den höheren Stufen der
Pyramide auf die unteren zu vertreiben. Man darf den Status erhöhen
(jemanden in eine höhere Position bringen, ihn zum Ritter oder zum Pair
schlagen), das wird sogar begrüßt, aber man darf den Status nicht
senken und umso weniger jemanden aus einer höheren Position entfernen. Aber was bekommt man im Gegenzug, wenn
die höheren Apparatschiks ihre Vollmachten verlieren und die Untergebenen
diese niemals hatten? Es ist klar, dass am Ende alles wiederum auf die
Selbsternennung hinausläuft, nur diesmal in individualisierter Form. Die
Zugehörigkeit zur Klasse wird von der Geburt, als Erbrecht definiert. Wenn
der Vater Baron war, wird der Sohn Baronet, und niemand hat das Recht, diese
Abfolge zu ändern, weil es sich hierbei nicht etwa um eine Laune des
Zentrums, sondern um ein Gesetz handelt, das durch den Willen der ganzen
herrschenden Klasse festgelegt wird. Es ist im Interesse aller Bürokraten
und wird durch ihre Gesamtstärke unterstützt. Lediglich der Monarch
leidet dabei, muss jedoch diesen Stand der Dinge akzeptieren und tolerieren
(weil er selbst in der gleichen Weise die Vererbung seiner Macht festlegt). DIE ABSONDERUNG
DES STATUS VON DER FUNKTION Demzufolge entsteht ein ziemlich eigenartiges Phänomen,
die Vornehmheit, d.h. ein Status, der in keiner Weise mit dem bekleideten oder
überhaupt mit einem Posten verbunden ist, sondern einer Person einfach als
Vertreter einer bestimmten Bürokratieart gehört. Ein Major bleibt
z.B. Major, selbst wenn er einen Oberst- (oder Hauptmanns-) posten bekleidet
(oder wenn er sich gar zur Ruhe setzt). Der Status mit seinen Rechten und
Privilegien und dementsprechend die Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse
ist hierbei eine Sache und die funktionelle Position des Individuums eine
andere. Die ersten Attribute sind einer Person von Geburt an gegeben und sind
nun von ihr untrennbar. Sie muss dabei kein Verwalter und kein Mitglied des
Staatsapparates sein. Ähnlich sieht es, nebenbei bemerkt, später auch in der bürgerlichen
Gesellschaft aus, wenn ein Teil der Bourgeoisie zu Rentiers wird, denen Kapital
(als ein Analog der Vornehmheit) gehört, die jedoch keine gesellschaftlichen
Funktionen ausüben. 2. Das System der
Güterverteilung ZWEI ELEMENTE DER
VERTEILUNG Wenden wir uns nun der Frage zu, weswegen die Verwalter eigentlich
die Macht in der Gesellschaft ergreifen, d.h. dem Problem der durch sie
etablierten ungerechten Verteilung der in der Gesellschaft erzeugten
Güter. Diese Verteilung besteht aus zwei Teilen: 1) die
Entäußerung der Güter bei den Herstellern durch die
Bürokratie als Ganzes und 2) die Aufteilung des Entäußerten und
Veruntreuten zwischen den Bürokraten. Beide Prozesse sind recht einfach
und miteinander verknüpft. DIE
ENTÄUßERUNG VON GÜTERN Die Einfachheit des Ersteren hängt
mit der Klarheit der Beziehungen der Bürokratie und der Gesellschaft, also
mit dem funktionalen Charakter der Bürokraten zusammen. Da sie eine
Schicht der Gesellschaftsverwalter darstellen, sieht ihre Versorgung durch die
Gesellschaft völlig natürlich aus und erfordert keine Rechtfertigung
und keine besonderen Finessen. Ein Teil der von der Gesellschaft produzierten
Güter wird hierbei naturgemäß den Verwaltern zur Verfügung
gestellt: Zum einen als deren Entlohnung und zum anderen für
öffentliche Bedürfnisse. Eine andere Sache ist, dass sich mit der Machtergreifung durch die
Verwalter dieser freiwillige und durchaus mäßige Tribut in eine
räuberische Zwangsabgabe verwandelt. Nachdem die Bürokraten zur
herrschenden Klasse geworden sind, versuchen sie natürlich, die
untergebene Bevölkerung maximal auszunehmen. Zu diesem Zweck werden alle
ihnen zur Verfügung stehenden Mittel genutzt, inklusive Gewaltanwendung
und Gehirnwäsche der Massen. Das Volumen der Güter, die zugunsten des
Staatsapparats entfremdet werden, übersteigt mehrfach das Äquivalent
der Entlohnung für die Verwaltungsarbeit. Die Apparatschiks werden zu der
am besten situierten Schicht der Gesellschaft, und ihre Führer schwelgen
regelrecht im Überfluss. Ebenso werden in einer solchen Situation auch die öffentlichen
Bedürfnisse so interpretiert, wie es für die Bürokratie von
Vorteil ist. Es werden keine Schulen und Straßen, sondern pyramidale
Grabbauten, Paläste und Residenzen des Monarchen errichtet;
öffentliche Mittel werden nicht für Bildung und Gesundheit, sondern
für Rüstung und Armee ausgegeben. Anstatt mühsam und
unauffällig am Anwachsen des Wohlstandes und der Kultur des Volkes zu
arbeiten, werden pompöse protzige Veranstaltungen durchgeführt, die
dazu gedacht sind, das Ansehen des Staates zu verbessern und die Eitelkeit des
an der Macht befindlichen Führers zu bedienen. ORGANISATIONSFORMEN
DER ENTFREMDUNG: DURCH WEN WERDEN DIE GÜTER ENTFREMDET? Organisatorisch
erfolgt die Entfremdung der Güter von den Herstellern in zwei Hauptformen
- zentral und privat. Im ersten Fall baut der Staatsapparat seine Beziehungen
mit der Bevölkerung als Ganzes auf und sammelt alle ihm „zustehenden“
Güter in staatliche „Speicher“ (Staatskasse, Lagerhallen etc.), von wo aus
einzelne Bürokraten ihre Anteile nach der festgelegten Ordnung bekommen.
Im zweiten Fall realisiert jeder sein Recht auf „Verpflegung“ privat, indem er
die ihm zugeordneten Untertanen beraubt. Die „Wahl“ zwischen den
Organisationsformen der Entäußerung wird durch a) den Grad der
Machtzentralisierung, b) die Traditionen konkreter Gesellschaften, c) die Reife
ihrer Bürokratien, d) die Art der praktizierten Produktion usw. bestimmt. DIE RADIKALE FORM
DER ZENTRALISIERUNG Ich habe jedoch nicht aus Versehen diese beiden Formen die
wichtigsten genannt: Sie tragen einen relativ allgemeinen Charakter, so dass
mancherlei Modifikationen möglich sind, zum einen als diese oder jene
Übergangs- und Zwischenformen zwischen den beiden Varianten und zum
anderen als verschiedene Variationen über das Thema einer jeden von ihnen. In letzterer Hinsicht ist eine der
Modifikationen der zentralen Entfremdung von besonderem Interesse. In der
Geschichte war es üblicherweise so, dass der Staatsapparat von seinen
Untertanen nur einen Teil der durch sie erzeugten Güter entfremdete und
den Rest in ihrem privaten Besitz beließ. Aber manchmal nahm diese
Entäußerung auch eine extreme, radikale Form an, bei der alle durch
die Gesellschaft hergestellten Produkte in staatliche „Speicher“ kamen; dann
verteilten die Bürokraten persönlich diese „Staatsgüter“ unter
allen Mitgliedern der Gesellschaft, einschließlich der unmittelbaren
Produzenten dieser Produkte. Es ist klar, dass ein solches Verteilungssystem
nur dort etabliert wurde, wo die Bürokratie vollständig die Verwaltungsfunktion
in der Wirtschaft übernahm, also wo es aus bestimmten Gründen keine
private Produktion gab. Das wurde z.B. im Laufe von Jahrtausenden im alten
Ägypten, teilweise im
mittelalterlichen China und selbstverständlich fast das ganze vorige
Jahrhundert lang in der Sowjetunion und in einer Reihe ihrer Satellitenstaaten
so praktiziert. WAS WIRD
ENTFREMDET? Und was genau wird durch die Bürokraten entfremdet? Einerseits
sind das fertige materielle Güter und andererseits ist das die Arbeit
selbst. Im ersteren Fall werden der Bevölkerung Steuern aller Art und im
letzteren Arbeitsdienste auferlegt. Und all das wird wiederum vor allem an die Organisationsformen der
Entfremdung geknüpft. Bei der zentralen Entäußerung werden die
Steuern vom Staat zugunsten des gesamten Staatsapparats als Ganzes
eingetrieben; bei den Arbeitsverpflichtungen werden in erster Linie auch
staatliche Ziele verfolgt. Es handelt sich um solche „Bauten des Jahrhunderts“
wie der Bau von Pyramiden, Dämmen, Kanälen, Straßen,
Schlössern und anderen Befestigungen (wie die Große Mauer in China).
Manchmal ersetzen die Arbeitsverpflichtungen de facto die Steuern (bzw. heben
diese auf). Das geschieht zum Beispiel, wenn die Bürokratie die
Volkswirtschaft verwaltet sowie in den Fällen, wenn das Ackerland auf
natürliche Weise in privates und staatliches geteilt wird. Im ersteren
Fall arbeiten die Bauern für sich selbst und im letzteren für den
Staat. (Ich denke hierbei vor allem an zeitweilige Verhältnisse im alten
China und nicht etwa an die Teilung des Landes in das Eigentum von Kolchosen
und in private Grundstücke in der Sowjetunion, obwohl das Wesen des
Phänomens das gleiche ist). Bei der privaten Entfremdung bestimmt jeder Bürokrat selbst den
Ackerzins und treibt diesen von den ihm zugeordneten Bauern ein; außerdem
müssen die Bauern für ihn gewisse Arbeitsdienste verrichten. Auch in
diesem Fall kann der Arbeitsdienst die Hauptrolle spielen, und zwar wenn der
Boden des Grundbesitzers vom Boden der
Gemeinde getrennt ist: die Arbeitsdienste nehmen hierbei die Form der
Fronarbeit an, d.h. die Verpflichtung der Bauern, eine Zeitlang auf dem Acker,
beim Heumachen etc., kurzum, in der Wirtschaft ihres Herren zu arbeiten. NATURALENTGELT
ODER BARGELD? Darüber hinaus variiert die entfremdete „Verpflegung“ noch
als Naturalentgelt und Bargeld. In der klassischen Version erfolgt die
Besteuerung natürlich in reiner Naturalform, aber bei einer bestimmten
Entwicklung der Handelsbeziehungen und beim Auftauchen des Geldes geht man dazu
über, die Steuern in Geldform einzutreiben. DIE GENESIS
Ferner können die Steuern und Abgaben einen unterschiedlichen Ursprung
haben, entweder einen natürlichen oder eben nicht. Im ersten Fall versteht
man darunter ihre Genesis auf der Grundlage der traditionellen Abzüge der
Gesellschaft für die Erhaltung ihrer Verwalter und für
öffentliche Bedürfnisse. Im zweiten Fall entstehen sie als Folge der
Eroberungen und der anschließenden Belegung mit Tribut. Es ist klar, dass
die zweite Option in den Augen der Untergebenen weniger rechtmäßig ist
und mehr Gewalt erfordert, vor allem in den frühen Stadien. Aber mit der
Zeit wird alles zur Gewohnheit, Tributpflichtige werden nach und nach zu
Untertanen und der Tribut wird von allen Parteien des ehemaligen Konflikts als
eine normale Steuer angesehen. WER WIRD
BESTEUERT UND WOFÜR? Um das Bild abzurunden, sollte man auch kurz sagen,
wer und im Zusammenhang womit besteuert wird. Die Bürokraten sind hierbei
immer auf einer kreativen Suche; im Laufe der Jahrtausende solcher „Forschung“
haben sie allerhand ausgeklügelt. Es werden folgende Steuern eingetrieben: Ø pro
Person (pro Kopf), pro Mitarbeiter, pro Familie, pro Haushalt, pro Gemeinschaft
und selbst pro Fehlen einer Person (Kinderlosigkeitssteuer); Ø nach
der Art der Tätigkeit (in Form einer Genehmigung über ihre
Durchführung - Lizenz); Ø von
einzelnen Produkten (Akzisen über den Handel mit Salz, Wodka u.a.m.) Ø von
Vermögen (so oder so bezogen auf seine Dimension: pro Fläche, pro
Wert, pro Menge); Ø vom
Einkommen (die Einkommens-, Renten-, Warenzuschlagssteuer); Ø für
die Einfuhr von Waren in das Staatsgebiet (Zölle); Ø für
die Nutzung von Straßen, Land, Wasser, Bodenschätzen; Ø für
den Verbrauch über eine bestimmte Norm hinaus (Luxussteuer). Und so weiter,
und so fort. DIE
SICHERSTELLUNG DER EINNAHMEN Aber es reicht nicht, sich die Steuern auszudenken
und diese der Bevölkerung aufzuerlegen; man muss auch in der Lage sein,
sie einzutreiben. Man stößt dabei auf eine Anzahl von Problemen.
Dafür muss man: 1) einen
ganzen Stamm von Steuereintreibern organisieren; 2) alle
seine Untertanen von Angesicht kennen, inklusive deren Anzahl, Beruf, Einkommen
usw., also eine entsprechende Buchführung und Kontrolle schaffen
(regelmäßig die Steuererfassung durchführen, indem nachverfolgt
wird, wer wie viel verdient etc.); 3) alle
arbeiten lassen; Schmarotzer, Landstreicher und Bettler werden bestraft; 4) sicherstellen,
dass die steuerzahlende Bevölkerung für die Besteuerung
verfügbar ist, vor allem dass sie sich permanent an einer bestimmten
Adresse aufhält; zu diesem Zweck werden die Leibeigenschaft, die Anmeldung
und ähnliche Festlegungen eingeführt; am einfachsten sind in dieser
Hinsicht natürlich die Ackerbauern zu behandeln, welche durch die Art
ihrer Tätigkeit zur Bodenständigkeit gezwungen sind; schwieriger ist
es, die Steuern von den beweglichen Handwerkern, fahrenden Händlern und
sonstigen „Steppenläufern“ einzutreiben; aus diesem Grunde erzeugen diese
(die auch sonst nicht gut gelitten sind) bei den Bürokraten einen
zusätzlichen Widerwillen. Und wiederum - und so weiter, und so fort. DIE VERTEILUNG
INNERHALB DER KLASSE Alles Obengenannte bezieht sich auf die
Entäußerung der Güter von den Untertanen. Nicht weniger
interessant für die Bürokraten ist jedoch die weitere Verteilung
innerhalb ihrer eigenen Klasse. Wie geht das vonstatten? Dabei gibt es eine
simple Regel, die darin besteht, dass die Verteilung der Güter unmittelbar
von der jeweiligen Stärke abhängt und somit genauso hierarchisch ist:
Der Anteil eines jeden wird durch seinen Platz im Staatsapparat, auf der
Machtleiter oder, mit anderen Worten, durch seine Position bzw. seinen Status
bestimmt (wenn dieser nicht vom Amt
abhängt). Dieses Verfahren zeigt sich besonders
deutlich da, wo die Steuern für die Staatskasse zentral eingetrieben und
erst dann (nach Abzug von dem, was für die öffentlichen
Bedürfnisse ausgegeben wird) unter den Apparatschiks und überhaupt
den Bürokraten, den Mitgliedern der herrschenden Klasse verteilt werden.
Aber bei der privat organisierten Entfremdung ist im Grunde genommen das
Gleiche zu bemerken, obwohl hierbei nicht zusammen eingetriebene Güter,
sondern diejenigen verteilt werden, die diese Güter geschaffen haben – die
Bauern mit ihrem Land und ihren Arbeitsmitteln. Allerdings ist auch diese
Verteilung hierarchisch, d.h. sie erfolgt in Übereinstimmung mit der
Stellung eines konkreten Bürokraten im Staatsapparat bzw. in der
Rangordnung. DIE FOLGEN DER
PRIVATEN ENTFREMDUNG Dabei ist klar, dass die privat organisierte Entfremdung
und Verteilung der Güter viel gefährlicher ist als die
zentralisierte. Zum einen wegen der inhärenten Möglichkeiten des
Separatismus. Wenn nämlich die Verteilung der Güter innerhalb der
Bürokratie für ihren Dienst in Form der direkten Verteilung der
Bauern mit ihren Grundstücken erfolgt (sogenannte Lehnsgüter) und
wenn die Entfremdung dieser Güter somit zur privaten Angelegenheit
konkreter Apparatschiks wird, hat das natürlich eine schrittweise
vollständige Zuordnung dieser Menschen und dieses Landes an die
Bürokraten zur Folge. Dieses „Vermögen“ verwandelt sich nach zwei bis
drei Generationen in ihre Erbgüter, die unveräußerlich sind und
durch die zentrale Macht nicht kontrolliert werden. Mit der Zeit sind die
Lehnsherren sogar in der Lage, den Staatsdienst zu vernachlässigen, und
zwar ganz ohne Schaden für ihre Besitzstellung. Der Dienst (für den
ja ursprünglich die Lehnsgüter zugeteilt worden waren) ist nun keine
Pflicht mehr, sondern nur ein Ehrenrecht, d.h. neben der Trennung des Status
von der Funktion wird auch die Vermögenslage der Bürokraten von
beidem abgetrennt, was natürlich ihre Unabhängigkeit vom Zentrum
weiter erhöht und dazu führt, dass sie anfangen, darauf zu pfeifen.
Das ist offensichtlich die materielle Basis der Dezentralisierung. Daher wurden private Formen der
Entfremdung und Verteilung (als offensichtlich schädlich für die
zentralen Behörden) meist in den am wenigsten entwickelten, jungen und
unerfahrenen Bürokratien praktiziert (die einfach nicht reif genug waren,
um die o.g. Umstände zu verstehen) oder in den bürokratischen Staaten
etabliert, denen der Individualismus zivilisationsmäßig eigen war.
Dabei handelte es sich oft um die gleichen Gesellschaften (zu denen auch
Russland gehört): Die Staaten entstanden zuallerletzt eben auf der
Grundlage der individualistischen sozialen Gebilde. Daher gingen der
Individualismus und junge, unerfahrene Bürokratien in der Regel Hand in
Hand. Anders war es in den Ländern, die eine lange Geschichte und
zahlreiche bittere Erfahrungen mit der „feudalen Kleinstaaterei“ hatten, wo
natürlich die Hierarchen letzten Endes gewisse Lehren zogen und
versuchten, die Zuteilung der Lehnsgüter zu vermeiden. Zum anderen tragen die Beziehungen der
Bürokraten und der ihnen zugeordneten Bauern bei der privaten Entfremdung
der Güter einen weit weniger ausgeprägten staatlichen Charakter. Es
ist schwieriger, Missstände mit den Bedürfnissen der
öffentlichen Verwaltung zu rechtfertigen: Die Gemeinde ist imstande,
lokale Probleme auch selber zu lösen und die Teilnahme der Herren an der
Verwaltung der Gesellschaft außerhalb der Lehnsgüter ist zweifelhaft
und interessiert niemanden. Im Übrigen zeigt sich hier auch der
ausbeuterische Charakter der Herrenmacht klarer. Die Ausbeutung und
Unterdrückung durch den unpersönlichen Staat wird leichter und
klagloser ertragen als die Willkür eines ganz konkreten Gutsbesitzers. Bei
der zentralisierten Macht ist es einerseits bequemer, die Massen zu
betrügen (so schaffte man es in der Sowjetunion, den Leuten die grausamste
bürokratische Gewalt als „die Macht der Werktätigen“ zu verkaufen),
und andererseits erfordern die Aufstände gegen das Regime viel mehr Kraft,
einen höheren Organisationsgrad der Massen und damit einen viel
größeren Klassenhass. Wenn jedoch das Objekt dieses Hasses sich
gleich nebenan befindet, braucht man viel weniger von diesen drei
Voraussetzungen für einen Aufstand (allerdings fällt es dann auch
leichter, diesen zu unterdrücken, verglichen mit einer allgemeinen
Rebellion der Bevölkerung). DIE ILLEGALE
VERTEILUNG Aber zurück zur Verteilung der Güter. Ich habe oben
ausschließlich ihre legalen Formen behandelt, also wie sie im
Bürokratismus gesetzlich organisiert ist. Aber das Gesetz ist keine
Säule, man kann es auch umgehen. Und der Wunsch ist sicher da. Kein
Apparatschik ist gewillt, nur von seinem Gehalt zu leben, also am Fleischtopf
zu sitzen und nur den Mund zu spitzen. Leider gibt es auch sonst wenige
Heilige, und umso weniger gibt es sie unter den Bürokraten. Wenn ein
konkreter Bürokrat seine ihm untergebene Bevölkerung oder sogar den
„lieben“ Staat berauben kann (zusätzlich zu seinem Gehalt), nutzt er mit
Sicherheit diese Chance bis zum Gehtnichtmehr. Das wird heute Korruption
genannt. Allerdings haben natürlich nur diejenigen diese Möglichkeit, die
einträgliche Posten bekleiden. Einer, der einfach in seinem Dorf sitzt,
ohne etwas zu tun und ohne irgendwo zu dienen, bleibt offensichtlich fern von
dieser Feier des Lebens. Man missbraucht nicht die Macht und man betrügt
nicht den Staat, wenn man seine eigenen Bauern beraubt. Hier ist einem sowieso
alles gesetzlich in die Hand gegeben. Das Zentrum muss zwar manchmal Gewalt
anwenden, um der Willkür der wildesten Herren das Handwerk zu legen. Aber
diese Willkür ist kein Mittel zur illegalen Bereicherung, keine
Korruption. Ebenso kann derjenige, der in einem Regiment als einfacher Offizier und
nicht als Intendant oder Versorgungsleiter dient, kaum etwas stehlen. Er hat
auch keine besondere Macht, die er missbrauchen und sich dabei bereichern kann.
Die Korruption ist das „Schicksal“ derjenigen, denen Güter, Mittel und
Vermögen zur Verfügung stehen, sowie derjenigen, die über
Vollmachten verfügen, von denen vieles im Leben der Untergebenen
abhängt. Diebstahl, Erpressung und sonstige „Zumutungen“ sind, ich
wiederhole, nur auf einträglichen Posten möglich (die man
dementsprechend auch nicht frei bekommt). Darüber hinaus erfordert die (an sich illegale) Korruption eine
fehlende ordnungsgemäße Kontrolle der Aktionen der Masse von
Bürokraten in niederer Stellung (nicht im Sinne einer „Blindheit“ des
Zaren, sondern nach dem Motto: „Ich sehe es, doch ich habe nicht die Kraft, es
zu verhindern.“). Daher gedeiht natürlich die Korruption nur in einer
Zeit, da das Zentrum geschwächt ist (und deswegen ist die heutige
Korruptionsorgie in Russland ein direkter Beweis für die reale
„Machtdevertikalisierung“). Dabei korreliert selbstverständlich die
„Rohheit“ des Amtsmissbrauchs mit dem Grad der Schwäche des Zentrums. Das
einfache Wuchern, die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung ist eine
Sache, aber der direkte Diebstahl von Staatseigentum eine ganz andere. Das
letztere wird sicher von den Behörden immer viel rigoroser unterbunden,
und darum muss die Masse der Bürokraten ihre Kraft gegenüber dem
Zaren und seinen Knechten spüren, um das zu wagen, ohne eine Strafe zu
befürchten, - was wir heute überall um uns herum sehen. 3. Die Besonderheiten der bürokratischen Verwaltung
Schließlich gehe ich noch darauf ein, wie die Bürokraten ihre
funktionellen Verpflichtungen erfüllen. Sie sind ja eine Schicht von
Fachleuten, die die Gesellschaft verwalten. Wie kommen sie damit zurecht? Was
kennzeichnet sie als spezifische, nämlich herrschende Verwalter? DAS ZIEL UND DIE
WEGE, ES ZU ERREICHEN In dieser Hinsicht ist sicher die Motivation der
Bürokraten von entscheidender Bedeutung. Wie alle Menschen streben sie
letztendlich nach persönlichem Wohlbefinden. Aber wovon hängt das bei
ihnen ab? Von ihrem Platz in der Machthierarchie, im Staatsapparat, d.h. von
ihrem Posten, sprich sowohl von ihrer Rangstufe, mit der ihr formales Gehalt
verbunden ist, als auch von der „Einträglichkeit“ ihres Postens, d.h. vom
Potenzial ihrer illegalen Bereicherung (wobei das eine gewöhnlich das
andere nicht negiert, sondern unmittelbar voraussetzt: Je höher der Rang,
desto größer sind die Korruptionsmöglichkeiten). Daher ist das Hauptziel jedes Bürokraten, einen höheren Posten zu
bekommen. Dafür kämpfen sie auch mit allen ihnen zur Verfügung
stehenden Mitteln. Welche Mittel stehen ihnen denn zur Verfügung? Was
bestimmt dabei den Erfolg? Einerseits gewiss die reale Kraft, d.h. der Umfang von Ressourcen und die
Anzahl der Kämpfer, die ein konkreter Bürokrat aufweisen kann. Jeder
Bürokrat versucht auch, so weit wie möglich, das eine wie das andere
zu vergrößern, sprich sich so viele Ressourcen wie möglich
anzueignen und den Kreis seiner Vasallen zu erweitern; dabei werden diese
logischerweise vor allem nach dem Prinzip der persönlichen Treue
ausgewählt. Andererseits gibt es gegen jede Kraft eine noch größere Kraft.
Daher ist für die Masse der Bürokraten auch das Wohlwollen der
höheren Behörden, die Verbindungen auf den hohen Machtebenen, die
Unterstützung der stärkeren Apparatschiks wichtig. Unter den
Bedingungen des Ernennungssystems, das bei der Herrschaft der Nomenklatura[30] deutlich
Gestalt angenommen hat, ist das überhaupt ein entscheidender Faktor. Und
was braucht man, um diese Unterstützung (d.h. Schirmherrschaft und
Begünstigung) zu bekommen? Na, insbesondere die schon erwähnte
Demonstration der persönlichen Treue gegenüber dem Patron. Der
bürokratische Chef (Lehnsherr) schätzt an den Untergebenen (Vasallen)
eben vor allem ihre Bereitschaft, ihre persönlichen Interessen zugunsten
seiner Interessen zu opfern. Davon hängen ja seine eigene Stärke und
damit seine Stellung in der Machthierarchie ab. Im Grunde genommen ist jedoch klar, dass es sich um zwei Seiten derselben
Medaille handelt. Jedes Mitglied des Staatsapparats, mit Ausnahme seiner
äußersten Schichten, ist gleichzeitig sowohl der Chef, als auch der
Untergebene. Darum benimmt er sich auch mal so, mal so. Wozu führt das
alles? DIE
AUFBLÄHUNG DES APPARATS Die erste Folge dieser „Politik“ ist
verständlicherweise eine andauernde schrankenlose Aufblähung des
Apparats (insbesondere der Gewaltorgane), die alle vernünftigen Grenzen
überschreitet. Diese Aufblähung wird höchstens durch begrenzte
Ressourcen gehemmt, die den konkreten Bürokraten und der Bürokratie
als Ganzes zur Verfügung stehen. Ansonsten „kämpft“ die
Bürokratie zeitlebens mit dieser Aufblähung, und das Ergebnis ist
immer recht seltsam: Am Ende jeder routinemäßigen Kampagne zur
Reduzierung des Apparats gibt es noch mehr Apparatschiks als zuvor. Allerdings scheint dieses Ergebnis nur für diejenigen seltsam, die
nicht wissen, dass die Neigung der Bürokratie dazu, ihre Reihen bis zum
Geht- nicht- mehr zu verstärken, dieser ihrer Natur nach eigen ist. Das
ist eine Manifestation der grundlegenden Interessen der Mitglieder dieser
herrschenden Klasse, deren Massenaktivität die genannte Wirkung
sicherstellt. Es ist einfach unmöglich, diese Wirkung aufzuheben, ohne die
Herrschaft der Bürokraten in der Gesellschaft zu beseitigen. Wie schlägt sich das in der Verwaltung nieder? Natürlich negativ.
Insbesondere sinkt hierbei drastisch die Produktivität der
Verwaltungsarbeit. Deutlich mehr Verwalter, als für die Lösung der
anstehenden administrativen Aufgaben erforderlich sind, lassen sich von der
Gesellschaft aushalten, was jedoch die Bürokraten selbst keineswegs
stört. Sie blähen ja ihren Personalstand gar nicht auf, um die
Qualität und die Effizienz der Verwaltung zu verbessern (obwohl dieser
Prozess gewöhnlich eben durch den angeblichen administrativen Bedarf gerechtfertigt
wird), sondern um ihre Macht und ihren Einfluss zu erhöhen, und sie
schaffen es auch durchaus, dieses Ziel zu erreichen. Die niedrige
Produktivität der Verwaltungsarbeit und folglich ihre hohen Kosten sind
also bei Bürokratismus unvermeidlich. DER CHARAKTER DER
AUSWAHL Noch verderblicher ist hierbei die Tatsache, dass die personale Auswahl
der Verwalter nicht aus geschäftlichen und beruflichen Gründen,
sondern nach ihrer persönlichen Loyalität geschieht. Darüber
hinaus werden natürlich auch andere Qualitäten der Kandidaten
berücksichtigt: Beim offenen gewaltsamen Kampf wird z.B. die
Kampffähigkeit der Vasallen und beim verdeckten Gerangel unter einer
stabilen Zentralregierung werden ihre Geschicklichkeit und Hinterlist
geschätzt. Aber im Vordergrund (aus dem Blickwinkel der Oberherren) stehen
doch immer die Hingabe und die Treue. Die Auswahl (die Anstellung) von
Untergebenen richtet sich vor allem danach. Allerdings sind diese Eigenschaften Qualitäten, die schwer zu finden,
aber leicht zu imitieren sind. Mehr noch: Ihre Imitation wird oft höher
geschätzt und eher gefördert als sie selbst. Ein Knecht, der den
Interessen seines Herrn wirklich treu ergeben ist, erlaubt sich ja, ihm
manchmal zu widersprechen, ihn vor schädlichen Handlungen zu warnen. Er
kann sich sogar weigern, gewisse Aufträge seines Herrn auszuführen
und dadurch in Ungnade fallen (genauso wie ein echter Patriot, der seine Heimat
verbessern will, sie mehr beschimpft als lobt), während ein indifferenter
Imitator seinen Lehnsherren nie mit solchen Possen ärgert. Daher halten
die Vorgesetzten meistens die Schmeichelei, die Unterwürfigkeit und andere
Manifestationen von Servilismus für Ergebenheit und Treue. Bei
Bürokratismus vermehren sich daher solche Manifestationen auch
maßlos vonseiten der Untergebenen, die sich lieb Kind bei ihren Herren
machen. Ein echter Erfolg in der bürokratischen Konkurrenz wird also durch
künstlerische Fähigkeiten, Geschicklichkeit, List, Skrupellosigkeit,
Gerissenheit, Gemeinheit, die Fähigkeit zu intrigieren usw. gesichert. Die
Auswahl erfolgt hierbei in der Tat zumeist nach diesen Qualitäten und
nicht nach der Treue dem Herrn gegenüber. Allerdings ist das für uns gehupft wie gesprungen. Sollen sich doch
die Lehnsherren aus diesem Anlass aufregen. Für uns ist nur wichtig, dass
bei dieser Konkurrenz die beruflichen Qualitäten der Kandidaten, ihre
Eignung als Verwalter fast keine Rolle spielen. Für eine
bürokratische Karriere werden diese auch nicht benötigt. Als Ergebnis
erhält man dann Kader, die … – Oh, Gott bewahre! Ihr Wissen, ihre
Fertigkeiten und Fähigkeiten, konkrete Verwaltungsprobleme zu lösen,
sind unter aller Kritik. DIE DEGRADIERUNG
DES APPARATS Aber das ist noch nicht alles. Die bürokratische Auswahl der
Kader gibt nicht nur ihrer Ergebenheit (und in Wahrheit ihrer List und der
Tücke) den Vorzug vor ihrer Intelligenz und Professionalität, sondern
lehnt diese Qualitäten gänzlich ab. Es sind ja nicht alle Lehnsherren
Dummköpfe (vor allem nicht diejenigen, die ihre Position in der Hierarchie
eben genau durch die oben erwähnte List und Tücke erreicht haben).
Sie messen andere mit der eigenen Elle und oft begreifen sie durchaus, dass es
in der Welt keine echte Ergebenheit, sondern nur Augenwischerei und Heuchelei
gibt. Im Zusammenhang damit erwarten sie von ihren Untergebenen zu Recht
Verrat, Intrigen und andere „Unannehmlichkeiten“. Wie lässt sich das
vermeiden? Im Idealfall natürlich durch die formale Fixierung ihrer Position,
durch die Absicherung ihrer Unabhängigkeit vor den Launen des
bürokratischen Schicksals (beispielsweise durch ihre oben beschriebene
Verewigung in Form von vererbtem Status, Vornehmheit). Aber bis dieses Ideal
erreicht wird (und in Wirklichkeit können sich nur „die hochmütigen
Nachkommen der für ihre notorische Schurkerei berühmten Väter“[31] ihres
Hochadels rühmen), gibt nur die Auswahl von Untergebenen unter den
Kandidaten eine Garantie, die ihren Vorgesetzten in allen wesentlichen
intellektuellen und sonstigen Fähigkeiten unterlegen sind. Solche Leute
werden nämlich unter keinen Umständen gegen ihre Chefs intrigieren
oder diese bei Gelegenheit absetzen. Nicht etwa, weil sie das nicht wollen (wer
will das nicht?!), sondern weil sie es nicht können. Darum hat die Kaderauswahl von vornherein einen negativen Charakter.
Talentierte Menschen haben Probleme mit der Karriere. Man hat Angst, Fachleute
und überhaupt intelligente Menschen einzustellen, und sie werden nach und
nach aus dem Staatsapparat verdrängt. (Es sei denn, sie sind intelligent
genug, sich als Narren und Ignoranten zu verstellen; allerdings wird die
Verwaltung durch die Tatsache nicht besser, dass sie nicht von einem echten,
sondern von einem vermeintlichen Narren verdorben wird). Das Replizieren dieses
Ansatzes auf allen Stufen der bürokratischen Leiter hat die Degradierung
des Apparats zur Folge, was die Erfüllung seiner Aufgaben wesentlich
beeinträchtigt. Logischerweise würde die Entwicklung dieser Situation
mit einer Dominanz von Idioten enden, aber in der Praxis kommt es
natürlich nicht dazu, alleine aus dem einfachen Grund, dass solche
heruntergekommenen Staatsapparate sofort durch neue Räuber, sozusagen
„Sanitäter dieses Waldes“ verschlungen werden, die noch nicht die Zeit
gehabt haben zu degradieren. Für verwundete Tiere findet sich ja immer ein
Jäger. DIE RELATIVE
UNZULÄNGLICHKEIT DES POPULISMUS Ich betone, die beschriebene Auswahl gibt
es nur im Bürokratismus, wenn die Ernennung des Personals (so oder so) von
oben erfolgt und den Kampf um die Macht und nicht die erfolgreiche
Erfüllung von Verwaltungsaufgaben zum Ziel hat. Wenn die Verwalter
gewählt werden, sieht das Bild anders aus. Hierbei sind den Wählern
eben die Effizienz und die Qualität der Verwaltung wichtig, und sie sind
daran interessiert, die Verwalter nach ihrer beruflichen Eignung auszuwählen,
zumindest objektiv. Subjektiv kann es sicher auch anders sein. Wenn die Massen
unkultiviert sind, haben Gerissenheit, Skrupellosigkeit usw. auch in einer
Demokratie durchaus Chancen. Leider ist Populismus nach wie vor als politisches
Phänomen relevant. Aber, ich wiederhole, bei der Wahl der Verwalter durch
die Bevölkerung nutzt der Populismus nur die Ignoranz und
Dummheit der Menschen aus, entspricht jedoch keineswegs ihrem realen Interesse als Wähler. VOM ERGEBNIS ZUM
PROZESS Im Bürokratismus wählen also die Lehnsherren die Vasallen
für sich aus, die als Verwalter nichts taugen und versagen, wenn eine
professionelle Verwaltung von komplexen Objekten gefragt ist. Dies ist hierbei
das Ergebnis. Der vorangehende Prozess ist jedoch nicht besser. Die o.g.
Ausrichtung der Auswahl negiert eine effektive Verwaltung an sich. Damit wird
also nichts anderes als die Atmosphäre vorgegeben, in der die aktuelle
Verwaltung stattfindet und bestimmt wird. Die Imitation der Ergebenheit gegenüber den Vorgesetzten durch die
kriechenden Untergebenen kommt nicht nur in der relativ harmlosen Schmeichelei
und Unterwürfigkeit zum Ausdruck. Das ist lediglich die Kehrseite der
wirklichen Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen des Herrn und
überhaupt des Staates, dessen Apparat diese ganze Bande ist. Die
Untergebenen widersprechen hierbei selbstverständlich in keiner Weise den
Höherstehenden, welche Dummheiten die auch immer machen (zum Nachteil
für sie selbst und für die Gesellschaft). Die Vasallen machen im
Gegenteil nichts anderes, als den Lehnsherren auf den Mund zu gucken und dann
so schnell sie können, um die Wette, deren Launen, welche auch immer, zu
erfüllen. Wer sich als erster hervortut, der ist ein Held, unabhängig
von der Qualität der getroffenen und umgesetzten Verwaltungsentscheidungen.
Mit anderen Worten, es werden die Aktivitäten aller Einheiten des
Staatsapparates nicht von den tatsächlichen Bedürfnissen der
Gesellschaft, sondern vom Willen der vorgesetzten Behörden bestimmt. Das
Verhalten der Massen von Apparatschiks hat gar nicht das Wohlergehen der
Gesellschaft zum Hauptziel, sondern das Wohlwollen der Vorgesetzten. Dieses
Wohlwollen hat wiederum nichts mit den positiven Ergebnissen der
Verwaltungsarbeit selbst zu tun, und das beeinflusst natürlich die
Qualität dieser Arbeit negativ. TOTALER
ZENTRALISMUS Die für den Bürokratismus charakteristische
Konzentration aller Befugnisse an der Spitze der Machtpyramide und letzten
Endes in den Händen des höchsten Hierarchen tut noch ein weiteres
dazu. Er versucht, alles selbst zu entscheiden, ohne irgendjemand die geringste
Entscheidungsfreiheit und Selbständigkeit zu geben, und das ist ein
durchaus verständliches Handeln: Es geht ja um den bürokratischen
Apparat, in dem Kraft und Macht das Gleiche sind. Unter diesen Umständen
bedeutet die Übertragung von bestimmten Befugnissen auf einen anderen
nichts anderes als die Teilung der Macht, also partiellen Machtverlust, und das
ist nicht nur unangenehm, sondern auch gefährlich. Auf diese Weise
verstärkt sich ja in der Tat das Fußvolk,
das im Endeffekt eine ernsthafte Konkurrenz für das Zentrum darstellen
kann. Nehmen Sie so viel Souveränität, wie Sie können[32]? Gut,
gut. Wir wissen, womit das in bürokratischen Staaten endet, wo das
Fußvolk immer mit den Oberen um die Selbständigkeit kämpft. Warum sollte man also auf die Idee kommen, das noch zu begünstigen? Das unmittelbare Interesse jedes
Hierarchen in der Bürokratie besteht darin, die Antriebsriemen der Macht
unter keinen Umständen loszulassen. Das erfordert schon der normale
Überlebensinstinkt. Ansonsten: Gibt man einen Finger, verliert man die
ganze Hand, und dann wird man gar mit
Haut und Haar gefressen. Daher versucht das Zentrum im Bürokratismus, die Macht, so gut es
geht, zu monopolisieren. Jede Selbständigkeit des Fußvolks wird im
Ansatz unterdrückt und als ein Eingriff in des Hierarchen Rechte, als ein
Staatsverbrechen, gewertet, was natürlich zu (für die Effizienz der
Verwaltung) schlimmen Folgen führt. DIE
ÜBERLASTUNG DER OBEREN Erstens, da der Hierarch alle Befugnisse hat, muss
er auch für alles haften. Er ist gezwungen, wirklich alles, bis ins
kleinste Detail, im „Handbetrieb“ zu kontrollieren, und das ist rein praktisch
nicht möglich. Er kann nicht Hansdampf in allen Gassen sein. Niemand ist
in der Lage, auf kompetente Weise quer durch den Gemüsegarten alles zu
verwalten und Experte auf allen Gebieten zu sein. Dementsprechend können
die Ergebnisse der Tätigkeit eines bürokratischen Führers nur
jammervoll sein, egal wie er sich schindet und plagt. DIE
HANDLUNGSUNFÄHIGKEIT DES FUSSVOLKES Die zweite Konsequenz der totalen
Zentralisierung ist die Lähmung der Apparatschiks, wenn es keine Befehle
von oben gibt, d.h. der völlige Mangel an Initiative, die
Unfähigkeit, halbwegs selbstständige Entscheidungen zu treffen (und
-stärker noch- diese umzusetzen). Wenn Selbstständigkeit strafbar
ist, ist es eben besser, nichts ohne Anweisungen der Vorgesetzten zu tun. Denn
dann gibt es ein geringeres Risiko, dass man leiden muss. Daher ist die bürokratische Verwaltung unflexibel und unbeweglich. Sie
funktioniert nur halbwegs in einem Rahmen, der durch die von oben kommenden
Befehle und Anweisungen bestimmt ist, hakt jedoch jedes Mal, wenn die Situation
diesen Rahmen übersteigt. Dann verfallen die Bürokraten in
Attonität und ersterben in Erwartung der Anweisungen von oben. Sie
verlieren kostbare Zeit, anstatt unverzüglich Maßnahmen zu
ergreifen, um anstehende Probleme zu lösen. Niemand will die Verantwortung
übernehmen, und die Ergebnisse dieser „Aktivitäten“ sind mitunter
katastrophal. DER VERLUST VON
RÜCKKOPPLUNG Drittens stirbt unter den beschriebenen Bedingungen nach und
nach die Rückkopplung zwischen den Verwalteten und den Verwaltern. Die
Letzteren verlieren eine angemessene Vorstellung davon, was in der Gesellschaft
geschieht, und verwalten praktisch „blind“. Worauf ist das
zurückzuführen? Einerseits darauf, dass die unteren Apparatschiks in den Augen der Oberen
gut aussehen wollen; eben deswegen nehmen sie es nicht so genau mit der
Wahrheit in ihren Berichten über die Situation in den ihnen anvertrauten
Bereichen. Dazu kommt das Bestreben, ihren Vorgesetzten zu schmeicheln: „Dank
Ihren wertvollen Hinweisen gibt es lauter Siege an allen Fronten“. Ganz zu
schweigen von den häufigen Fällen, wenn das Fußvolk die Oberen
aus intriganten Gründen irreführt, um zusätzliche Ressourcen zu
bekommen, Gegner zu drangsalieren u.a.m. Andererseits ist ein solches Verhalten der unteren Apparatschiks einfach
Teil des Systems, denn die bürokratische Verwaltung ist zwangsläufig
ein Misserfolg. Alles verwelkt in kurzer Zeit und stirbt ab. Und was soll das
arme Fußvolk tun? Etwa den Oberen von der Situation
wahrheitsgemäß berichten? Würden sie dann nicht sagen: „Also,
dank Ihrer Idiotie stecken wir in einer Zwickmühle.“? Dann würde man
die Verantwortung auf die „Berichterstatter“ abwälzen und ihnen die ganze
Schuld in die Schuhe schieben. Deswegen also müssen sie drauflos
lügen, nicht so sehr um ihres Images, sondern um ihrer Selbsterhaltung
willen, um sich vor dem Zorn und der Bestrafung durch die Oberen zu retten. Deswegen
beschönigt das Fußvolk die Situation, so gut es kann, indem es in
seinen Berichten positive Bilder der Wirklichkeit malt. Das ist ein
kontinuierlicher Strom von Desinformation und Täuschung der
übergeordneten Instanzen. Die Verwaltungsentscheidungen werden
durchgängig auf der Grundlage falscher Daten getroffen, was natürlich
die Situation wiederum nicht verbessert, sondern noch weiter verschlimmert. DER VOLUNTARISMUS
Viertens beeinflussen die genannten positiven Berichte der Untergebenen und
ihre weit verbreitete überschwängliche Begeisterung über die
„unendliche Weisheit“ der Führer die Psyche der Letzteren (vor allem, wenn
sie auch sonst nicht die Hellsten sind) und erzeugen bei ihnen den Glauben an
ihre wahre Unfehlbarkeit und Allmacht. Manche drehen unter solchen
Umständen sogar durch. Auf dieser Basis erscheint ein sogenannter
Voluntarismus, d.h. die Unwilligkeit und die Unfähigkeit der
bürokratischen Hierarchen, die Situation nüchtern zu beurteilen und
auf objektive Gegebenheiten Rücksicht zu nehmen. Dies verleiht ihrer
Politik die Züge einer vollständigen Idiotie und multipliziert deren
negative Folgen. Allerdings bildet sich der gleiche
Glauben an die Einmaligkeit und Omnipotenz der höchsten Instanzen auch bei
den unteren Apparatschiks aus. Die Allmacht der Oberen über das Schicksal
der Unteren bringt bei den Untergebenen eine Illusion der absoluten Macht der
Herrschenden und vor allem des höchsten Hierarchen in allen Bereichen
hervor. Wenn man sich in einer Atmosphäre befindet, wo die Anweisungen der
Vorgesetzten die letzten und unbestreitbaren Wahrheiten sind, gewöhnt man
sich daran, diese genauso wahrzunehmen. Man beginnt ungewollt, dieses dumme
Zeug als Realität zu akzeptieren. Daraus ergeben sich alle möglichen
Führerkulte, nicht nur als Ergebnis der aufdringlichen Staatspropaganda,
sondern auch auf der Ebene der persönlichen Überzeugungen von
Menschen. DIE
PRIORITÄTEN Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, wenn wir uns noch einmal
an die Prioritäten der Bürokratie erinnern. Welche Ziele verfolgt sie
in ihren Verwaltungsaktivitäten? Ihr Hauptanliegen ist nicht das
Wohlergehen der Gesellschaft, sondern die Durchsetzung ihrer eigenen, vor allem
ihrer privaten Interessen, die in vielerlei Hinsicht einfach durch Diebstahl
und Korruption erreicht werden. Als Klasse im Ganzen strebt die Bürokratie
dabei in erster Linie an, ihre Herrschaft in der Gesellschaft und in der Welt
zu bewahren und auszubauen. Das erste Mittel, dies zu erreichen, ist die
Steigerung der militärischen Stärke (natürlich kann die
Bürokratie nicht auf ihre moralische Autorität setzen, weil sie
darüber gar nicht verfügt und weil sie diese ohnehin
grundsätzlich verachtet). Deshalb geben Bürokraten die meisten
Ressourcen der Gesellschaft für die Aufrüstung, die Armee und
dafür aus, die sie bewachenden Söldner auszuhalten usw. Darüber hinaus ist, wie oben erwähnt, die gesamte Politik des
bürokratischen Staatsapparates darauf gerichtet, die Gesellschaft zu
spalten, zu zerdrücken, zu verblöden und in ihr alle Ansätze von
Selbstverwaltung und Selbstständigkeit zu vernichten. Diese Ziele der
Verwalter laufen natürlich den Bedürfnissen der fortschrittlichen
Entwicklung von Wirtschaft, Kultur, Bildung und anderer Bereiche des
gesellschaftlichen Lebens völlig zuwider. Die Gesellschaft bleibt unter
der Fuchtel der Bürokraten unweigerlich zurück und verliert im
Wettbewerb mit den bürgerlichen Staaten oder verfault gänzlich,
verliert ihre Vitalität und geht als Gesellschaft zugrunde. WAS FÜR DEN
RUSSEN GESUND IST, BRINGT DEN DEUTSCHEN UM[33]
Heißt das also, dass Bürokratismus in jeder Hinsicht schlecht ist?
Tritt dabei überall nur Negatives zutage, von welcher Seite man die
bürokratische Verwaltung auch betrachtet? Nein, keineswegs. Man kann einer
Sache nicht abstrakt etwas Positives oder Negatives zuschreiben. Alles hängt
von den konkreten Bedingungen, in unserem Fall vom Verwaltungsgegenstand, ab. Die klassischen Verwalter der primitiven Bauerngesellschaften regelten
meist nur die allgemeinsten Lebensgesetze und sicherten stabile Bedingungen
für die Wirtschaftsführung der unmittelbaren Produzenten. Die
Bürokraten lösten hierbei innere Konflikte, richteten, erhielten die
Ordnung aufrecht und verteidigten ihre Untertanen gegen äußere
Bedrohungen und Raubüberfälle vonseiten aggressiver Barone. Das alles
sind rein politische kraftmäßige Aufgaben, und die beschriebenen
Geschäfte der Bürokraten unter der Hand sowie gewaltsames Vorgehen
sind hierbei besonders effektiv. Um den politischen Kampf zu gewinnen, braucht
man eben außer der direkten Macht Eigenschaften wie List, Heimtücke,
Grausamkeit, Prinzipienlosigkeit und die Fähigkeit, sich bei den Oberen
einzuschmeicheln und Rivalen auszubooten
usw., jedoch keineswegs solche geradezu „lächerlichen“ Eigenschaften wie
Geschäftssinn und Fachkenntnisse. Überleben und Erfolg im bürokratischen
Raubtierkäfig werden davon nicht im Geringsten definiert. Der Sieger ist
immer entweder der hartherzigste Haudegen oder der pfiffigste Intrigant, kurz
derjenige, der die Fäden am festesten in der Hand hält und
dementsprechend die stabilste „Dachorganisation"[34]
darstellt. Unter diesen Bedingungen sind die Besonderheiten der
bürokratischen Verwaltung durchaus am Platze. WAS DEN DEUTSCHEN
UMBRINGT, IST FÜR DEN RUSSEN GESUND Das alles ändert sich erst dann,
wenn diese Art Verwaltung Bereiche betrifft, die dem politischen Kampf und dem
politischen Erfolg fremd sind und andere Motivationen, Fähigkeiten und
Ergebnisse erfordern, z.B. die Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheit, Bildung,
Kultur etc. Hier sind die beschriebenen Eigenschaften der bürokratischen
Verwaltung keineswegs angebracht und sogar geradezu verderblich. Die
Bürokratie mit ihren Zielen und Prioritäten ist einfach nicht
imstande, diese Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gut und effizient zu
verwalten. In der klassischen Zeit hatte sie das, wie schon gesagt, auch gar nicht
vor. Das Maximum im Bereich ihrer Aufgaben war die Organisation bestimmter
öffentlicher Arbeiten wie der Errichtung von Dämmen und des Baus von
Festungen, was als die Verwaltung der Produktion und sonstiger gesellschaftlicher
Lebenstätigkeit als Ganzes
überhaupt nicht angesehen werden kann. (Eine Ausnahme in dieser Hinsicht
war nur das alte Ägypten mit seiner totalen Vergesellschaftung, also der
Bürokratisierung von allem, aber das ist ein Kapitel für sich). Doch
in jüngster Zeit haben die Apparatschiks in einer Reihe von
bürokratischen Staaten, insbesondere in der UdSSR, aufgrund von objektiven
und subjektiven Gründen diese Aufgaben, die sie eigentlich nicht leisten
konnten, übernommen und anfangs sogar einiges erreicht, indem sie sich auf
den mächtigen Zentralismus und andere günstige Bedingungen
stützten, hauptsächlich auf dem Gebiet der für sie so wertvollen
Rüstung und auf Kosten von zahllosen Opfern und der Überlastung und
Erschöpfung der Kräfte ihrer Untertanen. Die Bürokraten
können ja ihre Ziele anders gar nicht erreichen. Wie oben gezeigt, sind
sie als Verwalter reine Versager. Darum führte ihre Herrschaft die
sowjetische Gesellschaft auch zum Zusammenbruch. Und heute marschiert auch
Putins Russland mit denselben Liedern und unter derselben Führung ins
Blaue hinein. TAKTIK GEGEN STRATEGIE IN DER WELTARENA
Darüber hinaus ist zu verzeichnen, dass bürokratische Ansätze
und Methoden, oberflächlich betrachtet, auch in der Außenpolitik am
effektivsten sind. In jedem Fall, insofern es denselben politischen Kampf
darstellt. Auch hier gewinnen meistens taktisch (aber nicht strategisch!) die
Pfiffigsten, Listigsten, Skrupellosen etc. Aus diesem Grund übertreffen
die Führer der bürokratischen Staaten (die bereits die richtige Wahl
für die Gemeinheit getroffen haben; wie auch sonst wären sie zu Führern
geworden?) in der Regel die Politiker der demokratischen Länder. Letztere
haben zum einen nicht die gleiche List, Tücke, Schamlosigkeit usw. (weil
sie von der Bevölkerung nicht wegen dieser Merkmale gewählt werden).
Zum anderen können sie es sich einfach nicht leisten (auch unabhängig
von ihren Fähigkeiten und ihrem Ethos), sich auf diese Weise zu benehmen,
weil sie unter der Kontrolle ihrer Konstituenten stehen und in der Wahl der
möglichen Mittel des politischen Kampfes begrenzt sind. So sind die
Bürokraten (Hitler, Stalin usw.) in diesem Bereich viel erfolgreicher als
die Demokraten (weswegen sie auch den Ruhm als „brillante" Politiker
gewinnen). Aber, ich wiederhole, nur kurzfristig,
vorübergehend. Erstens wegen der unvermeidlichen Reputationsverluste
(früher oder später hört man auf, den Politikern zu glauben, die
sich mit Treulosigkeit befleckt haben, und man verzichtet darauf, mit ihnen
umzugehen). Zweitens (und das ist das Wichtigste) wegen der Tatsache, dass die
durch die Bürokratien geführten Gesellschaften in ihrer Entwicklung
hinsichtlich aller wichtigen Richtungen und Parameter unweigerlich hinter den
demokratischen Gesellschaften zurückbleiben. Dabei ist die reale
Stärke, sind die wirklichen Ressourcen weitaus wichtigere politische
Faktoren als List und Heimtücke. ____________ Dies sind im Allgemeinen die
Hauptmerkmale und Gesetzmäßigkeiten der bürokratischen
Gesellschaftsordnung. Schauen wir nun, wodurch sie im Ergebnis der
Machtergreifung durch die Bourgeoisie abgelöst wurde. Vortrag acht. DER
ÜBERGANGSZEITRAUM VOM BÜROKRATISMUS ZUR BÜRGERLICHEN
GESELLSCHAFTSORDNUNG 1. Die Genese der
Bourgeoisie WIE SOLLTE DAS
THEORETISCH ABLAUFEN? Die Bourgeois sind Leute des Marktes, und ihre Genese ist
mit seinem Werden verbunden. Als Theorie soll dies als das Werden des
Binnenmarktes in einer separaten (isolierten, nicht von außen
beeinflussten) und zunächst wirtschaftlich homogenen (völlig
natürlich produzierenden) Gesellschaft behandelt werden. In diesem
idealisierten „Laborfall“ kann die wichtigste Ursache dafür nur die
natürliche fortschreitende Entwicklung der Produktion sein, die einerseits
in ihrer qualitativen Differenzierung und andererseits im Wachstum der
Arbeitsproduktivität zum Ausdruck kommt. Diese Entwicklung ermöglicht
die Spezialisierung einzelner Produzenten auf die Produktion bestimmter
Produkte, was für alle Mitglieder der Gesellschaft zunehmend möglich
und profitabel wird. Dies wird gesetzmäßig durch den sich parallel
entwickelnden Austausch der Produkte begleitet. Kurz gesagt, ist die Genese der
Marktbeziehungen beim theoretischen Herangehen eine Folge der Produktionsentwicklung;
sie entspricht einer bestimmten Etappe dieser Entwicklung. Auf diese Weise ging
es tatsächlich auch im Großen und Ganzen vor sich, allerdings eben
nur im Großen und Ganzen. WIE SPIELTE SICH
DAS ALLES TATSÄCHLICH IN DER GESCHICHTE AB? In der realen Geschichte gab
es keine „Laborbedingungen“: Weder völlig isolierte Gesellschaften noch eine
total gleichförmige Produktion. Ersteres war nicht der Fall, weil die
meisten bewohnbaren Regionen der Erde besiedelt waren (überall gab es
Nachbarn), Letzteres nicht wegen der natürlichen und geographischen
Unterschiede der Regionen. Infolgedessen wurden überall von Anfang an
nicht interne, lokale, sondern interregionale und internationale Märkte
gebildet, selbst auf der Basis einer unterentwickelten Produktion. Die Masse
der Hersteller beharrte dabei meist auf der Naturproduktion, stellte jedoch an
verschiedenen Orten verschiedene Produkte her, und das ermöglichte deren
Austausch. Das nutzten auch allerlei Zwischenhändler, die die
„Kuriositäten“ einiger Regionen kauften und diese in anderen Regionen
verkauften. (Daher waren die Kaufleute von der Antike bis zur Neuzeit die
ersten und wichtigsten Agenten des Marktes; alle anderen, nämlich
Transportarbeiter, Finanziers und Handwerker, spielten eine nebensächliche
Rolle). Diese Bildung und Entwicklung des
internationalen Marktes spielte für die Genese der Binnenmärkte
vieler Gesellschaften die Rolle eines mächtigen Katalysators. Dank der
Einbeziehung verschiedener Regionen in den Welthandel spezialisierte sich ein
großer Teil ihrer Bevölkerung auf die Produktion bestimmter
Güter (z. B. Hering in Holland, Wolle in England). Sie förderten
somit (als hoch spezialisierte Produzenten) eine große Nachfrage nach
allen anderen, für das Leben notwendigen Produkten. Natürlich fiel es
viel leichter, die meisten davon in der Nähe zu produzieren, als sie
irgendwo aus der Ferne zu holen. Diese wachsende Nachfrage wurde unweigerlich
durch das entsprechende wachsende lokale Angebot unterstützt, und das
verursachte so die Entwicklung des Binnenmarktes. WARUM IST DER
BINNENMARKT WICHTIG? Im Übrigen ist für uns nicht so sehr von
Bedeutung, wie und mit welcher Geschwindigkeit diese Entwicklung stattgefunden
hat, sondern was genau hierbei vor
sich ging. Ob mit Katalysator oder ohne, die Genese der lokalen Märkte ist
an sich nichts anderes als die Entwicklung einer Produktion zum Verkauf, also
die Herausbildung von breiten Schichten tatsächlicher Warenproduzenten
(und nicht mehr nur der Zwischenhändler von ausländischen Produkten
und dergleichen). Die Marktbeziehungen drangen dabei in die Gesellschaft selbst
ein, und die Masse ihrer Mitglieder fing an, sich für den Markt zu
interessieren. Während die Kaufmannschaft den Gesellschaften, in denen sie
ihre Vermittlungsgeschäfte ausführte, meistens fremd
gegenüberstand (weswegen sie sich nicht sonderlich viel um die
Angelegenheiten dieser Gesellschaften kümmerte), sind die Produzenten
marktfähiger Produkte (mit ihrer unvermeidlichen Produktionslokalisierung)
so wie im Allgemeinen alle mit dem Funktionieren dieses oder jenes lokalen
Marktes verbundenen Menschen immer Mitglieder einer entsprechenden
Gesellschaft. Sie sind weit davon entfernt, gegenüber der darin
herrschenden Ordnung gleichgültig zu sein. Das Werden der
Binnenmärkte war also gleichbedeutend mit dem Werden der in den konkreten
Gesellschaften viel stärker verwurzelten lokalen Bourgeoisie, deren Kern
die Masse der Warenproduzenten war und die an einer probürgerlichen
wirtschaftlichen und politischen Ordnung interessiert war. Wir haben es hierbei
also schon mit der Entwicklung und dem Reifen der Bourgeoisie als einer echten
gesellschaftlichen Klasse zu tun. (Darüber hinaus bedeutet die
Bildung des Binnenmarktes auch die Herstellung von stabilen Kontakten und engen
Beziehungen zwischen den Bewohnern der jeweiligen Territorien und damit die
Bildung einerseits der Grundlage der sogenannten Zivilgesellschaft und
andererseits der ethnisch-kulturellen Gemeinschaft, die Nation genannt wird). 2. Die Übergangszeit ZWEI TYPEN VON
KRAFTFAKTOREN Die erwähnte Entwicklung und Reifung der Bourgeoisie verlief
in verschiedenen Richtungen, von denen für uns im Moment nur ihre
wachsende Stärke interessant ist (das Wesen ihrer Entwicklung, u.a. das
soziale, wird Gegenstand der folgenden Vorträge sein). Die Stärke
einer Klasse wird bekanntlich durch ihre Fähigkeit bestimmt, die für
sie vorteilhafte gesellschaftliche Ordnung herzustellen. Dabei habe ich im
fünften Vortrag schon genügend gezeigt, worin genau die Stärke
der Bourgeois besteht, und werde deshalb nicht noch einmal zu diesem Thema
zurückkehren. Es ist hier wichtig, den Prozess ihrer Stärkung und die
begleitenden gesellschaftlichen Erscheinungen zu untersuchen. Die Kräftevermehrung durch die
Bourgeoisie verlief auch in vielen Richtungen. Sie entstanden aus den
Unterschieden jener Kraftfaktoren, die die Bourgeois meisterten und
entwickelten. Oben habe ich mindestens acht solche Faktoren genannt. Bei der
Beschreibung des Kraftpotenzials der Klasse war es zulässig, diese
Faktoren ungeordnet auf einen Haufen zu werfen. Allerdings zwingt uns die
Erörterung des Problems der Kräftevermehrung, jeden im Einzelnen zu behandeln. Erstens, weil diese Faktoren nicht
gleich wiegen, (sowohl absolut, d.h. „bei jedem Wetter“, als auch relativ, d.h.
in Abhängigkeit von den sich ändernden Bedingungen). So ist z.B. die
Waffenstärke (insbesondere die der Massenvernichtungswaffen) wichtiger als
die Kopfstärke. Zweitens, weil sie ungleichmäßig heranreifen
(von der Bourgeoisie entwickelt werden), einige schneller, andere langsamer; dementsprechend
betreten die „Eiligen“ vor den „Dumpfbacken" die Arena des politischen
Kampfes. Schließlich drittens, weil jeder besondere Faktor seine eigene Rolle bei der Etablierung
der Ordnung in dem erwähnten Kampf spielt: Einige von ihnen sind
wichtiger, um die Macht zu ergreifen, andere – um sie zu erhalten. Daher ist es, ich wiederhole, bei der
Analyse jedes realen Prozesses der Machtergreifung durch eine bestimmte Klasse
(z.B. durch die holländische, englische oder französische
Bourgeoisie) in einer bestimmten Gesellschaft
notwendig, die komplexe Dynamik im Detail nach und nach zu untersuchen,
nämlich, wie diese Klasse die Macht ergreift und nutzt. Allerdings sind
die konkreten Prozesse nicht unser Thema, sondern das Kräftesammeln und
die Machtübernahme durch die Bourgeoisie im Allgemeinen, so dass wir mehr
verallgemeinernd sprechen. In dieser Hinsicht ist es unter
Berücksichtigung der genannten Unterschiede angemessen, die Kraftfaktoren
in zwei Hauptgruppen zu unterteilen: a) eigentliche Kraftfaktoren (dazu
gehören die Kopfstärke, die Bewaffnung, der Reichtum, der
Organisationsgrad etc.) und b) die Fähigkeit, diese Kraft zum eigenen
Vorteil zu nutzen, sozusagen die politische Kultur (zu der auch die allgemeine
und besondere Sachkenntnis, bestimmte Fähigkeiten, sich zu verhalten, usw.
gehören). Die
erstgenannten Faktoren dominieren natürlich rein
kräftemäßig; gleichzeitig übertrifft ihre Reifung oft die
Reifung der letztgenannten. Das Wachstum der politischen Kultur hinkt
normalerweise dem Wachstum der Kraft hinterher. Außerdem bestimmen diese
beiden Parameter in unterschiedlichem Maße die Fähigkeit
(Bereitschaft) einer Klasse, die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu
erhalten. Die einfache Kraft wird sozusagen benötigt, um das Bestehende zu
brechen, die Fähigkeit, sie zu gebrauchen, dient dem Aufbau. Ohne ausreichende Kraft kann man
natürlich die Macht weder ergreifen noch erhalten, und ohne ausreichende
politische Kultur ist im besten Fall nur das Erstere, nicht aber das Letztere
möglich. Oder, um es anders zu sagen, bestimmt die einfache Kraft die Autorität
einer Klasse in der Gesellschaft, also die Frage, inwiefern man mit ihr rechnen
muss. Das alleine reicht allerdings nicht aus, um eine Ordnung zu etablieren, die
den Interessen dieser Klasse entspricht. Hier braucht die Klasse noch erstens
das Wissen über den Inhalt dieser Ordnung und zweitens die Fähigkeit,
diese zu etablieren und zu erhalten. DAS NEUE AN DER
SITUATION Ich unterstreiche, dass es sich bei all dem um eine neue Situation
handelt, auf die wir oben noch nicht gestoßen sind. Bei der Untersuchung
der Machtübernahme durch die Bürokratie war das Problem ihrer
politischen Kultur nicht relevant. Ich schnitt es teilweise nur im Rahmen der
Konfrontation des Zentrums mit der Peripherie des Staatsapparats an. Die
politische Kultur war hierbei in Bezug auf den Kampf gegen den Separatismus von
Bedeutung und lief hauptsächlich auf das Wissen über die
Präventionsmethoden und die Fähigkeiten hinaus, diese anzuwenden,
welche die Hierarchen im Laufe der Jahrhunderte infolge der bitteren Erfahrung
erworben hatten. Darüber hinaus kann wohl auch die Aneignung von Nuancen
des Machtgezänks, die als Machiavellismus bekannt sind, als Wachstum der
politischen Kultur der Bürokratie bezeichnet werden (wenn es
überhaupt nötig ist, Grausamkeit, Verrat, Betrug, Laxheit u.a.m. zu
erlernen, und wenn man solche Eigenschaften überhaupt eine Kultur nennen
kann). Aber all das spielte nur in den internen Auseinandersetzungen dieser
Klasse und nicht in ihren Beziehungen zur Gesellschaft eine Rolle. Der Staatsapparat
brauchte keine zusätzlichen Finessen, es reichte einfach die rohe Gewalt,
um der Gesellschaft die probürokratische Ordnung aufzuzwingen, zumindest
in der klassischen Periode des Bürokratismus (in der späteren
anspruchsvollen Gesellschaft müssen die Bürokraten natürlich die
Methoden des Machiavellismus nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen andere
soziale Schichten anwenden). Ich präzisiere auch für alle
Fälle, dass die Entwicklung der politischen Kultur einer Klasse nicht mit
ihrer Umwandlung von einer Klasse an sich in eine Klasse für sich
verwechselt werden sollte. Die Selbsterkenntnis einer Klasse als einer
besonderen sozialen Gemeinschaft mit besonderen Interessen ist nicht mit der
Beherrschung von schlauen Technologien und Praktiken des Kampfes für ihre
Dominanz gleichzusetzen, und diese Prozesse finden nicht gleichzeitig statt.
Die subjektive Entartung beispielsweise der Verwalter von „Dienern" der
Gesellschaft in deren Ausbeuter tritt erst ein, nachdem sie sich
tatsächlich an die Spitze der öffentlichen Macht gesetzt haben. Das
geschieht in dem Maße, wie sie diese herrschende Stellung erkennen. Im
Gegensatz dazu erkennt die Bourgeoisie sich selbst und ihre Klasseninteressen
viel früher, als sie sich der Technologie (Mechanismen, Hebel)
bemächtigt, um die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten. DIE URSACHEN DER
SITUATION Warum aber brauchen die Bürokraten keine besondere politische
Kultur, um an der Macht zu bleiben, während die Bourgeoisie diese
benötigt? Dies liegt an ihrer unterschiedlichen Einstellung zur Verwaltung
der Gesellschaft. Wie bereits erwähnt, wird diese
Verwaltung (deren Hauptinhalt die Errichtung und Aufrechterhaltung einer
bestimmten öffentlichen Ordnung ist) professionell vom Staatsapparat
ausgeführt, der über alle dafür notwendigen Befugnisse und
Ressourcen verfügt. Daher bedeutet die Ergreifung und Aufrechterhaltung
der Macht in der Gesellschaft nichts anderes, als die Ergreifung und
Aufrechterhaltung dieses Apparats unter eigener Kontrolle. Ich betone: Erstens
eben des Staatsapparats als des
wichtigsten und des einzigen Mittels, die Ordnung und die Herrschaft in der
Gesellschaft zu sichern, und zweitens eben unter der eigenen Kontrolle, unter
Ausschluss aller anderen konkurrierenden Gruppen. Dabei müssen de facto
zwei Aufgaben gelöst, zwei Ziele erreicht werden. Die politische Kultur
wird eben genau dafür benötigt, diese Ziele zu erreichen,
natürlich nur in den Fällen, in denen sie aktuell sind. In diesem Sinne existiert das erste
Problem für die Bürokratie nicht. Sie hat es nicht nötig, sich
den Staatsapparat auf listige Art und Weise unterzuordnen, weil sie und er dasselbe
sind. Für die Verwalter kann nur die Aufgabe der Monopolisierung der Macht
(also der Sicherstellung ihrer Unkontrollierbarkeit seitens der Regierten) von
Bedeutung sein, und auch das nicht in der klassischen Periode der Genese und
der Herrschaft der Bürokratie, als niemand nach dieser Kontrollierbarkeit
trachtete (und auch niemand imstande war, das überhaupt zu versuchen).
Erst nachdem andere mächtige Klassen (beginnend mit der Bourgeoisie) auf
der politischen Bühne erschienen, war die Bürokratie gezwungen,
besondere Methoden und Technologien zu ihrer Bekämpfung zu erfinden und
anzuwenden, also theoretisch und praktisch die politische Kultur zu meistern. Im Gegensatz dazu muss die Bourgeoisie
(und im Allgemeinen jede Klasse, die eigentlich kein öffentlicher
Verwalter ist) an den beiden genannten Fronten kämpfen. Sie muss sich den
Staatsapparat unterordnen und darf auch keinem der eventuellen Rivalen
(für den Fall, dass sie auftauchen) erlauben, ihn unter ihre Kontrolle zu
bringen. Jede dieser Aufgaben erfordert eine zunächst theoretische und
dann auch praktische Lösung. Es ist erstens notwendig, das Wissen
darüber zu erlangen, wie diese Klasse den Staatsapparat sich (und nur
sich) unterordnen kann; zweitens dieses Wissen unter einer ausreichenden Anzahl
von Mitgliedern der Klasse zu verbreiten (oder abzuwarten, bis es sich auf natürliche Art und Weise verbreitet),
und schließlich drittens zu lernen, es in der Praxis massenhaft
anzuwenden, also die Fähigkeit eines angemessenen politischen Verhaltens
zu erwerben. Ohne dies können die Bourgeois die Macht nicht ergreifen,
egal wie stark sie in allen anderen Parametern sind. Es ist nicht möglich,
sich den Staatsapparat (auf einer stabilen Basis) einfach mit roher Gewalt
unterzuordnen. Man kann ja nicht immer Revolutionen organisieren, um ihm seinen
Willen aufzuzwingen. Es reicht nicht aus, die bürokratische Ordnung zu
brechen (in der Lage zu sein, diese zu brechen), man muss an ihrer Stelle
irgendeine anders geartete aufbauen (imstande sein, sie aufzubauen). Und man kann
dabei nicht auskommen ohne a) den Verwaltungsapparat, b) das Vorhandensein
(oder die Erfindung) von besonderen Technologien seiner Unterordnung durch die
Bourgeoisie, c) die Meisterung dieser Technologien durch sie und d) die
Fähigkeit, diese Praktiken zu nutzen. Die letzten beiden Punkte umfassen
eben die sogenannte politische Kultur einer Klasse. Sie ist die obligatorische
Voraussetzung für den Sieg der Bourgeoisie im Kampf um die Macht in der
Gesellschaft (vor allem gegen die Bürokratie). DER KLASSISCHE
BONAPARTISMUS Dabei bleibt, wie gesagt, die Beherrschung der genannten Kultur
durch die Bourgeoisie hinter der Anhäufung ihrer Kraft zurück. Die
Fähigkeit, die Bürokraten zu stürzen, wird von ihr früher
erworben als die Fähigkeit, die Macht in den Händen zu behalten.
Darum werden diese beiden Fähigkeiten auch nicht gleichzeitig angewendet:
Die Bourgeois beginnen die Bürokraten überall zu stürzen, lange
bevor sie lernen, sich diese unterzuordnen, und das hat logische Konsequenzen. In diesem Szenario sind die politischen
Ergebnisse der primären bürgerlichen Revolutionen (sowohl in
bestimmten Gesellschaften, als auch überhaupt) unvermeidlich nur hinsichtlich des Auswechselns
von Personen, aber nicht der Änderung des Wesens der bürokratischen
Regime. Nachdem die Bourgeois die ehemaligen Verwalter physisch vernichtet bzw.
ins Ausland vertrieben haben, sind sie gezwungen, an deren Stelle auf jeden
Fall neue Verwaltungsstrukturen zu bilden, denn ohne diese sind weder eine
Ordnung noch eine Gesellschaft überhaupt möglich. Die neuen
Staatsapparate verwandeln sich natürlich sofort in neue Bürokratien,
in herrschende Klassen der durch sie verwalteten Gesellschaften, wenn die
Bourgeoisie nicht imstande ist, diese neuen Strukturen unter ihre Kontrolle zu
bringen. An die Stelle der gestürzten „legitimen“ Monarchien kommen offene
persönliche Diktaturen der Revolutionsführer, im Prinzip eigentlich
wieder Monarchien, die anfangs noch in den Kinderschuhen stecken, also weder
durch uralte Traditionen des dynastischen Machtbesitzes noch durch formelle
Zeremonien der Regierungssalbung geheiligt sind (allerdings versäumte es
der allmächtige Napoleon I. nicht, sich selbst den Titel des Kaisers zu
verleihen). So enden bei der niedrigen politischen
Kultur der Bourgeois selbst ihre siegreichen Revolutionen mit der
Wiederherstellung des Bürokratismus. Die Macht rinnt ihnen hierbei
unweigerlich durch die Finger. Das Maximum, das sie unter solchen Bedingungen
erreichen können, ist die Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen
Interessen durch die neuen Bürokratien. Diktatoren, die auf dem Wellenkamm
der bürgerlichen Revolutionen an die Macht kommen, sind natürlich
gezwungen, die Forderungen dieser Revolutionen auf diese oder jene Weise zu
erfüllen. Sie können in ihrer Politik auch im Allgemeinen die reale
Kraft der Klasse nicht ignorieren, die sie vertreten. Das für den Bürokratismus
übliche politische System der Bildung und Organisation des Staatsapparats
geht hierbei also mit der bürgerlichen Ordnung einher, die durch diesen
Staatsapparat im wirtschaftlichen Bereich, also bei der Produktion und
Verteilung von Gütern geschaffen wird (ein anschauliches Beispiel
dafür ist der allgemein bekannte Code Napoleon). Dies ist die Essenz des
sogenannten Bonapartismus in seiner klassischen Form. Ich wiederhole, er ist eine Folge der
ungleichzeitigen kräftemäßigen und kulturellen Reifung der
Bourgeoisie und stellt eine Art erzwungenen Kompromiss zwischen dieser Klasse
und der Bürokratie dar. Dabei gehört den Bürokraten de jure die
Macht in der Gesellschaft, aber nicht wegen ihrer kräftemäßigen
Dominanz, sondern nur, weil die stärkere Bourgeoisie nicht weiß, wie
sie ihre Stärke in eine reale Kontrolle über den Staatsapparat
umwandeln kann. Er ist unkontrollierbar in seiner Herausbildung, aber nicht in
seiner (besonders wirtschaftlichen) Politik, also dort, wo es um die
grundlegenden Interessen der Bourgeois geht. In diesem Bereich können es
sich die Bürokraten nicht leisten, sich zu versteigen, ohne einen Umsturz
zu riskieren, sie müssen mit einer zumeist bürgerlichen Ordnung
vorliebnehmen und das Privateigentum und andere Marktinstitutionen
schützen. DER BONAPARTISMUS
UND DER CÄSARISMUS Man sollte übrigens den Bonapartismus nicht mit
dem Cäsarismus verwechseln, wie das oft geschieht. Diese beiden Arten von
bürokratischen Führern haben unterschiedliche Machtquellen und
dementsprechend unterschiedliche Motivationen in Bezug auf die etablierte
Gesellschaftsordnung. Der Cäsarismus ist die Ergreifung der Macht durch
einen populären Heerführer, der sich ausschließlich auf die
Armee stützt; der Bonapartismus ist das Produkt der
kräftemäßigen Dominanz der politisch unkultivierten Bourgeois.
Im ersten Fall kann die Wirtschaftspolitik beliebig sein (es reicht, die
merkantilen Erwartungen der Legionäre zu befriedigen), im zweiten muss sie
probürgerlich sein. EIN STÜCK
MIT MEHREREN AKTEN Es sei angemerkt, dass ich den Bonapartismus nicht von
ungefähr das Ergebnis der „primären
bürgerlichen Revolutionen" genannt habe und natürlich nicht in
dem Sinne, dass nur die der Reihe nach ersten bürgerlichen Revolutionen
eine bonapartistische Wiederherstellung der Bürokratie hervorbringen und
dass dies bei sekundären Revolutionen ausgeschlossen ist. Die Bourgeois
können sich bei ihren gewaltsamen Veränderungen des personellen
Bestandes des Staatsapparats nicht nur einmal irren - bis sie endlich gelernt
haben, nicht nur zu brechen, sondern auch aufzubauen, bis sie dann ein
Machtsystem entwickelt und implementiert haben, das den Staatsapparat unter
ihre Kontrolle bringt (und bis sie gelernt haben, dieses System effektiv zu
nutzen). Der Gebrauch des Wortes „primär“ ist nur als Hinweis darauf
notwendig, dass es nicht um etwas Singuläres geht, sondern um den Beginn
einer ganzen Reihe, weil hierbei sekundäre (und sogar tertiäre usw.)
Revolutionen obligatorisch sind. In der Tat, wenn der Bonapartismus
normalerweise das logische Ergebnis jeder primären bürgerlichen
Revolution ist, dann bleibt die revolutionäre Aufgabe der Bourgeoisie, die
Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten, ungelöst und
für diese Klasse nach wie vor aktuell. Neue Revolutionen sind hierbei als
weitere Versuche der Aufgabenlösung unvermeidlich. Sie werden so lange
wiederholt, bis schließlich Ziel und Ergebnis der letzten dieser Reihe
die Transformation des politischen Systems ist, die für die Herrschaft der
Bourgeoisie eine Notwendigkeit darstellt. Also folgt hierbei eine Revolution
der anderen, einerseits je nach der allmählichen Reifung und dem
„Kultivierungsgrad“ der Bourgeois (dabei schneidet jede nachfolgende Revolution
der Bürokratie nach und nach Teile der realen Macht ab), andererseits im
Zusammenhang damit, dass alle Bonapartes und ihre Gefolgsleute dazu neigen zu
vergessen, wem sie ihren Aufstieg von einem Niemand zu einem Fürsten
verdanken, weltklug werden und anfangen, ihre Machtposition zu missbrauchen.
Deshalb muss man sie hin und wieder zur Rede stellen und das
Bürokratiepersonal gewaltsam durchrütteln (aus Mangel an weniger
radikalen Mechanismen zur Kontrolle des Staatsapparates im politischen System
oder wegen der Unfähigkeit, diese zu nutzen). Die Eroberung der Macht durch die
Bourgeoisie in konkreten Gesellschaften geschieht also normalerweise durch eine
Reihe von Revolutionen, von denen jede die gegebene Klasse nur teilweise auf
dem Weg zu ihrem eigentlichen Ziel fördert. Dementsprechend wird die
bürgerliche Ordnung in diesen Gesellschaften nicht gleichzeitig, sondern
schrittweise etabliert, wobei die Bourgeoisie wirtschaftliche Präferenzen
vor den politischen erlangt. DIE PIONIERE UND
DIE NACHAHMER Die beschriebenen Wechselfälle des Übergangs der
sozialen Macht von der Bürokratie zur Bourgeoisie tragen jedoch anfangs
einen allgemein theoretischen Charakter. Dabei werden verschiedene
Einflüsse der äußeren sozialen Umwelt ignoriert, die
natürlich dem Verlauf bestimmter Ereignisse ihren Stempel aufdrücken.
Sehen wir also ab von der groben Option (die offensichtlich nicht als theoretisch betrachtet werden kann), dass entwickelte
bürgerliche Gesellschaften rückständige bürokratische
Gesellschaften direkt erobern, dann ihre Ordnung einführen und die
Bevölkerung gewaltsam „kultivieren“. Nehmen wir als Beispiel lieber einen
„weicheren“ Fall, also den rein kulturellen Einfluss einiger Gesellschaften auf
andere. Es ist klar, dass die
Ungleichmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur darin
zum Ausdruck kommt, dass die Kultur bestimmter Bourgeois langsamer als ihre
Kraft wächst, sondern auch darin, dass einige Gesellschaften andere in
ihrer Entwicklung weit überholen. Dies führt dazu, dass die Reifung
ihrer Bourgeoisie unter verschiedenen Bedingungen stattfindet. Diejenigen, die
allen vorauseilen, werden auf diesem Weg zu Pionieren. Sie bekommen von
niemandem Anleitungen und müssen alle Widrigkeiten auf eigene Gefahr
überwinden. Die Bourgeois sind hierbei gezwungen, die Technologien der
Unterordnung des Staatsapparats von Grund auf neu zu erfinden und diese in der
Praxis durch Versuch und Irrtum zu verifizieren, und das wirkt sich
natürlich auf den Prozess der Machteroberung aus: Er dehnt sich über
Jahrhunderte aus, und es gibt dabei mehr Revolutionen, die für den
vollständigen Sieg erforderlich sind. Bei denjenigen, die
zurückgeblieben sind, sieht es anders aus. Die lokale Bourgeoisie braucht
zumindest nichts neu zu erfinden: Es reicht, fertige Entwicklungen der Nachbarn
zu übernehmen und diese entsprechend den lokalen Verhältnissen
anzuwenden. Mehr noch, die Etappe der Massenverbreitung des relevanten Wissens
kann hierbei sogar vor der ersten Revolution absolviert werden. Das einzig
Problematische und Unvermeidliche bleibt der praktische Kursus der Erlangung
von notwendigen politischen Handlungsfähigkeiten durch die Massen. Im
Zusammenhang damit wird die Übergangszeit von der Bürokratie zur
bürgerlichen Ordnung bei diesen Nachahmern reduziert; es sind auch weniger
Revolutionen erforderlich. DIE
ALLMÄHLICHKEIT UND DIE GRADATION: DAS WACHSTUM DER EINFACHEN KRAFT
Zusätzlich zur Berücksichtigung externer Einflüsse kann man
diesen Übergang auch näher betrachten. Die Grundlage dafür ist
die Allmählichkeit und damit die Gradation der Entwicklung sowohl
hinsichtlich der Stärke als auch der Kultiviertheit der Bourgeoisie. Es
lassen sich in beiden Fällen eine Reihe von Stufen identifizieren. Für die Gradation der einfachen
Kraft sind z.B. zwangsläufig folgende Grenzen zu überwinden: 1) Die
Kraft der Bourgeois, gekoppelt mit der Kraft der anderen
nicht-bürokratischen Schichten wird vergleichbar mit der Kraft des
Staatsapparats. Dabei sind die Bourgeois noch nicht in der Lage, den
Bürokraten allein zu widerstehen (geschweige denn ihnen und der ganzen
sonstigen Bevölkerung), sie haben jedoch bereits Siegeschancen bei einer
antibürokratischen Revolution, vorausgesetzt, dass sie den Rest der
Gesellschaft für sich gewinnen. 2) Die
Bourgeoisie ist imstande, die Bürokratie auch allein zu besiegen, aber nur
dann, wenn alle anderen Schichten neutral sind. 3) Die
Bourgeoisie kann nicht nur die Bürokraten, sondern auch den Rest der
Gesellschaft, sowohl die alten, als auch die neuen, nicht-bürgerlichen
(und natürlich nicht-bürokratischen) Schichten besiegen. Diese Gradation bringt Nuancen ins
Gesamtbild der Umstürze und Wiederherstellungen der bürokratischen
Regime, jedenfalls in den Varianten 1 und 2, wenn die Möglichkeit und der
Erfolg (d.h. zumindest der kräftemäßige Sieg) der
bürgerlichen Revolutionen von der Einstellung und Position der Schichten
abhängen, die sowohl der Bürokratie, als auch der Bourgeoisie fremd
sind. Darum sind Perturbationen möglich, wenn diese Schichten
zunächst die Partei der Bourgeoisie ergreifen und ihr helfen, die alten
Bürokraten zu stürzen, aber dann, nach der Einführung der ihnen
fremden bürgerlichen Ordnung und im Zusammenhang mit anderen Frustrationen
im nach-revolutionären Chaos, zurückschrecken und sich in die Arme
der neuen Bürokratie werfen, die ihnen zumindest eine gewisse Ordnung und
die ersehnte Stabilität verspricht (etwas Ähnliches - nicht im Sinne
des Hintergrunds, sondern im Sinne der äußeren Grundlage, des Algorithmus der
Ereignisse – findet z.B. im heutigen Russland statt). Im Ergebnis kann die
Bürokratie bei diesem Szenario in ihrer Politik und in der von ihr etablierten
Gesellschaftsordnung die Interessen der Bourgeoisie viel stärker
ignorieren. Die Wiederherstellung des Bürokratismus nimmt hierbei
radikalere Formen an, bis hin zur vollen Revanche der Bürokratie anstelle
des halben Bonapartismus. DIE STADIEN DES
WACHSTUMS DER POLITISCHEN KULTUR Die Entwicklung der politischen Kultur der Bourgeois
durchläuft auch ihre Stadien (dabei gehen wir davon aus, dass ihr
Kraftpotenzial in jedem Fall ausreichend ist, die Bürokratie zu
stürzen). Man kann hierbei im Groben folgende Zeitabschnitte voneinander
unterscheiden: 1) Die
Bourgeois haben noch keine Vorstellungen vom Wesen der politischen
Umwandlungen, die notwendig sind, um an die Macht zu kommen; sie denken zuweilen
nicht einmal an eine solche Möglichkeit. In dieser Etappe wird die
politische Vorherrschaft der Bürokratie von allen als das Selbstverständliche
und das einzig mögliche angesehen. Unter solchen Umständen wird
hauptsächlich für wirtschaftliche Zugeständnisse und nur in
extremen Fällen (wenn die Bürokraten unter keinen Umständen
bereit sind, diese Anforderungen zu erfüllen) für die Ablösung
des Kaderbestands des jeweiligen Staatsapparats gekämpft (wenn z.B. ein
nachgiebigerer Monarch inthronisiert wird). 2) Die
Bourgeois wissen im Prinzip, wie der Staatsapparat ohne Revolutionen zu
zähmen ist, sind aber größtenteils
noch nicht imstande, dieses Wissen in der praktischen Politik angemessen umzusetzen. Die politische
Herrschaft der Bürokratie (d.h. die monarchische Machtorganisation) wird
in dieser Etappe als illegal erkannt, dennoch bleibt die Macht de facto doch
bei den leisetretenden Bürokraten. Etwas Ähnliches geschieht im
heutigen, formell „demokratischen“ Russland (wohlgemerkt in einer wesentlich
anderen sozialen Situation und Weltlage), wo die reale Macht aufgrund der Unfähigkeit der Wähler,
die zur Verfügung stehenden
Möglichkeiten zu nutzen, durch den
Staatsapparat ergriffen worden ist. Um auf die beschriebene Etappe bei der
Entwicklung der politischen Kultur der Bourgeoisie zurückzukommen: Hierbei
wird nicht nur für die marktwirtschaftliche Ordnung und nicht einmal nur
für den Wechsel gewisser Persönlichkeiten im Staatsapparat, sondern
auch für dessen Unterordnung unter die Bourgeoisie gekämpft, u.a.
für den Wechsel des politischen Systems, das nun die bourgeoise Herrschaft
sichern soll. 3) Die
Bourgeois meistern die politische Kultur, die notwendig ist, um die Macht in
der Gesellschaft in vollem Umfang zu erhalten; sie stellen hierbei endlich den
Staatsapparat unter ihre Kontrolle (unter der Voraussetzung, dass das
politische System entsprechend angepasst wird). In der realen Geschichte sind
natürlich alle diese Phasen in der Entwicklung der einfachen Kraft und der
politischen Kultur der Bourgeoisie (die wir bedingt und separat behandelt
haben, ohne viele Zwischenzustände zu berücksichtigen) miteinander
vermischt. In jeder konkreten Gesellschaft und in jeder konkreten Epoche gibt
es diese oder jene Kombinationen davon, und deswegen haben die Wechselfälle
des politischen Lebens in der Übergangszeit von der Herrschaft der
Bürokraten zur Herrschaft der Bourgeois überall ihre besonderen
Eigenschaften (wie übrigens immer, wenn die Entwicklung der Kultur neuer
Klassen hinter dem Wachstum ihrer Stärke zurückbleibt und die beiden
Prozesse in mehreren Etappen verlaufen). 3. Politische Revolutionen
und revolutionäre Veränderungen FRAGEN Die
Transformation der bürokratischen
in die bourgeoise Ordnung erfolgt also nicht von heute auf morgen,
sondern nach und nach (und manchmal sogar in der Art: Zwei Schritte vorwärts, einer zurück) und als Ergebnis einer ganzen
Reihe von Revolutionen, von denen jede (wenn sie erfolgreich ist) nur eine
teilweise Veränderung der besagten Ordnung in die richtige Richtung
sichert, bis die Bourgeois den endgültigen Sieg erringen. Was sind jedoch
diese Revolutionen selbst? Was sind ihre Ursachen, Formen usw.? Lassen Sie uns
versuchen, diese Probleme zu begreifen (umso mehr als dies heute
äußerst aktuell ist). DIE MERKMALE DER
REVOLUTION Klären wir zunächst die allgemeine Bedeutung des Begriffs „Revolution".
Er wird in zwei hauptsächlichen Anwendungen gebraucht. Erstens,
um eine abrupte, sprunghafte Transformation eines Objekts zu bezeichnen.
Hierbei ist die Revolution als eine Antithese der Evolution, d.h. der
allmählichen, zeitlich gestreckten, „langsamen" Metamorphose gemeint.
Dabei sind Abruptheit und
Allmählichkeit relativ: Alle Veränderungen haben eine zeitliche
Dimension und sind daher so oder so graduell. Es gibt kein ständiges
Veränderungstempo. Das Wesen der revolutionären Transformationen
liegt nicht in ihrer absoluten, sondern in ihrer relativen Geschwindigkeit,
also in einer schlagartigen Beschleunigung des Tempos der Veränderung
eines bestimmten Objekts. Die Veränderung eines Objekts erfolgt nach und
nach und beschleunigt sich dann plötzlich scharf. In diesem Fall werden
„träge" Transformationen „Evolution“ und „turbulente" (im
Vergleich zu den früheren) „Revolution“ genannt. Zweitens werden auch radikale
Transformationen als revolutionär bezeichnet. Das bezieht sich aber nicht
auf das Tempo, sondern auf die Qualität der Veränderungen. Hierbei
stehen die Revolutionen im Gegensatz zu unbedeutenden Transformationen (die im
sozialen Bereich Reformen genannt werden). Natürlich sind Radikalität
und Bedeutungslosigkeit auch relativ. Die Bewertung einer bestimmten
Transformation als wesentlich oder unwesentlich hängt von der Wahl des
Kriteriums ab. In unserem Fall, in dem es um die Veränderung der
Gesellschaftsordnung geht, ist dieses Kriterium die Klassennatur der
Transformation. Wenn eine Transformation die Klassennatur des Nutznießers
einer bestimmten Ordnung ändert, ist sie revolutionär, wenn nicht,
geht es um eine Reform. Diese beiden Merkmale sind jeder
Revolution eigen, egal um welches Objekt es sich handelt. Sie werden oft
getrennt verwendet (um zu bestimmen, ob eine Transformation revolutionär
ist oder nicht), und das ist im Prinzip zulässig, aber in der Praxis
erscheinen sie immer zusammen. Wo die Transformation eines Objekts
plötzlich scharf beschleunigt wird, erlangt sie gleichzeitig einen anderen
qualitativen und darüber hinaus einen viel radikaleren Charakter als die
früheren evolutionären Veränderungen. Wo die Veränderungen
eines Objekts für seine Bestimmtheit wesentlich sind, verlaufen sie viel
schneller als seine unbedeutenden Metamorphosen. Wodurch wird das verursacht? DER SPRINGENDE
PUNKT Es wird durch die Einheitlichkeit von jedem und insbesondere von einem
mehr oder weniger geordneten Systemobjekt bestimmt (wobei alle materiellen
Objekte systemisch sind), also durch die Verbundenheit, gegenseitige
Abhängigkeit aller ihrer Elemente und Eigenschaften, die sich im Objekt
naturgemäß in einer bestimmten Balance befinden. Daher können
die Veränderungen einiger Eigenschaften andere Charakteristiken (und die
dem Objekt als Ganzes innewohnende Ordnung) nur bis zu einer bestimmten Grenze
nicht beeinflussen. Jegliche allmählichen und unbedeutenden
Veränderungen einiger dieser Parameter, die akkumuliert werden,
führen früher oder später zu einer Verletzung des genannten
Gleichgewichts und erfordern (wenn der kritische Schwellenwert erreicht wird)
entsprechende Veränderungen aller anderen Parameter des Objekts, also des
Objektes als Ganzem. Die Balance wird dabei auf eine andere Weise
wiederhergestellt. Dies geschieht selbstverständlich
nicht mehr allmählich, evolutionär, sondern auf eine explosive,
revolutionäre Weise, einfach weil kein System lange in einem
unausgeglichenen, ungeordneten Zustand bleiben kann. Es verschwindet dann de
facto als solches und verwandelt sich in eine chaotische Ansammlung seiner
früheren Elemente (und besteht bestenfalls
virtuell, und zwar in der Fähigkeit zur Wiedervereinigung). Die
Aushöhlung der Systembalance (Ordnung) kann lange und in kleinen Schritten
verlaufen, der Wechsel der Balance dagegen kann entweder „lawinenförmig“
erfolgen oder gar nicht, denn, ich wiederhole, eine Alternative zur schlagartigen Änderung der Ordnung
(die durch die Unmöglichkeit der früheren Ordnung verursacht wird)
ist nur die irreversible Zerstörung und das vollständige Verschwinden
des Objekts als solches. Gleichermaßen ist diese Veränderung der Ordnung eines Objekts
eine grundsätzlich andere und bedeutendere Transformation als kleine
Veränderungen seiner einzelnen Eigenschaften (Elemente), die diese
Transformation durch ihre quantitative Akkumulation verursacht haben. (Ich
lasse hierbei natürlich die Fälle der schnellen und substanziellen
Neuformatierung von Systemen aufgrund starker äußerer Einflüsse
aus: Das ist ein anderes Kapitel, und außerdem ist hier die
Zerstörung wahrscheinlicher). Das einfachste Beispiel für einen solchen Prozess ist die
Veränderung der Struktur (und damit der Eigenschaften) eines Systems
infolge der zunehmenden Anzahl seiner Elemente. Dieses Wachstum kann über
lange Zeit allmählich ohne Konsequenzen für seine Struktur verlaufen,
aber irgendwann erreicht es eine Grenze, jenseits derer eine andauernde
Existenz des Systems in der gleichen Strukturform nicht mehr möglich ist,
so dass es notgedrungen seine Struktur verändert, und zwar abrupt, im
Laufe einer schlagartigen Transformation (im Vergleich zum Tempo der
vorhergehenden Metamorphosen, die das verursacht haben). Wir haben hier etwas Ähnliches: Die schrittweise und zeitlich
gestreckte quantitative und qualitative Entwicklung der Bourgeoisie und dementsprechend
ihrer Stärke untergräbt allmählich die Stabilität der
bürokratischen Gesellschaftsordnung und findet in einem Schwellenmoment
ihre Krönung in einer explosiven gewaltsamen Transformation derselben. DIE
BESONDERHEITEN DER REVOLUTIONEN IN DER GESELLSCHAFT Zusätzlich zu den o.g.
„gruppenrelevanten“ Eigenschaften haben die Revolutionen in der Gesellschaft
auch einige Besonderheiten. Diese Merkmale sind vom gleichen Ursprung und der
gleichen Natur wie die im dritten Vortrag behandelten Besonderheiten der
Gesellschaftsordnung im Allgemeinen - im Unterschied zu den Ordnungen in den
Insekten- und Zellengemeinschaften, wo, wie wir uns erinnern, die Ordnungen
„automatisch“ realisiert werden. Genauso erfolgen revolutionäre
Veränderungen in allen „natürlichen“ Systemen ganz von selbst und in
den menschlichen Gemeinschaften nur infolge bestimmter Handlungen der Menschen.
Deutlich gesagt: Während die Ordnungen bei den „natürlichen“ Systemen
für einzelne Elemente und Teile des Systems weder vorteilhaft noch nachteilig
sind (mangels des Phänomens „Rentabilität“ als solchem, oder nur
einer Vorstellung davon), weswegen diese Ordnungen ohne jeglichen Kampf
zwischen den Elementen (Teilen) „ihrer“ Ordnungen geändert werden,
trägt die Ordnung in den menschlichen Gesellschaften einen
Klassencharakter (der jeweils nur für eine bestimmte Klasse profitabel
ist); die Veränderung der Ordnung geschieht nicht „automatisch“, sondern
im Ergebnis eines Machtkampfes der betroffenen Seiten. Während also die Revolutionen in
den „natürlichen“ Systemen direkt und ausschließlich auf
Transformationen der Ordnungen hinauslaufen, haben sie in unserem Fall zwei
Hypostasen: 1) diese Transformation selbst und 2) einen aktiven Kampf
dafür. Eine Revolution wird hierbei gewöhnlich mit dem letzteren
gleichgesetzt. Im Großen und Ganzen wird als solche folgendes bezeichnet: 1) nur der
Kampf für die Transformation
der Gesellschaftsordnung und nicht diese Transformation selbst; 2) nur der
Kampf für die Transformation der Gesellschaftsordnung
und nicht bestimmter anderer Aspekte des Lebens der Gesellschaft; 3) nur der
Kampf für Klassentransformationen
und nicht für die in diesem Sinne neutralen Transformationen der
Gesellschaftsordnung; 4) nur ein
Massenkampf, der die gesamte
Gesellschaft umfasst, und nicht einzelne kleine und zu nichts führende
Zusammenstöße; 5) nur der
Kampf der fortschrittlichen Klassen
für die ihnen vorteilhafte und auch fortschrittliche Ordnung; der Kampf
der alten Herren für die Erhaltung oder Wiederherstellung der alten
(regressiven) Ordnung wird „Konterrevolution“ genannt; 6) nur
eine direkte, offene Auseinandersetzung der Klassen, die von
ihnen die Anspannung aller Kräfte erfordert (und daher unvermeidlich kurz
und schnell ist, wie es sich bei einer Revolution gehört), und kein
herkömmliches zähes Ringen; es handelt sich also um einen maximal
erbitterten, offen gewalttätigen, heftigen, scharfen politischen Kampf. Ich hebe das Wichtigste hervor: Es ist
üblich, als „Revolution“ im sozialen Bereich nicht so sehr die
Ablösung der Gesellschaftsordnung zu bezeichnen (worauf die Revolutionen
in allen „natürlichen“ Fällen hinauslaufen), als vielmehr die offen
machtvolle Art dieser Ablösung, den harten Kampf dafür; dabei muss
dieser nicht einmal erfolgreich sein. Die direkte gewalttätige
Auseinandersetzung der herrschenden alten Klasse mit den neuen Klassen, die nun
die Herrschaft in der Gesellschaft beanspruchen, kann sogar ergebnislos, ohne
Ablösung der Gesellschaftsordnung enden. Die Revolution erleidet hierbei
sozusagen eine Niederlage, bleibt aber in unseren Augen doch eine Revolution.
Und umgekehrt, wir neigen dazu, eine reale progressive Veränderung des
Klassencharakters der Gesellschaftsordnung, die ohne erbitterten Kampf erfolgt,
nicht für eine Revolution, sondern für etwas anderes zu halten. Wie soll man zu dieser Tradition
stehen? Lassen Sie uns einen Kompromiss eingehen. Schließlich ist nicht
die Bezeichnung, sondern das Erfassen des Wesens des zu Benennenden wichtig. In
dieser Hinsicht haben wir hierbei eindeutig zwei verschiedene Prozesse, die das
Recht auf den Titel einer Revolution haben: a) der offene machtvolle Kampf
für die Änderung der Gesellschaftsordnung und b) die Änderung
der Ordnung an sich. Nennen wir den ersten „politische Revolution“ und den
anderen „revolutionäre Transformation“. Wir werden den unbestimmten (und
zu allgemeinen) Begriff „Revolution" nur in den Fällen verwenden, in
denen eine klare Trennung der genannten Grundinhalte nicht erforderlich ist. Darüber hinaus unterscheiden sich
revolutionäre Transformationen an sich. Einige von ihnen beziehen sich auf
die Änderungen in der Verteilung von (1) Gütern (d.h. auf das
Wirtschaftssystem) und andere (2) von kraftmäßigen Faktoren (auf das
politische System). Im Zusammenhang damit werden die letzteren Änderungen
manchmal auch „politische Revolution“ genannt. Aber ich werde sie einfach
„politische Transformation“, Änderung des politischen Systems usw. nennen,
um Verwirrung zu vermeiden. Die politische Revolution ist also eine
großangelegte, machtvolle Konfrontation der neuen und der alten Klasse mit dem Ziel, die
Gesellschaftsordnung zu ändern. Im Falle des Sieges dieser Revolution
erfolgen die genannten revolutionären Veränderungen, einerseits des
wirtschaftlichen und andererseits des politischen Systems. ANDERE ARTEN DES
POLITISCHEN KAMPFES Politische Revolutionen sollten nicht mit anderen Arten des
politischen Kampfes verwechselt werden. Sie unterscheiden sich in vielerlei
Hinsicht. Erstens nach den Subjekten: der Kampf von (1) Klassen, (2)
„Unterklassen“, (3) Ethnien, (4) Konfessionen etc. Zweitens nach dem Umfang:
die (1) die gesamte Gesellschaft, (2) ihre einzelnen Teile, (3) einzelne
Fragmente dieser Teile umfassen. Drittens nach der Form: sowohl
gewalttätig, als auch gewaltfrei, sowohl friedlich, als auch nicht (wobei
der gewaltfreie Kampf immer friedlich ist, während der gewalttätige
Kampf sowohl friedlich als auch nicht friedlich sein kann). Viertens nach den
Zielen: als der Kampf für (1) wesentliche (Klassen-) und (2) unwesentliche
Veränderungen in der Gesellschaftsordnung, (3) für die nationale
Befreiung, (4) für die Dominanz einer bestimmten Religion oder einer
Richtung darin usw. Die eigentliche politische Revolution weist nur einige von den genannten Merkmalen auf (das
ist, wie gesagt, der großangelegte, machtvolle Klassenkampf für die
Änderung der Gesellschaftsordnung). Aber es sind auch andere Kombinationen
und Konfigurationen möglich, die ganz andere Arten des politischen Kampfes
schaffen. Es ist für uns nützlich,
diejenigen davon wahrzunehmen, die den politischen Revolutionen mehr als andere
ähneln und deshalb oft als solche gelten. Meistens werden
großangelegte, machvolle Auseinandersetzungen (die die ganze Gesellschaft
umfassen) damit gleichgesetzt. Das Vorhandensein dieser beiden Merkmale scheint
vielen ausreichend zu sein, um solche Ereignisse zu einer Revolution zu
erklären. Dabei wird fälschlicherweise für zweitrangig gehalten,
wer mit wem und wofür kämpft. So gelten manchmal als Revolutionen
umfangreiche (insbesondere siegreiche) Aufstände, deren Hauptsubjekte
(„treibende Kräfte") in der Praxis die „Unterklassen“ und bei denen
die praktisch umsetzbaren und sogar teilweise proklamierten Ziele nur personale
Veränderungen im Staatsapparat sind (wenn auch das Thema „Parolen“, d.h.
Ideologeme, die gewollt oder ungewollt das Wesen der Sache maskieren, getrennt
behandelt werden soll). Ein krasses Beispiel für einen solchen Aufstand
sind die Ereignisse in Russland in den Jahren 1917 - 20. Außerdem beschönigen manche
Propagandisten gerne die Ereignisse und erklären alle Arten der
zeitgenössischen nationalen Befreiungs- (und selbst religiösen, dabei
nicht nur Reformations-) kriege und Bewegungen zu Revolutionen. Das bezieht
sich verständlicherweise nicht auf ähnliche Erscheinungen in der
Vergangenheit, sowohl wegen der Nutzlosigkeit der Propaganda in Bezug auf das
Vergangene, als auch wegen der Zweifelhaftigkeit ihrer Folgen, die im
Zeitverlauf offensichtlich geworden ist. Es gibt hierbei nämlich meist
keine Spur von sozialem Fortschritt. Der nationale Befreiungskampf hat mit
Revolution nur dann etwas zu tun, wenn dieser zugleich einen bürgerlich-antibürokratischen
Charakter hat. Als der Kampf einer Ethnie für die Befreiung von der
Herrschaft einer anderen Ethnie ist er in keiner Weise revolutionär. Wenn
dieser Kampf siegreich ist, ändert sich der Klassentyp der Gesellschaftsordnung
entweder überhaupt nicht (es ändert sich nur die ethnische
Zusammensetzung des Staatsapparats) oder es gibt leider eine Änderung zum
Schlechten. Das Letztere geschieht z.B. in den meisten Gesellschaften des
modernen Afrikas, wo die Vertreibung der europäischen Kolonialherrscher
mit ihrer bürgerlichen Ordnung naturgemäß zur Wiederherstellung
der bürokratischen oder gar primitiven traditionellen Stammesordnung
führt, die dem jeweiligen Entwicklungsniveau der Urbevölkerung
entspricht. Eine solche Degradierung der gesellschaftlichen Organisation hat
natürlich verheerende Folgen. (Das Gleiche, mit einigen Abweichungen, kann
über den Charakter und die Ergebnisse der religiösen Bewegungen
gesagt werden). 4. Ursachen und Formen der
Revolutionen URSACHEN UND
ANLÄSSE DER REVOLUTIONEN Aus der dargelegten Übersicht über die
Revolutionen ergibt sich, dass ihre Hauptursachen evolutionäre
Veränderungen in den Gesellschaften sind, die im quantitativen Wachstum
und der qualitativen Entwicklung neuer Klassen zum Ausdruck kommen und von der
Akkumulation der politischen Macht bei denselben begleitet werden. In einem
bestimmten Moment dieses Prozesses erreicht das Kräfteverhältnis der
neuen und der herrschenden alten Klassen ein Niveau, bei dem der Kampf der
neuen Klassen um die Macht und die ihnen vorteilhafte Wirtschaftsordnung
beträchtliche Erfolgschancen erlangt. In einer solchen Situation des
ungefähren Kräftegleichgewichts und einer entsprechenden
Instabilität der früheren Ordnung ist diese Ordnung erstens dem
Zusammenbruch und der Transformation geweiht. Zweitens wird der Verlauf der
Ereignisse durch weniger bedeutende und meistens zufällige Gegebenheiten
und Faktoren bestimmt, die entweder die Balance zugunsten einer der Parteien
beeinflussen (z.B. durch den „Fahnenwechsel“ anderer sozialer Gruppen) oder
Öl ins Feuer des Kräftemessens gießen oder auf eine andere Art
die Situation verschärfen und diese in Richtung einer machtvollen
Entscheidung drängen. All diese Momente schaffen bereits günstige
Bedingungen und Anlässe für den Ausbruch des Revolutionsbrandes. Ich betone dabei, dass die Entwicklung und Stärkung der neuen Klasse,
in unserem Fall der Bourgeoisie, direkt mit dem Aufblühen des
Wirtschaftslebens, der Entstehung einer komplizierteren sozialen Struktur der
Gesellschaft, der Bereicherung der genannten Klasse usw. zusammenhängen.
In einer Situation des Verfalls, des Marktzusammenbruchs, der Massenarmut und
des sonstigen wirtschaftlichen und sozialen Elends ist eher die Degradierung
und Schwächung der Bourgeoisie zu bemerken (genauso wie einer anderen
beliebigen fortschrittlichen Klasse, die auf den neuesten, höchsten
Errungenschaften der Gesellschaft basiert). Die Revolutionen werden, entgegen
der (auf Anregung von Lenin) verbreiteten Meinung, durch die Prosperität
und nicht durch den Ruin vorbereitet und ausgelöst. Wenn die Bourgeoisie
reif und mächtig genug ist, kann allerdings dieses oder jenes Versagen bei
der erfolgreichen Verwaltung der Gesellschaft der Anlass (der „Abzugshaken“) dafür
sein. Die Bourgeois schieben dann natürlich den Bürokraten die Schuld
dafür in die Schuhe (und zwar gewöhnlich zu Recht), weil die
Bürokratie Hindernisse der Produktionsentwicklung errichtet, sich bei der
Verwaltung der Gesellschaft egoistisch verhält usw. Allerdings lösen
das Elend und die Massenarmut an sich (ohne entwickelte Bourgeoisie) durchaus
keine Revolutionen aus, sondern Unruhen, Meutereien, Aufstände und
ähnliche politische Kataklysmen. In heruntergekommenen
Gesellschaften, wo Habenichts und Hungrige überwiegen, sind Revolutionen (also kraftmäßige
Auftritte, die eine progressive Umgestaltung der Gesellschaftsordnung zum Ziel
haben) unmöglich; nur reiche und starke Menschen können sie
vollbringen. DIE NOTWENDIGKEIT
DER GEWALT Und was sind die Formen politischer Revolutionen? Um sie zu
verstehen, soll man davon ausgehen, dass: 1) der
durchschnittliche Mensch nach der biologischen Natur sein persönliches
Wohlergehen (die Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse)
über alles setzt; 2) Klassen
Massengemeinschaften von Menschen sind; 3) die
Aktionsart von Massengemeinschaften die Aktionsart ihrer Durchschnittselemente
widerspiegelt.
Daher die Schlussfolgerung: Das Verhalten der Klassen ist zwangsläufig
egoistisch. In unserem Fall bedeutet
dies, dass a) alle
Klassen unentwegt nach Privilegien und folglich nach deren notwendiger
Vorbedingung, der Herrschaft und der Macht in der Gesellschaft streben; b) keine
herrschende Klasse diese Macht (und die damit verbundenen Präferenzen)
ohne Kampf abgibt; sie kann ihr nur mit Gewalt genommen werden. Oder mit anderen
Worten: a) politische
Revolutionen sind immer Gewaltakte b) revolutionäre
Transformationen tragen einen Zwangscharakter. Man kann das
sogar das Grundgesetz der Ablösung von Gesellschaftsordnungen nennen. Dies gilt natürlich voll und ganz
auch für die Bürokratie. Überall und jederzeit steht sie
für die ihr vorteilhafte Ordnung bis zum Letzten (allerdings wiederum wie
jede andere Klasse). Es ist naiv, von ihr etwas anderes zu erwarten, d.h. die
freiwillige Aufgabe von Klassenpositionen zugunsten von „abstraktem
Humanismus" und sozialer Gerechtigkeit. Die Bourgeoisie (und andere
Klassen) können sie nur durch Gewalt von der Macht abbringen. DIE
MÖGLICHKEIT, DIE BEDINGUNG UND DIE URSACHE DER FRIEDLICHEN REVOLUTIONEN
Gleichzeitig sollte man die Gewalttätigkeit einer Revolution mit ihrem
nicht-friedlichen Charakter nicht verwechseln. Die unerlässliche Gewalt
muss nicht unbedingt in Form von direkten militärischen Zusammenstößen,
bewaffneten Aufständen usw. auftreten. Sie kann auch in Form von
Massendemonstrationen, Generalstreiks und anderen Formen des zivilen
Ungehorsams realisiert werden. Die genannten friedlichen Druckmittel
müssen nur ausreichend sein, um die von ihnen verfolgten Ziele zu erreichen. Und wann sind sie ausreichend? Wenn
ihre Stärke die Fähigkeit der Herren, Widerstand zu leisten, deutlich
übersteigt. Der friedliche oder nicht-friedliche Charakter der Gewalt z.B.
der Bourgeoisie über die Bürokratie (und überhaupt jeder neuen
Klasse über die alte) wird in der Praxis allein durch das Verhältnis
ihrer Kräfte bestimmt. Wenn sie ungefähr gleich sind (oder zumindest
wenn ihr Verhältnis unklar ist), dann ist ein bewaffneter Kampf (oder
wenigstens ein Versuch, das Problem machtvoll zu lösen) unvermeidlich. Ich
wiederhole: Niemand gibt die Macht einfach so ab. Der Verzicht auf den Kampf
ist nur möglich, wenn der Gegner eindeutig stärker ist, wenn es
offenkundig sinnlos ist, sich an die alte Ordnung zu klammern oder wenn das gar
bedeutende Verluste bis hin zum Lebensverlust mit sich bringen kann. Nur unter
diesen Bedingungen gibt es Chancen auf eine friedliche Transformation der
Gesellschaftsordnung. Die Massenaktionen sind eben nichts anderes als die Machtdemonstration,
als die Drohung mit Gewalt, als der Beweis gegenüber der herrschenden
Klasse, dass ihr Widerstand sinnlos ist. Wenn diese Beweise überzeugend
genug sind, machen die Herren Zugeständnisse und die Revolution ist
friedlich, wenn nicht, kann man leider ohne Blutvergießen nicht auskommen. Friedliche Revolutionen sind also
keineswegs gewaltfrei; es geht nur um die erzwungene Kapitulation ehemaliger
Herren (in unserem Fall der Bürokraten) unter den Bedingungen eines
offensichtlichen Kräfteübergewichts der neuen Machtanwärter (in
unserem Fall der Bourgeois). Nun, und der Grund für den friedlichen
Verlauf der Ereignisse ist hierbei selbstverständlich die natürliche
Neigung aller Menschen (und aller Lebewesen im Allgemeinen), ihr Leben zu
retten, d.h. sich zurückzuziehen, wo es sich nicht lohnt anzugreifen. Der
Kampf für eine hoffnungslose Sache kann nur Einzelgänger (mit ihren
individuellen psychischen Abweichungen), aber keine Klassen inspirieren. DIE
KRÄFTEKONSTELLATION IM HISTORISCHEN RÜCKBLICK Im Zusammenhang damit,
dass (a) die Revolutionen nur bei einem erheblichen Übergewicht der
Kräfte der „Revolutionäre“ über die Kräfte der
„Wächter“ der alten Ordnung friedlich sind und (b) dass dieses
Kräfteübergewicht allmählich akkumuliert wird und nur in relativ
späten Epochen den „Soll-Zustand“ erreicht, ist klar, dass fast alle frühen
(primären und sekundären) bürgerlichen Revolutionen
nicht-friedlich waren. Die Möglichkeit, der Bürokratie friedlich die
Macht zu nehmen, erschien hierbei erst in den letzten Entwicklungsetappen, als
die Bourgeoisie tatsächlich zur mächtigsten Gesellschaftsklasse wurde. So verhält es sich selbst bei
einem rein allgemeinen theoretischen Herangehen ohne Berücksichtigung
externer sozialer Einflüsse. Angesichts des aggravierenden Umstandes, dass
die ersten Bourgeois nicht nur mit relativ starken inländischen
Bürokratien, sondern auch in der feindseligen Umgebung fremder
bürokratischer Staaten um die Macht in ihren Gesellschaften kämpfen
mussten, war der militärische Charakter früher Revolutionen
unvermeidlich. Umgekehrt erhöhte die Bildung und Stärkung des
bürgerlichen Lagers in der Welt die Chancen auf eine friedliche
Lösung des Problems in den benachbarten bürokratischen Ländern.
Neben der Macht der eigenen Bourgeoisie müssen die Bürokraten in
dieser Situation auch das Druckpotenzial von externen Verbündeten der
Bourgeois berücksichtigen. Die Bourgeoisie erreicht hierbei die notwendige
kritische Überlegenheit der Kräfte viel früher, als wenn sie
„Mann gegen Mann“ mit dem bürokratischen Staatsapparat kämpfen
würde. DIE BESONDERHEITEN
DER WIEDERHERSTELLUNG DES BÜROKRATISMUS Etwas andere Eigenschaften sind
der Wiederherstellung des Bürokratismus eigen. Sie stellt natürlich
oft auch die politische Gegenrevolution dar, also sie ist das Ergebnis
militärischer Siege, der rein kraftmäßigen Vorherrschaft alter
oder neuer Bürokratien (der personellen Zusammensetzung nach). Aber nicht
selten findet die Wiederherstellung auch friedlich statt, bei minimalem
Widerstand der regierten Massen. Dies ist hauptsächlich auf die niedrige
politische Kultur der letzteren zurückzuführen, was die
Bürokratie auch ausnutzt, und zwar natürlich genau so, wie es diese
Schwäche erlaubt. Hierbei gewinnt die Allmählichkeit
an Bedeutung, mit der sich die Apparatschiks wieder ihre Machtbefugnisse
aneignen. Ein friedlicher bürokratischer Umsturz hat gewöhnlich einen
schleichenden Charakter. Je weniger die einzelnen Transformationen das System
als Ganzes ändern und je mehr Zeit zwischen ihnen vergeht (je mehr sich
die Menschen daran gewöhnen, nach veränderten Regeln zu spielen),
desto leichter ist es, sie ohne Widerstand durchzuführen. Der
unauffällige, langsam verlaufende Verlust von politischen Rechten und
Möglichkeiten bringt die Gesellschaft nicht so in Aufruhr wie scharfe
katastrophale Transformationen. Die Stärke des Widerstands ist direkt
proportional zum Ausmaß der Verletzung des Status quo. Es ist immer
leichter, sich mit einzelnen unbedeutenden Übergriffen abzufinden. Wenn
sie sich jedoch zu einer kritischen Masse ansammeln, ist es bereits zu spät. (Übrigens erfolgt auf diese Art
und Weise, nach und nach, also nach eigenem Ermessen oft nicht nur die
Wiederherstellung der bürokratischen Regime, sondern, ich möchte
daran erinnern, im Allgemeinen die primäre historische Machtübernahme
in der Gesellschaft durch die Bürokraten. Es geht hierbei eben nicht um
eine politische bürokratische Revolution, weil die natürliche
Evolution der Gesellschaftsordnung unter den Bedingungen der allseitigen
Schwäche der regierten Massen die Aufgabe dieser Revolution ohne weiteres
bewältigt). Vortrag neun. „DIE
REVOLUTIONEN VON OBEN" 1. Das Phänomen der
Revolutionsreformen DIE NACH IHREM
SUBJEKT BESONDEREN ARTEN VON REVOLUTIONÄREN TRANSFORMATIONEN Bisher haben
wir nur von den Revolutionen gesprochen, die durch neue Klassen, in unserem Fall
die Bourgeoisie, durchgeführt werden. Es ist klar, dass das der normale
theoretische Fall ist. In der allgemeinen Theorie kann das nicht anders sein.
Allerdings gab es in der Geschichte auch ungewöhnliche Fälle, wenn
nämlich bürgerliche Transformationen durch den Staatsapparat
initiiert wurden. Es gab in solchen Fällen keine politischen Revolutionen,
aber die Gesellschaftsordnung änderte sich doch, und die Veränderungen
waren revolutionär, probürgerlich und antibürokratisch. Dabei
wurden sie von niemand anderem als den Bürokraten selbst
durchgeführt. Beispiele hierfür sind die
„Großen Reformen" von Alexander II in Russland, die
„Meiji-Revolution" in Japan, Gorbatschows „Perestroika"
(Umgestaltung) usw. Hierbei änderte sich überall das Klassenwesen der
Gesellschaftsordnung (allerdings meist nur in ihrem wirtschaftlichen Teil), und
überall waren die Lokomotiven des Prozesses nicht die Bourgeois (teils
wegen ihrer Schwäche oder auch wegen eines Mangels an Bourgeoisie
überhaupt), sondern die Apparatschiks (zumindest ihre entscheidenden,
höchsten Schichten). Deshalb werden diese Transformationen „Revolutionen
von oben" genannt, obwohl, ich wiederhole, von Revolutionen nach dem weit
verbreiteten Verständnis, d.h. von politischen Revolutionen, hierbei nicht
im Geringsten die Rede sein kann. Dies sind nur revolutionäre
Transformationen (die nicht nur ohne erbitterten Klassenkampf, sondern auch in
einem relativ langsamen Tempo verlaufen, also den „normalen“ Revolutionen auch
nach diesen Parametern nicht ähneln; nur der Inhalt der Veränderungen
ist hierbei revolutionär). Dieses
merkwürdige Phänomen ist also einer gesonderten Behandlung wert. DAS PROBLEM DER
BEZEICHNUNG Einigen wir uns zunächst auf die Bezeichnungen, um es
einfacher zu machen, darüber Betrachtungen anzustellen. Revolutionäre
Transformationen, die durch die genannten, grundsätzlich verschiedenen
Subjekte (neue oder alte Klassen) implementiert werden, verdienen auch
gesonderte Namen, aber die fehlen leider im Lexikon, und daher entsteht
Verwirrung. Im Einzelnen: In der Regel wird der Begriff „Reform“ verwendet, um
bourgeoise Änderungen der Ordnung zu bezeichnen, die durch die
Bürokratie realisiert werden (anscheinend orientiert man sich dabei an dem
für diese Änderungen und für echte Reformen gemeinsamen Merkmal,
dass beide durch die herrschenden Klassen durchgeführt werden). Aber
manchmal werden sie auch Revolutionen genannt (erinnern wir uns an die
„Meiji-Revolution"), wobei die Reformen dagegen oft mit unbedeutenden
Transformationen gleichgesetzt werden, die „die Staatsordnung nicht
ändern“, sie werden also als
Antithesen von Revolutionen aufgefasst. Wir haben es hierbei mit einer
kompletten Begriffsverwirrung zu tun: Zuerst werden politische Revolutionen und
revolutionäre Transformationen auf einen Haufen geworfen, die in
Wirklichkeit gar nicht nach der Bedeutung der jeweiligen Begriffe, sondern eher
als Ursache und Wirkung korrelieren. Ferner werden nicht-revolutionäre
Transformationen hinzugefügt, die angeblich den Revolutionen gegenüberstehen,
obwohl sie logischerweise nur den revolutionären Transformationen
gegenüberstehen können und mit den politischen Revolutionen
überhaupt nichts zu tun haben, weder begriffsmäßig noch in der
Realität. Kurz gesagt ist es wünschenswert,
jeder Erscheinung ihren Namen zu geben. Daher nenne ich von nun an (1) nur
unwesentliche (nicht-revolutionäre) Veränderungen „Reformen“, (2)
standardmäßige revolutionäre Transformationen (die im Laufe und
im Ergebnis von politischen Revolutionen durch neue Klassen durchgeführt
werden) „revolutionäre Transformationen“; (3) in Bezug auf
revolutionäre Transformationen, die ohne politische Revolutionen durch
herrschende Klassen durchgeführt werden, werde ich den Begriff
„revolutionäre Reformen“ verwenden (indem ich ein weiteres Mal einen
Kompromiss mit dem üblichen Wortgebrauch eingehe). DIE HAUPTURSACHE
DER REVOLUTIONÄREN REFORMEN Woher kommen diese revolutionären
Reformen? Wie sind sie überhaupt möglich? Schließlich geschieht
da etwas gleichsam Absurdes: Die Bürokratie benimmt sich unlogisch, indem
sie plötzlich die ihr vorteilhafte Gesellschaftsordnung zugunsten der
Bourgeoisie verändert. Das kann ja einfach nicht wahr sein: Nach dem o.g.
„Grundgesetz" sind alle Klassen egoistisch; sie können ihren eigenen
Interessen nicht schaden. Oder wird etwa das genannte Gesetz in diesem Fall
verletzt? Natürlich nicht. Es geht hierbei
einfach um einen „Interessenkonflikt" verschiedener Prioritäten, der
die jeweilige Klasse dazu treibt, aus mehreren Übeln das Kleinste zu
wählen. Die Bürokratie sieht sich genötigt, weniger bedeutende
Interessen (z.B. einzelne ökonomische Normen der bürokratischen
Ordnung) zugunsten von wichtigeren (z.B. dem Erhaltung der Bürokratie als
herrschende Klasse im Allgemeinen) zu opfern. Oder gar die ganze Ordnung im Allgemeinen
zu opfern, um das Leben konkreter Bürokraten zu retten (das Letztere gilt
allerdings nicht mehr für revolutionäre Reformen, sondern für
friedliche Revolutionen). Aktuell wird dieser Konflikt
ausgelöst durch eine besondere Verkettung von Umständen, und zwar
eine, die im Rahmen der allgemeinen Theorie (jedoch verständlicherweise
nicht in der Praxis) ausgeschlossen ist. Gesellschaften funktionieren und
entwickeln sich ja nicht im luftleeren Raum (also nur gemäß ihren
eigenen Potenzen und Tendenzen), sondern
unter den Bedingungen zahlreicher Einflüsse von außen. Alle diese
Einflüsse der äußeren sozialen Umwelt sind eben gerade die
Ursachen für das angeblich antibürokratische Verhalten der Bürokraten.
Keine Bürokratie führt revolutionäre Reformen aus altruistischen
Überlegungen durch; die Bürokraten retten dadurch einfach ihre Haut.
Der Druck der äußeren Umwelt, also wiederum die Gewalt, zwingt sie,
Transformationen durchzuführen, aber in diesem Fall geht es nicht um den
Druck seitens der inneren Bourgeoisie, sondern seitens der äußeren
Feinde, besonders der bourgeoisen Staaten, die mit den o.g. Bürokraten auf
der politischen Weltbühne konkurrieren. Was genau ist damit gemeint? DROHENDER
UNTERGANG UND WEGE ZUR RETTUNG Verzichten wir zunächst einmal aus
Gründen der Klarheit auf die Fälle, in denen bourgeoise
Transformationen den bürokratischen Gesellschaften direkt von außen
aufgezwungen werden. Dies geschieht bei militärischen Niederlagen, wenn
sie vollständig unter Kontrolle der bourgeoisen Staaten geraten. Das
geschah beispielsweise in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, als
in Deutschland und in Japan die bourgeoise Ordnung durch die USA etabliert
wurde (ein Gegenbeispiel dafür ist übrigens die Wiederherstellung des
Bürokratismus durch die UdSSR in
bourgeoisen Ländern, so in den baltischen Staaten, in Tschechien
und Polen) sowie das jahrhundertelange Aufzwingen von bourgeoisen Rechtsnormen
in verschiedenen Kolonien durch entwickelte europäische Länder (das
ist der Grund dafür, dass Indien jetzt demokratischer als China ist).
Diese Option gehört jedoch nicht zu unserem Thema, weil revolutionäre
Transformationen hier nicht durch die Bürokratie, sondern wiederum durch
die Bourgeoisie durchgeführt werden, allerdings durch eine fremde,
ausländische. Die echten revolutionären Reformen
werden durch den indirekten Druck des äußeren sozialen Umfelds
hervorgerufen (nicht die Eroberung, sondern ihre Bedrohung), also die
Situation, in der sich das gesetzmäßige Zurückbleiben der
sozioökonomischen Entwicklung der bürokratischen Gesellschaften von
den bourgeoisen zu einem bestimmten Zeitpunkt deutlich in ihrer politischen
(militärischen) Schwäche offenbart, deren Überwindung für
die Bürokratie zu einer Frage von Leben und Tod wird. Und wie kann man sie
überwinden? Die Hauptaufgabe der Bürokratie in diesem Bereich ist
natürlich die Anschaffung der neuesten Rüstung (und parallel dazu die
Umwandlung der Armee). Hierbei gibt es zwei Möglichkeiten: 1) der
Ankauf der genannten Waffen anderswo (wiederum in bourgeoisen Staaten) und 2) die
Organisation einer eigenen Waffenproduktion. WELCHER WEG IST
DER BESSERE? Die erste Möglichkeit ist einfacher und erlaubt scheinbar
schädliche (für die Herrschaft der Bürokraten) Reformen zu
vermeiden. Es gibt hierbei jedoch auch
Nachteile. Zunächst einmal ist es offensichtlich, dass man sich (1)
anderswo, wenn auch „nicht mehr ganz so neue“ Waffen verschaffen kann. Niemand
wird dem „potenziellen Gegner" die modernsten und effektivsten
Waffenmodelle verkaufen. Das verursacht einen technologischen
Rüstungsrückstand, folglich kann die relative militärische
Schwäche auf diesem Wege nicht beseitigt werden. Außerdem (2) ist
das im Allgemeinen der Weg zur immer größeren Abhängigkeit von
den Waffenherstellern, der Weg in den Abgrund, weil der reale Rückstand
dabei immer größer wird - mit all seinen Folgen. Schon diese beiden Aspekte reichen aus,
damit mehr oder weniger zurechnungsfähige Bürokraten, die sich um ihr
langfristiges Überleben kümmern, diese „einfache Lösung"
mit Vorsicht behandeln und sie nicht favorisieren. Ihre Skepsis wird noch durch
folgende Umstände verstärkt: Erstens dadurch, dass der Kauf von
Rüstungsgütern anderswo nicht etwa die Notwendigkeit von
gefährlichen Reformen beseitigt. Es reicht nicht, moderne Waffen zu kaufen,
man muss auch verstehen, sie zu anzuwenden, sowohl technisch als auch in Bezug
auf die Strategie und Taktik der Kriegsführung. Dies erfordert eine
angemessene Bildung, Kultur, Mentalität (einschließlich des
Wertesystems), also qualitätsmäßig andere Soldaten und
Offiziere, und eine solche Qualität ist ohne bestimmte Veränderungen
in den traditionellen bürokratischen Beziehungen nicht zu erreichen. Zweitens ist dieser Weg oft einfach
unmöglich zu beschreiten, manchmal de jure (so war der Verkauf von Waffen
nach Sowjetrussland im Westen verboten), in der Regel de facto. Man braucht ja
Mittel, um Waffen zu kaufen, und wo sollen sie herkommen, wenn die Wirtschaft
des Landes im Verfall begriffen ist? Die heutigen Realitäten Russlands,
Saudi-Arabiens und Venezuelas geben natürlich eine Antwort auf diese
Frage: Es ist angeblich möglich, einfach Rohstoffe zu verkaufen. Aber dies
erfordert, dass: 1) sie überhaupt vorhanden und 2) in der Welt gefragt
sind, 3) entsprechende Vorkommen erkundet und schließlich 4) deren
Förderung organisiert worden ist (was auch Investitionen erfordert). In
all diesen Punkten stand die Sache bis zur zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts nicht zum Besten. Rückständige Regime konnten in den
entwickelten Ländern keine größeren Mengen von
Rüstungsgütern kaufen: Sie hatten kein Geld dafür. Auch aus
diesen Überlegungen heraus war es also nötig, die Entwicklung der
eigenen Wirtschaft voranzutreiben. Doch dieser Zwang zur wirtschaftlichen
Entwicklung zwecks Beschaffung von Mitteln für den Kauf von Waffen im
Ausland wirkt seltsam. Ist es nicht einfacher und vernünftiger (unter
Berücksichtigung der ersten beiden oben beschriebenen Aspekte),
unmittelbar eine eigene Waffenproduktion zu schaffen, also direkt den zweiten
Weg zu gehen? Für Bürokraten ist das natürlich viel attraktiver,
und es ist klar, dass alle traditionellen (d.h. diejenigen, die sich nicht nur
vorübergehend auf dem Thron fühlten) und mächtigen
Bürokratien (d.h. diejenigen, die an der Spitze der Gesellschaften
standen, die unabhängig sein konnten) der letzten drei Jahrhunderte eben
diesen Weg gingen. Sie versuchten, ihre eigene Produktion moderner Waffen auf
die Beine zu stellen. Was ist für diesen Weg charakteristisch? DER INHALT DER
TRANSFORMATIONEN UND DIE METHODEN IHRER UMSETZUNG Die Produktion von Waffen,
beginnend mit der Neuzeit (und mit der Zeit immer mehr), trägt
industriellen Charakter; ihre Vervollkommnung ist auch mit der Entwicklung der
Industrie stark verbunden. Wer also im militärischen Bereich mit der Zeit
Schritt halten will, kann nicht umhin, dem große Aufmerksamkeit zu
widmen. Das ist auch bei der Bürokratie der Fall: Sie ist gezwungen, sich
um den Aufstieg der heimischen Industrie und die Industrialisierung der
Gesellschaft zu kümmern, um nicht zurückzubleiben und am Ende nicht
die Macht zu verlieren. Zu diesem Zweck braucht man erstens
Ausrüstungen (Werkzeugmaschinen, Anlagen, Hochöfen etc.), zweitens
Technologien, drittens Produktionspersonal (ausgebildete Facharbeiter
verschiedener Berufe, Ingenieure etc.), viertens Entwickler von sowohl rein
industriellen, als auch eigentlich militärischen Anlagen und Technologien
(Erfinder und Wissenschaftler) und schließlich fünftens Leute, die
die Ausbildung und das ordnungsgemäße Funktionieren dieses ganzen
Heeres von Arbeitnehmern sichern (Lehrer, Pädagogen, Ärzte usw.) Die
Aufgabe der bürokratischen Industrialisierungspolitik läuft also
darauf hinaus, dass die oben aufgeführten Elemente irgendwie in ihrer
rückständigen Gesellschaft erscheinen, sie müssen beschafft
(gekauft, weggenommen, gestohlen, selbst erzeugt) werden; die funktionale
Struktur der Gesellschaft muss dementsprechend neu formatiert werden. Wie lässt sich das bewerkstelligen?
Auch hierbei sind zwei grundsätzliche Herangehensweisen möglich: Die
Erzwingung der industriellen Entwicklung entweder (1) direkt und
hauptsächlich (vielleicht
sogar ausschließlich) durch die Bürokraten selbst oder (2)
überwiegend (wenn nicht nur) durch die regierten Massen. Im ersten Fall
übernimmt der Staatsapparat alles: Die Transformationen erfolgen nur nach
seinen Vorgaben und unter seiner wachsamen Leitung ohne eine
überflüssige (unautorisierte) Initiative der Untertanen, die nur als
Vollstrecker des Willens und der Entscheidungen ihrer Vorgesetzten auftreten.
Der private Charakter der Wirtschaftstätigkeit, geschweige denn das
Privateigentum werden negiert. Ebenso wird dann die laufende Verwaltung der auf
diese Weise geschaffenen „nationalen“ Industrie (vielleicht sogar der „Volkswirtschaft“ als Ganzem)
ganz natürlich zur Sache der Apparatschiks, (mit allen
„Spezialitäten“ der bürokratischen Verwaltung, Zentralisierung und
Planung). Im zweiten Fall wird die Tätigkeit
der Bürokraten hauptsächlich darauf reduziert, breite Massen von
Menschen in die Industrialisierung einzubeziehen, indem günstige
Bedingungen für die beschleunigte „natürliche" Entwicklung der
Industrie geschaffen werden („natürlich" im Sinne des freiwilligen
Einsatzes der Bevölkerung und nicht ihres Zwanges im Zuge der
„großen Wenden"[35]).
Hierbei wird die beschleunigte Bewegung in die notwendige Richtung dadurch
erzielt, dass entsprechende Aktivitäten der Untertanen zur Entwicklung der
Industrie und im Allgemeinen der Wirtschaft erlaubt und gefördert werden. 2. Das Dao der
bürokratischen Zentralisierung BEDINGUNGEN, DIE DIE
ERSTE HERANGEHENSWEISE ERMÖGLICHEN Die formale (theoretische)
Möglichkeit der beiden genannten Optionen bedeutet jedoch nicht
automatisch ihre praktische Äquivalenz: Die Durchführbarkeit des
einen oder des anderen Weges wird durch konkrete Bedingungen bestimmt. In
dieser Hinsicht ist die erste Herangehensweise anspruchsvoller (und somit
weniger leicht umsetzbar). Man braucht eine Reihe von besonders seltenen und
spezifischen Umständen, um sie zu implementieren. Erstens geht es um die entsprechende
ideologische Unterstützung. Die Idee, die Verwaltung der Produktion
innerhalb der Gesellschaft zu zentralisieren, ist nicht simpel und eigentlich
sogar extravagant, zumindest für die überwiegende Mehrheit der
bürokratischen und noch mehr der keimenden bourgeoisen Gesellschaften.
Damit wird ja nicht nur das bürgerliche Privateigentum, sondern
überhaupt die Individualität einer beliebigen mehr oder weniger
bedeutenden wirtschaftlichen Existenz bestritten. Solch eine Ordnung wurde nur
in der Mentalität der alten Ägypter für natürlich gehalten;
alle anderen Völker der Welt tendierten mehr oder weniger zur privaten
Wirtschaftsführung. In dieser Situation ist selbst der Gedanke an die
Verstaatlichung der ganzen Wirtschaft oder zumindest eines wesentlichen Teils
davon (nicht als Fantasie, sondern als eine reale politische Strategie) kaum
wahrscheinlich: Das erfordert die Anhäufung eines erheblichen Negativismus
in Bezug auf das Privateigentum, also eine lange Herrschaft und ein hohes
Entwicklungsniveau des bürgerlichen Systems zuvor, das alle seine
Mängel erkennen lässt. Daher kann sich die o.g. Idee einerseits nur
in einer relativ späten Epoche und andererseits nicht auf der Grundlage
von bürokratischen Gesellschaften selbst herausbilden. Unvermeidlich ist
eine lange historische Periode, in der das Problem einer nachholenden
Modernisierung für bestimmte bürokratische Regime bereits aktuell
ist, und die „Ideologie“ ihrer Lösung im Rahmen der ersten
Herangehensweise entweder noch gar nicht vorhanden oder aus den bürgerlichen
Ländern noch nicht importiert ist (dabei ist klar, dass die
Gesellschaften, die in einem näheren Kontakt mit der bürgerlichen
Welt sind, diese „Ideologie“ früher als die peripheren meistern). Zweitens reicht es nicht aus, dass eine
Idee überhaupt aufkommt; es ist notwendig, dass sie die Massen und vor
allem die Bürokratie selbst als die Klasse ergreift, die diese Idee
hauptsächlich realisiert. Wer sonst, wenn nicht der Staatsapparat, soll
die Verstaatlichung durchführen? Und welcher Staatsapparat ist zu solch
einer „Heldentat“ fähig? Nur derjenige, der nicht am Gegenteil
interessiert ist, dem das Privateigentum fremd ist, der keine separate
materielle Existenz hat, der sein Einkommen ausschließlich seiner
Dienststellung verdankt usw., der also weder mental (aus Überzeugung) noch
praktisch (nach seiner Stellung, und das ist noch wichtiger) individualisiert
ist. Das kann, muss jedoch nicht, (hierbei spielt, ich wiederhole, auch die
Mentalität eine Rolle, die an sich individualistisch sein kann) nur die
Bürokratie der anfänglichen zentralisierten Evolutionsperioden
bestimmter bürokratischer Staaten sein, wenn die Mitglieder dieser Klasse
(des Staatsapparats) soeben
gemeinsam die Macht ergriffen haben und in ihrer sozialen Stellung noch nicht
richtig verwurzelt sind, die Massenbestrebungen zur Festigung ihrer (vor allem
materiellen) Unabhängigkeit vom Hierarchen noch nicht erkannt haben, sich
nicht vom reinen Dienstadel zu Bojaren, Landbesitzern und anderen
ähnlichen Eigentümern des Landes und der Leute verwandelt haben, die
ihnen zugewiesen wurden. Kurz gesagt, kann die zentralisierte
bürokratische Industrialisierung nur durch eine völlig neue, ihrer
Zusammensetzung nach „frische" und somit noch nicht verrohte, relativ
eingespielte Bürokratie ausgeführt werden, die ein gehorsames
Werkzeug des Zentrums ist. Ihr Aufkommen kann nur das Ergebnis von Folgendem
sein: a) entweder
der Eroberung durch rückständige Stämme, die noch keine
erfahrene Bürokratie haben (was eindeutig nicht unser Fall ist, weil sich
das auf Epochen bezieht, in denen das Problem der Industrialisierung noch nicht
bestand); b) oder
der siegreichen Bauern- sowie der nationalen und religiösen
Aufstände, die frühere Dynastien und ihren Staatsapparat stürzen
und sie durch neue ersetzen. In allen anderen Fällen, d.h. bei
den bereits etablierten und daher individualisierten Bürokratien,
können die Bürokraten (in der Masse) keine Anhänger und
dementsprechend keine Werkzeuge der bedeutenden und umso weniger totalen
Verstaatlichung der Wirtschaft sein. Allerdings sind drittens auch die
Schärfe und die Dringlichkeit der Notwendigkeit von Bedeutung, die
Rückständigkeit zu überwinden, und zwar: (1) das Ausmaß
der externen Bedrohung und die Größe der dem Staat zur
Verfügung stehenden (2) Ressourcen und (3) Zeit. Wenn die Bedrohung
groß ist, die Ressourcen und die Zeit aber knapp sind, kann sich selbst
eine tief verwurzelte Bürokratie, die sich vom Instinkt der
Selbsterhaltung leiten lässt, auf Kosten der privaten Interessen ihrer
Mitglieder mobilisieren. Bei einer tödlichen Gefahr, der man nur durch
gemeinsame Anstrengungen, durch die Anspannung aller Kräfte der Klasse
(der „Mobilisierung der Wirtschaft") entgegenstehen kann, erhält die
Idee der Zentralisierung unter den Bürokraten eine zusätzliche
Motivation und Anreize für die Umsetzung. Schließlich ist viertens auch die
Stärke des Staatsapparats wichtig (unter Berücksichtigung seiner
radikalen Zentralisierungspolitik), u.a. im Zusammenhang damit, ob es
ernsthafte Verbündete in der Bevölkerung gibt (die gegen das Privateigentum
eingestellt sind). Solche Transformationen erfordern ja nicht nur besondere
Qualitäten der Bürokratie selbst, sondern beeinflussen auch
dramatisch das Leben ihrer Untertanen. Es ist notwendig, sowohl (a) Ressourcen
von ihnen abzuziehen, als auch (b) sie zu zwingen, massenhaft auf ihre
traditionelle Lebensgestaltung zu verzichten und Mitarbeiter der neuesten
Industrie zu werden, und (c) ihre gewohnheitsmäßige Neigung zur
individuellen Wirtschaftsführung und zum Privateigentum zu
unterdrücken. All das sind schmerzhafte Operationen ohne Anästhesie,
also extrem schwierige Aufgaben, die ohne radikale Gewalt und dementsprechend
ohne eine signifikante Gewaltprävalenz des Staatsapparats gegenüber
der gewaltsam umgestalteten Gesellschaft unlösbar sind. Dies sind die Bedingungen, ohne die
eine zentralisierte bürokratische Modernisierung der Wirtschaft nicht
möglich ist. Es ist offenbar,
dass 1) die
meisten das Produkt einer relativ späten Epoche (der Neuzeit) sind; darum
konnten alle Bürokratien nur den zweiten Weg (auf dem Gebiet der
Industrialisierung) gehen und gingen auch gesetzmäßig diesen Weg; 2) selbst
in der neuesten Epoche finden sich diese Bedingungen (insbesondere in ihrer
Gesamtheit) bei weitem nicht immer, weshalb auch hierbei die meisten
Bürokratien zum zweiten Weg tendieren. BESONDERHEITEN
DER ERSTEN HERANGEHENSWEISE Doch beenden wir unser Gespräch über die
erste Herangehensweise. Es ist wichtig, ihre charakteristischen Eigenschaften
zu behandeln. Ich werde hierbei auf Folgendes eingehen. Erstens
auf die Tatsache, dass in diesem Fall die Transformationen keineswegs
revolutionäre Reformen sind, also Veränderungen des
bürokratischen Klassencharakters der Gesellschaftsordnung. Alle Metamorphosen,
die durch den Staatsapparat durchgeführt werden, betreffen nur die
„Technik“, die funktionale Struktur der Gesellschaft und das Niveau der
speziellen (professionellen) Kenntnisse der Massen, wobei die
Gesellschaftsordnung nach wie vor bürokratisch bleibt, sowohl in der
Organisation des politischen, als auch des wirtschaftlichen Systems. Die enge
Produktionsspezialisierung wird hierbei nicht nur durch die Bürokratie
inspiriert (sie entwickelt sich nicht etwa auf natürliche Weise), sondern
selbst das Funktionieren einer solchen differenzierten Produktion steht unter
ihrer Kontrolle. Ihre Zellen werden gar nicht durch den Markt, sondern durch
den Staatsapparat verbunden, der alle wirtschaftlichen Prozesse verwaltet. Zweitens sind gleichzeitig (1) die
genannte Verkomplizierung der funktionalen Struktur der Gesellschaft und (2)
die Erhöhung der fachlichen Kompetenzen der Massen (die dadurch veranlasst
wird, dass komplexe Ausrüstungen zu betreiben sind), zusammen mit der (3)
beschleunigten Verstädterung eine Basis für die Bildung von (a) neuen
sozialen Schichten, die für die Bürokratie viel gefährlicher als
früher die Bauern sind, und (b) neue Umstände, die viel schwieriger
zu kontrollieren sind als das primitive soziale Leben der Naturalwirtschaft.
Die Bürokratie, die den Weg der Zentralisierung geht, bewahrt
natürlich die Klassenreinheit ihrer Gesellschaftsordnung (was ja diesen
Weg für sie attraktiv macht), ändert allerdings die Gesellschaft
selbst, und diese Veränderungen bewirken in jedem Fall die Unterminierung
ihrer Herrschaft und die Zunahme der Stärke ihrer Untertanen. Um unter
diesen extremen Bedingungen die Macht zu erhalten, benötigt daher der
Staatsapparat ebenso extreme Maßnahmen: Massiven Terror und enorme
Propaganda, vorbeugende Unterdrückung der geringsten Unzufriedenheit der
Bevölkerung, verzweifelten Kampf gegen Andersdenkende usw. Noch nicht
genug, dass, wie schon erwähnt, für die vorgenommene grundlegende
Umgestaltung der Gesellschaft eine kolossale Gewaltanwendung (und folglich die
erhöhte Stärke der Klasse) nötig ist; die Ergebnisse dieser
Umgestaltung verlangen dies auch, nun allerdings mit dem Ziel, die Macht der
Bürokraten zu schützen. In der entstehenden komplexen Situation ist
das bürokratische Regime gezwungen, zehn Mal härter durchzugreifen
als zuvor, also totalitär zu werden; sonst kann man den aus seiner Flasche herausgelassenen Dschinn der (strukturell und kulturell) neuen Gesellschaft nicht
beherrschen. Schließlich drittens kann die
Bürokratie diesen Weg nicht dauerhaft gehen, weil die effektive Verwaltung
der komplexen Produktion und Gesellschaft, wie im siebten Vortrag erwähnt,
für sie zu anspruchsvoll ist. Die Bürokratie arbeitet mit ihren Methoden und Potenzen
zwangsläufig in Richtung Totalzusammenbruch. Dieser Zusammenbruch von
Allem (als Endergebnis) ist unvermeidlich, es geht nur darum, wann er erfolgt.
Dabei wird die Lage weder durch das lokale Vorhandensein der gefragten
Rohstoffe noch durch die günstige Konjunktur auf dem Rohstoffmarkt
gerettet. Dies kann den Ruin des Regimes nur hinauszögern, aber nicht seine
Agonie und den wirtschaftlichen Zusammenbruch stoppen: Die Verlagerung der
Priorität von der Güterproduktion auf die Rohstoffgewinnung gibt der
Wirtschaft im Gegenteil eher einen Fangschuss. Kurz gesagt,
bürokratisierte Gesellschaften sind nicht in der Lage, mit dem
technologischen Fortschritt Schritt zu halten und qualitativ hochwertige
neueste, einschließlich militärische Produkte, herzustellen (und das
ist ja der Dreh- und Angelpunkt von allem), und je weiter (sowohl in Bezug auf
die Komplexität von Technologien, als auch in Bezug auf das Ausmaß
der Degradierung der Bürokraten und der von ihnen kontrollierten
Produktion und Gesellschaft), desto weniger. Deswegen müssen sie entweder
erneut moderne Rüstungsgüter in den bürgerlichen Staaten kaufen
(z.B. für den Erlös aus dem Rohstoffverkauf, mit allen
gefährlichen Folgen einer solchen Problemlösung) oder müssen
versuchen, die heimische Produktion auf andere Weise auf die Beine zu stellen.
Die Auswahl an Möglichkeiten ist hierbei recht klein: Eine Alternative zur
bürokratischen Zentralisierung der Verwaltung der „Volkswirtschaft"
kann nur die Erzwingung der wirtschaftlichen Aktivitäten der Untertanen
sein, also die Befreiung und Aktivierung ihrer Initiative durch entsprechende
revolutionäre Veränderungen. EINE DER URSACHEN
DER PERESTROIKA Die genannte Unvermeidbarkeit des Zusammenbruchs ist
übrigens eine weitere Ursache der revolutionären Reformen und eine
wertvolle Ergänzung der militärischen Bedrohung durch die
fortgeschrittenen bourgeoisen Staaten. Die Notwendigkeit, den Rückstand zu
überwinden, spielt natürlich auch hierbei eine führende Rolle,
erstens aufgrund seines historischen und logischen „Geburtsrechts"; der
Niedergang der Wirtschaft ist ja eine Folge der bürokratischen Zentralisierung
der Verwaltung, und die Zentralisierung selbst ist die Ausgeburt des
Rückstandes, nämlich ein Weg, diesen zu beseitigen. Zweitens trifft
der Verfall durch den Rückstand (mit all seinen Gefahren) auch
augenblicklich den durch den zentralisierten Bürokratismus betroffenen
gesellschaftlichen Organismus, selbstverständlich noch vor seiner
vollständigen Zerstörung. Deswegen kommt die Reaktion der
Apparatschiks auf diese „Krankheit“ natürlich ihrer Reaktion auf das
Näherkommen des allgemeinen „Aus“ zuvor. Allerdings ist das ein Kapitel
für sich, eine separate große Bedrohung, und das zwingt auch die
vernünftigen Bürokraten, einen Ausweg aus der katastrophalen
Situation zu suchen. Ein solches Heranreifen der Apokalypse
wurde z.B. in der späten Sowjetunion deutlich. Die Wirtschaft stand kurz
vor dem Zusammenbruch, der Staat lebte hauptsächlich vom Handel mit den
Energieressourcen, deren Preise sanken; auf lange Sicht zeichneten sich klar
Verarmung, Hunger, wachsende soziale Spannungen, Unruhen und ähnliche
Katastrophen ab, und deren Gefahr für die sowjetische Bürokratie war
sogar gewichtiger als die Drohung einer militärischen Invasion von
außen, die wegen des „nuklearen Schirmes" praktisch ausgeschlossen
war. Daher also wurde die Gefahr des Zusammenbruchs zur Hauptursache für
die sogenannte „Perestroika". Man musste etwas tun, weniger um Konkurrenten einzuholen (davon träumte
schon lange keiner mehr), sondern einfach, um nicht in den Abgrund zu fallen
(auf den Kopf Nordkoreas, das da schon saß). Die Gesellschaft im
Allgemeinen, aber vor allem die Bürokraten selbst mussten schlicht
überleben. Und was konnte man da tun? - Im Grunde
genommen nur revolutionäre Umwandlungen der Gesellschaft durchführen.
Man kann beim besten Willen nicht ein zweites Mal auf dieselbe Harke treten,
wenn man immer noch darauf steht. Obwohl Andropow versuchte, in der kurzen Zeit
seiner Herrschaft die zentralistische Ordnung irgendwie wieder zu beleben, ihr
einen zweiten Anstoß zu verpassen, hatte diese krampfhafte Konvulsion des
im Sterben liegenden Regimes keine Chance auf Erfolg und brachte nichts zuwege.
Die Notwendigkeit, das bestehende System zu demontieren, wurde nur deutlicher. Doch insgeheim hatten unsere
Apparatschiks natürlich auch einen dritten Backup-Plan: Bis zum letzten
durchzuhalten, ohne etwas zu ändern, und wenn es schließlich kurz
„vor 12“ wäre, mit dem Gestohlenen irgendwohin ins Ausland abzuhauen.
Allerdings war das: a) bereits
kein Klassenverhalten mehr, sondern privates Handeln (jeder stirbt für
sich allein); b) „geografisch“
beschwerlich: Für die Masse der sowjetischen Bürokraten mit ihrer
Ideologie, der Last ihrer Vergangenheit und ihrer Politik der harten
Konfrontation mit der westlichen Welt im Laufe von mehr als einer Hälfte
des Jahrhunderts gab es im
Prinzip kein Entrinnen
(wenn man die mehr oder weniger anständigen Orte meint). Und
schließlich c) das
Ergebnis des bürokratischen Zentralismus, zusätzlich zu der Krise von
Allem, war auch (wegen der Besonderheiten des jeweiligen Verteilungssystems),
dass es bei der Mehrheit der Apparatschiks keine wesentlichen privaten
Ersparnisse gab. Daher,
ich wiederhole, war der Weg der revolutionären Reformen der am
stärksten akzeptable (wenn nicht der einzig mögliche) Ausweg aus der
Sackgasse für die Bürokraten der späten Sowjetunion. 3. „Wir gehen einen anderen
Weg“[36] NOCH EINE WEGGABELUNG
Es stellt sich also heraus, dass das einzig Mögliche der Rückgriff
der Bürokratien auf die zweite Herangehensweise ist, d.h. auf die
Modernisierung der Industrie durch die Massen, die dazu künstlich
ermuntert und zu entsprechenden Aktivitäten ermutigt werden. Das geschieht
beides da, wo es ursprünglich keine Bedingungen für die Realisierung
der Industrialisierung durch den Staatsapparat gibt und wo dieser Weg nach und
nach immer weniger begehbar wird (sowohl wegen der praktischen Ergebnisse und
der dadurch verursachten Diskreditierung dieses Weges in den Augen der
Öffentlichkeit, als auch im Zusammenhang mit dem natürlichen Schwund
der Bedingungen, die die Entscheidung für ihn absichern). Wie kann die Aktivierung
der Massen erreicht werden? Formal (de jure) wiederum auf zweierlei Weise. Erstens indem die zentralisierte
Verwaltung der „Volkswirtschaft" erhalten wird. Hierbei wird das
gewünschte Ergebnis durch Veränderungen im politischen System
erreicht, die die Macht dem „Volk" übergeben und die
unbürokratisch geführte Verwaltung zur Angelegenheit der gesamten
Gesellschaft machen. Sie hat die Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft
(oder zumindest ihrer überwiegenden Mehrheit) zum Ziel. Also wird die Höherentwicklung
der Wirtschaft gemeinschaftlich in Angriff genommen. Zweitens indem die Verwaltung
dezentralisiert wird, also indem bourgeoise Wirtschaftsreformen
durchgeführt werden: Der Markt, die Privatinitiative, das Privateigentum,
die Privatproduktion usw. werden nicht nur erlaubt, sondern auch
gefördert, alle für ihr normales Funktionieren notwendigen rechtlichen
Garantien, unabhängige Gerichte etc., werden gegeben. Das ist
natürlich auch (genauso wie bei der ersten Herangehensweise) nichts
anderes als eine antibürokratische Reform des politischen Systems; sie ist
allerdings bei weitem nicht vollständig und nimmt dem Staatsapparat auch nicht
die wichtigsten Machtpositionen, also durchaus nicht die Herrschaft in der
Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist es verständlich, dass all diese
Transformationen eher instabil sind (insbesondere, wenn sie keine breite
Unterstützung in der Bevölkerung finden, also wenn in kurzer Zeit
keine starke Massenbourgeoisie gebildet wird) und jederzeit
rückgängig gemacht werden können. Aber das ist nur aus der Sicht
der Bourgeoisie nachteilig. Die Begrenzungen des zweiten Weges heben ihn als
solchen nicht auf. Die Bürokraten sind durchaus imstande, diesen Weg zu gehen. WOFÜR STIMMT
DER STAATSAPPARAT AB Der erste Weg dagegen ist für sie gesperrt. Zum
einen, weil er sich an dem Heiligsten, der Macht des Staatsapparates,
vergreift, also an seiner Existenz als herrschender Klasse überhaupt. Die
Bürokraten können auf solche Weise die Macht nur im Ergebnis einer
politischen (wenn auch friedlichen) Revolution verlieren, die sie stürzt,
aber keineswegs im Ergebnis revolutionärer Reformen, die sie selbst durchführen
(eben um sich zu retten). Bei dem
Ausmaß der Bedrohung, das die Bürokraten zu revolutionären
Reformen zwingt, müssen sie noch nicht abdanken (sich selbst vernichten);
das kann keinesfalls eine freiwillige Entscheidung sein. Die Bürokratie
wird nie darauf eingehen, solange sie als Klasse nur die geringste
Überlebenschance hat. Das wäre ja das Gleiche, als wenn man die Diarrhöe mit Harakiri heilen würde. Wenn
es also nicht um eine Revolution, sondern lediglich um bürokratische revolutionäre
Reformen geht, können sie sicherlich nur auf bürgerliche Transformationen
des Wirtschaftssystems hinauslaufen. Mehr noch, zweitens, selbst unter den
Bedingungen einer friedlichen
politischen Revolution, wenn der Staatsapparat nicht imstande ist, die Macht zu
erhalten, aber immer noch im Wesentlichen als solcher weiter existiert (bei
einer nicht-friedlichen Revolution ist das unmöglich), ist es für ihn
von entscheidender Bedeutung, dass die sich hierbei abspielenden antibürokratischen
Transformationen des politischen Systems parallel zu den bürgerlichen
Wirtschaftsreformen ablaufen (und er kämpft auch dafür). Warum? Nur bei einem solchen Kompromiss erlangen die Apparatschiks
(als Privatpersonen ) die Möglichkeit, ihre frühere Macht (die sie nun
verlieren) gegen Besitz zu tauschen, sich also in der Tat von Bürokraten
in Bourgeois zu verwandeln und damit von einer Form ihrer Herrschaft in der
Gesellschaft zu einer anderen überzugehen, während der Machtverlust bei
der Aufrechterhaltung der zentralisierten Verwaltung der „Volkswirtschaft“ den
ehemaligen Bürokraten alles entzieht. ANDERE URSACHEN
DER UTOPIE Dies sind die Interessen und Ziele der Bürokratie als des Hauptsubjekts
(im Falle der revolutionären Reformen) oder zumindest als eines wichtigen
Spielers auf diesem „Minenfeld“ (im Falle der friedlichen Revolutionen). Die Bürokratie
ist allerdings nicht der einzige Spieler auf diesem Feld, und deswegen werden die
Realität bzw. die Utopie dieses Weges auch durch den Charakter der anderen
Kräfte in der Gesellschaft bestimmt. In diesem Sinne ist drittens der
Übergang zu einem unbürokratischen Zentralismus nicht möglich, u.a.
weil eine Gesellschaft, in der die Bürokraten herrschen (und wenn sie dabei
ihre letzten „goldenen Tage“ erleben), zwangsläufig rückständig
ist, sowohl ihrer sozialen Zusammensetzung nach, als auch in Bezug auf das
Niveau der politischen Kultur der Massen (sonst würden die Bürokraten
dort nicht herumkommandieren können). Deshalb gibt es selbst im Falle
einer Revolution einfach niemanden, der die „Zügel“ ergreifen und sich an
der Macht etablieren könnte, mit Ausnahme der neuen Bürokratie, eines
neuen Bonaparte. In einer solchen Situation ist die Erhaltung des Zentralismus
in der Wirtschaft einerseits sinnlos und schädlich (da er nach wie vor bürokratisch
bleibt). Andererseits (und das ist für uns das Wichtigste) handelt es sich
keinesfalls um eine Bewegung in die „richtige“ (demokratische) Richtung, sondern
nur um einen Personenwechsel im Staatsapparat (wobei sich sonst überhaupt nichts
ändert). Schließlich viertens besteht die Utopie
dieser Option auch darin, dass sie keine klare Ideengestaltung hat. Der
ökonomische Zentralismus wird im Moment von den Massen
ausschließlich in seiner bürokratischen Form identifiziert, und
deswegen greifen alle bewussten Bürger bei dessen Erwähnung
reflexartig nach den Pistolen. Das Beispiel der Sowjetunion ist noch zu frisch
und zu blutend, als dass die dort kompromittierten Ideen zum Gegenstand einer
unvoreingenommenen wissenschaftlichen Analyse werden, geschweige denn ihre Popularität
wiedergewinnen könnten. Daher gibt es noch keine der nötigen Ideen,
die die Massen ergreifen könnten, ganz zu schweigen davon, dass es (zumindest,
in den bürokratischen und postbürokratischen Gesellschaften) keine Massen
selbst gibt, die dazu fähig wären, diese Ideen unverzerrt zu erfassen
und richtig anzuwenden, während die Ideen der bürgerlichen
Gesellschaftsordnung im Gegenteil allgemein bekannt und repliziert sind;
darüber hinaus trumpft man dabei mit einer Vielzahl von Beispielen auf,
die die Überlegenheit dieser Ordnung gegenüber der bürokratischen
deutlich zeigen. ZUSAMMENFASSUNG Also ist nur die zweite,
bürgerlich-wirtschaftliche Variante der revolutionären Reformen
möglich, sowohl nach dem Stand: a) der Menschheit, die bislang nichts Besseres
kennt (in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit), als auch b) der zu reformierenden
Gesellschaften, die wegen ihrer Rückständigkeit nicht einmal in der
Lage sind, einfache bürgerliche, geschweige denn „ultrabürgerliche“ Reformen
durchzuführen und c) der Bürokratie selbst mit ihren egoistischen
Interessen. Die Transformationen von Alexander II, Meiji, Gorbatschow hatten
genau diesen Charakter; das Gleiche passiert im modernen China. Dagegen stellt
der erste Weg (die demokratische Zentralisierung) eine Utopie dar, in jedem
Fall unter den gegebenen Umständen, die wir behandeln, wenn die
Bürokraten alles beherrschen, wenn die Gesellschaft rückständig
ist usw. Jedoch bleibt die Frage offen, ob dieser Weg im absoluten Sinne (also
unter allen möglichen Umständen, z.B. als Ziel der politischen
Revolution einer superfortschrittlichen postbürgerlichen Klasse) utopisch
ist. Das Problem der zentralisierten unbürokratischen Produktionsverwaltung
erfordert eine separate Diskussion und viel mehr Wissen als das, worüber
wir derzeit verfügen. DAS PROBLEM DER
EFFIZIENZ VON REVOLUTIONÄREN REFORMEN Abschließend möchte ich
kurz auf die Effizienz der „Revolutionen von oben" eingehen.
Natürlich ist sie in jedem Fall anders, abhängig von den
Umständen, wobei der wichtigste Faktor die Bereitschaft zu
revolutionären Reformen der zu transformierenden Gesellschaft ist. Da sie „von oben" und nicht „von
unten" durchgeführt werden, bedeutet dies, dass die Gesellschaft im
Großen dazu nicht bereit ist. Aber zwischen „nicht bereit“ und „nicht bereit“
ist ein großer Unterschied. Der Erfolg oder Misserfolg von revolutionären
Reformen wird genau durch den Grad dieser (Nicht-)Bereitschaft der Gesellschaft
bestimmt, also durch ihre (Un-)fähigkeit, diese zu akzeptieren. Demnach ist für bürgerliche
Reformen die eigene anfängliche „Bürgerlichkeit“ der zu reformierenden
Gesellschaft von Bedeutung. Selbstverständlich ist es einfacher, die
bürgerliche Ordnung dort einzuführen, wo es bereits eine mehr oder
weniger deutlich herausgebildete Bourgeoisie gibt, die in der Lage ist,
bestimmte Arbeitsfähigkeiten, die Arbeitsethik, die individualistische
Mentalität usw. ohne weiteres aufzugreifen. Wenn es jedoch nichts davon
gibt (wie in der späten Sowjetunion mit ihrer marsähnlich wüsten
antibürgerlichen und sogar mitunter überhaupt antiökonomischen
Landschaft), dann hat der Markt kaum Chancen, Fuß zu fassen. Seine
Sprossen bringen hierbei verkrüppelte und hässliche Triebe hervor. Veränderungen
werden durch die marginalisierte Population massenhaft abgelehnt. In diesem
Fall ist es äußerst schwierig, Reformen erfolgreich
durchzuführen (nicht in Form einer räuberischen Verteilung und Plünderung
des „nationalen Gutes" durch ehemalige und neue Apparatschiks, sondern im
Sinne eines echten Übergangs zur Marktwirtschaft). Nun, und im politischen Bereich bleibt verständlicherweise
die Macht allenfalls in den Händen der Bürokraten, ob es in der
Gesellschaft eine Bourgeoisie gibt oder nicht, nur dass dort, wo
wirtschaftliche und soziale Transformationen auf einen fruchtbaren Boden fallen
und erfolgreich sind, die Herrschaft des Staatsapparates einen schonenderen und
weniger langlebigen Charakter trägt. Vortrag zehn. DAS POLITISCHE SYSTEM DER BOURGEOISIE: SEIN ALLGEMEIN ANTIBÜROKRATISCHER INHALT Das nächste Thema ist der
Charakter (der Inhalt) der Ordnung, in der die Macht in der Gesellschaft der
Bourgeoisie gehört. Oben ist bereits einiges darüber gesagt worden; jetzt
ist es an der Zeit, die Sache genauer zu behandeln. Wir wollen uns vor allem
daran erinnern, was die Ziele dieser Ordnung sind. Wonach strebt die Bourgeoisie,
wovon träumt sie? 1. Ziele und Wege Die
Bourgeois gehören zu den Marktschichten. Ihr Wohlergehen hängt vom
normalen Funktionieren des Marktes ab (also einem freien Funktionieren, das
durch keine äußeren Einflüsse verzerrt wird und
gemäß eigenen Gesetzen erfolgt), und sie bemühen sich auch,
dies als ihr Endziel zu erreichen. Aber wodurch wird dieses normale
Funktionieren bestimmt? Beziehungsweise: Was macht das Funktionieren des
Marktes unmöglich? WORAUF BERUHT DER
MARKT? Der Markt ist ein Produkt einerseits des privaten und andererseits des
spezialisierten Charakters der Produktion. Ich nenne hierbei zuerst den privaten
Charakter einfach aus Gründen des historischen Primats: Es ist klar, dass
die Isoliertheit der Hersteller noch in der Naturalwirtschaft, also vor deren
Spezialisierung, vorhanden war. Allerdings ist die Spezialisierung logischerweise
wohl wichtiger, da der Markt eine besondere Form der Verbindung von Wirtschaftszellen
der Gesellschaft ist (als Austausch von Arbeitsprodukten und der Arbeit selbst,
der in Form von An- und Verkauf verwirklicht wird). Die Spezialisierung entspricht
hierbei dem Inhalt, also der Notwendigkeit der Verbindung im Allgemeinen, und
der private Charakter nur der Form. Eben die Spezialisierung macht die Hersteller
in ihrer Reproduktion (die sich sowohl auf die Produktion als auch auf das
Leben überhaupt bezieht) voneinander abhängig. Sie erfordert
darüber hinaus den Austausch der Arbeitsergebnisse. Die Isoliertheit
jedoch, d.h. die Organisationsautonomie der einzelnen Produktionsstrukturen, bedingt,
dass dieser Austausch nur in Form von An- und Verkauf, also nicht durch organisierte
Verwaltung erfolgt. DIE NATÜRLICHKEIT
DER GENESIS Die beiden „grundlegenden" Merkmale zeigen sich in der
Produktion auf natürliche Weise. Als erstes bildet sich, wie gesagt, ihr privater
(individuell-familiärer) Charakter heraus. Er reift gesetzmäßig
auf der Basis von individuellen primitiven Mitteln und Werkzeugen heran, die
keine kollektive Anwendung erfordern. Dann entwickelt sich im Zuge der
allgemeinen Vervollkommnung der Produktion (und dies insbesondere bei der
Steigerung ihrer Produktivität) auch ihre Spezialisierung, sowohl durch
das Erscheinen von Fachleuten in verschiedenen Wirtschaftszweigen, als auch in
Form der entsprechenden Diversifikation der genannten Werkzeuge (während
der individuelle Charakter beibehalten wird). Im Ergebnis entwickelt sich die Produktion
en masse zur privaten Produktion für andere, d.h. zum Verkauf (weil es, ich
wiederhole, bei der Isoliertheit der Hersteller nur in dieser Form überhaupt
Austausch geben kann). Gleichzeitig ist das - auf andere Art
- die Entstehung des
Marktes und der Bourgeoisie. Es sind dies nur verschiedene Aspekte eines
Prozesses, weswegen sie miteinander eng verbunden sind. Das erklärt auch,
warum die Interessen der Bourgeoisie letztlich darauf hinauslaufen, das normale
Funktionieren (a) der privaten Wirtschaftsführung und (b) des
Marktaustausches zu gewährleisten. DIE BEDINGUNGEN
FÜR DIE BEIDEN ASPEKTE Was wird für den ersten benötigt? Zunächst
einmal die Freiheit der Produzenten, über sich selbst und über ihre
Arbeit zu verfügen, also ihre persönliche Freiheit und, im
Allgemeinen, ihre politische Unabhängigkeit (wo es eine persönliche
Abhängigkeit gibt, von wem auch immer, gibt es auch eine politische, wobei
die letztere auch unpersönlich, ständemäßig sein kann).
Anders gesagt bedeutet dies das Unvermögen irgendeiner Instanz (sowohl
praktisch, als auch gesetzlich), die Produzenten etwas gegen ihren Willen tun
zu lassen. Dies ist einerseits realistisch, wenn keiner
über den Produzenten als Gruppe steht (in unserem Fall über den
Eigentümern der privaten Industrie), d.h. wenn gerade sie in der Gesellschaft
dominieren und alle vollen bürgerlichen (hauptsächlich politischen)
Rechte besitzen (dabei ist es natürlich möglich, dass es jemanden
gibt, der „unter ihnen" steht, dessen Rechte im Gegenteil geschmälert
werden: Für die Freiheit der privaten Produktion ist nur wichtig, dass es niemanden
„über“ deren Eigentümern gibt). Andererseits ist es auch notwendig,
dass die Produzenten selbst gleichberechtigt
sind, dass keiner einem anderen untergeordnet ist. Darüber hinaus ist für das
normale Funktionieren der privaten Produktion außer der persönlichen
Freiheit noch die Freiheit der Produzenten erforderlich, über die Gegenstände,
Mittel und Werkzeuge ihrer Arbeit (d.h. über die Produktionsmittel) zu
verfügen. Und was braucht man für einen
normalen An- und Verkauf? Das Gleiche, vor allem die Freiheit der
Verwirklichung, die Freiwilligkeit dieser Handlung. Dafür ist es wichtig,
dass: a) niemand
von außen ins Geschäft eingreifen und willkürlich dessen wesentliche
Parameter (Preise, Volumen, Angebot) bestimmen kann; b) die
Verkäufer und Käufer persönlich voneinander unabhängig sind
und sich gegenseitig nicht die Bedingungen des Geschäfts mit marktfremden
(politischen) Mitteln diktieren können. Die erste Bedingung erfordert wiederum
die tatsächliche Dominanz der Marktschichten in der Gesellschaft, die de
jure in ihrer Vollberechtigung zum Ausdruck kommt; die zweite setzt die Gleichberechtigung
der Marktagenten voraus. Mit anderen Worten, man braucht hierbei auch ihre
Unabhängigkeit, sowohl von Dritten, als auch voneinander. Nun, und natürlich ist außerdem die
Freiheit (die Fülle der Rechte) aller notwendig, über die Produkte ihrer
Arbeit und überhaupt über ihre Waren zu verfügen. Für das normale Funktionieren
sowohl der privaten Produktion, als auch des Marktaustausches benötigt die
Bourgeoisie also: a) die politische Voll- und Gleichberechtigung und b) die
Freiheit, über die Produktionsmittel und -produkte zu verfügen, die de
jure als das Recht auf Privateigentum formalisiert wird. DAS
VERHÄLTNIS DER BEDÜRFNISSE Ich betone die unabhängige Bedeutung
des letzten Passus „b". Es mag den Anschein erwecken, als ob die
politische Voll- und Gleichberechtigung an sich schon das Privateigentum sichert,
weshalb eine gesonderte Erwähnung ihrer Notwendigkeit überflüssig
ist. Dem ist jedoch nicht so. Natürlich ist es unmöglich, ohne
politische Unabhängigkeit über die Produktionsmittel und -produkte
frei zu verfügen (sowie über die private Wirtschaftsführung als
Ganzes zu reden). Es kann kein Recht auf Privateigentum geben, wenn die
Erzeuger grundsätzlich rechtlos sind. Das Eine ist hierbei eine
obligatorische Bedingung für das Andere. Ohne „A" kann es kein „B"
geben. Allerdings folgt daraus logischerweise nur folgendes: 1) wo es kein „A"
gibt, existiert auch kein „B", und 2) wo es ein „B" gibt, ist auch ein
„A". Keineswegs sicher ist aber, dass es unbedingt ein „B“ gibt, wo es ein
„A" gibt. Aus dem bloßen Vorhandensein der Voll-
und Gleichberechtigung von Produzenten ergibt sich keinesfalls der private
Charakter der Produktion. Sie kann auch sozialisiert, zentralisiert, d.h. gemeinschaftlich
verwaltet sein, indem der Austausch von hergestellten Produkten entsprechend organisiert
wird. Damit dieser marktgerecht abläuft, ist es nicht nur notwendig, dass
die Produzenten weder einander oder sonst jemandem unterstehen, sondern dass
sie produktionsmäßig getrennt sind, also dass der private Charakter
der Verfügung über die Produktionsmittel und -produkte gewahrt wird,
was formal eben durch das Prinzip der Unverletzlichkeit des Privateigentums
festgelegt wird. Deswegen muss man darauf hinweisen, dass nicht nur die
politische Voll- und Gleichberechtigung, sondern auch, separat und
zusätzlich, das Recht des Privateigentums eingehalten werden muss, damit die
private Produktion und der Marktaustausch normal funktionieren. Es ist sogar
sinnvoll, dieses Recht als das Hauptziel und die politische Unabhängigkeit
als eine Bedingung dafür (Garantie) oder als Mittel anzugeben, um dieses
Ziel zu erreichen. Schließlich bedient ja, wie wir wissen, die „Politik“
letztlich immer die Bedürfnisse der „Wirtschaft", d.h. sie sichert einen
bestimmten Modus der Verteilung von öffentlichen Gütern (der Marktaustausch
stellt eben einen solchen Modus dar). DIE SCHLÜSSELAUFGABE
UND DIE WEGE, SIE ZU LÖSEN Das grundlegende (ursprüngliche) Interesse
der Bourgeois ist also die Freiheit, über ihre Arbeit sowie über die
Produktionsmittel und -produkte zu verfügen; das ist ihr Endziel. Um es zu
erreichen, ist wiederum die politische Unabhängigkeit der privaten
Eigentümer notwendig, sowohl voneinander als auch von jemand anderem, also
die verschiedensten Freiheiten (die Bewegungs-, Rede-, Versammlungsfreiheit
usw.) und Rechte, nur jetzt rein politischer Art. Das ist sozusagen ein
Zwischenziel der Bourgeoisie (die Voraussetzung für die Verwirklichung des
Endziels), und danach strebt diese Klasse. Wie kann sie jedoch ihre Träume
in der Praxis realisieren? Dazu ist es erstens notwendig, alle
diese Freiheiten und Rechte als verbindliche Normen des Gemeinschaftslebens zu
deklarieren, geeignete Spielregeln zu entwickeln sowie Gesetze zu
verabschieden, die die öffentliche Ordnung entsprechend bestimmen.
Zweitens ist es notwendig, die tatsächliche zwanghafte Durchsetzung dieser
Gesetze zu gewährleisten. Beides wird maßgeblich durch professionelle
Verwalter, nämlich den Staatsapparat, durchgeführt. Die Hauptaufgabe
der Bourgeoisie besteht daher darin, die Kontrolle über diesen Apparat zu
übernehmen (ich erinnere daran, dass dies für Bürokraten verständlicherweise
nicht relevant ist). Und wie kann diese Aufgabe gelöst
werden? Grundsätzlich natürlich durch die Verstärkung der
Bourgeoisie. Sie kann nicht einmal daran denken, sich die Bürokraten unterzuordnen
(und sie damit in Beamte zu verwandeln), ohne dass die Bourgeoisie eine
ausreichende Kraft erlangt (bezüglich solcher Faktoren wie z.B. Kopfstärke,
Zusammenhalt, Reichtum, Bewaffnung usw.) Dies ist die notwendige Voraussetzung,
jedoch reicht sie allein nicht aus. In diesem Fall werden die Bürokraten,
wie vorher erwähnt, bestenfalls gezwungen sein, auf die Bourgeoisie in
ihrer bonapartistischen Politik Rücksicht zu nehmen (z.B. entsprechende
Gesetze zu verabschieden), aber im Grunde genommen werden sie in der Praxis nach
wie vor in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgen (u.a. bei der
Erfüllung dieser Gesetze, nach dem Prinzip „Den Freunden alles, dem Rest
das Gesetz"). Damit der Staatsapparat zu einem gehorsamen Diener der
Bourgeois wird und für sie und nicht für sich selbst arbeitet, ist zusätzlich
zur reinen Potenz auch ein spezielles System der Unterwerfung von
Bürokraten nötig. Dabei muss das (wie ebenfalls schon angemerkt
wurde) ein System sein, das die Verwalter eben
nur der Bourgeoisie unterordnet, mit gewissen Präferenzen in dieser
Hinsicht für die besagte Klasse, mit der ausschließlichen Kontrolle
über die Staatsbeamten in ihren Händen, unter Ausschluss aller
anderen konkurrierenden sozialen Schichten (wenn es diese gibt). Die
Ausarbeitung und Durchsetzung eines solchen politischen Systems bildet das
Wesen des Prozesses, wenn die Bourgeoisie die Macht in der Gesellschaft ergreift
und erhält (die politische Revolution ist dabei nur eine Form der Verwirklichung
dieses Inhalts). Was ist das für ein System? 2. Der Widerspenstigen
Zähmung: Die direkte Unterordnung SPEZIELLE („EGOISTISCHE")
TEILE UND DER ALLGEMEINE TEIL Ich fange an mit der Unterwerfung der Verwalter im
allgemeinen Sinne, d.h. mit Maßnahmen und Handlungen, die sie keiner
konkreten Klasse (in unserem Fall der Bourgeoisie), sondern einer beliebigen
regierten Klasse unterordnen. Ich erkläre, was ich damit meine. Wie alle anderen Klassen, die
eigentlich keine Bürokraten sind, verfolgt die Bourgeoisie bei der Unterordnung
des Staatsapparats in der Tat zwei Ziele. Einerseits will sie damit das
wichtigste und sogar das einzige Mittel erlangen, die Gesellschaftsordnung zu etablieren
und aufrechtzuerhalten, die für sie persönlich von Vorteil ist. Hier
ist eben das Monopol einer bestimmten Klasse auf dieses Instrument und
dementsprechend der Teil des politischen Systems wichtig, der das gewährleistet
(indem alle anderen Konkurrenten aus dem Weg geräumt werden). Andererseits aber löst die besagte
Unterordnung auch die Aufgabe, die Apparatschiks selbst als eine Klasse zu
zähmen, die auch die Dominanz in der Gesellschaft beansprucht; dabei
handelt es sich um eine sehr mächtige und gefährliche Klasse. (Der
Staatsapparat wird hierbei nicht mehr als ein Instrument, sondern als Feind angesehen).
Bevor die Bourgeois die Kontrolle über die Verwalter monopolisieren, muss
diese Kontrolle im Kampf der konkurrierenden Klassen erst einmal überhaupt
etabliert werden. Sonst würde das bedeuten, die Rechnung ohne den Wirt zu machen.
Daher haben alle konkreten politischen Herrschaftssysteme bestimmter Klassen
von Nicht-Verwaltern neben ihren „egoistischen" Fragmenten
notwendigerweise auch den gemeinsamen Teil einer rein antibürokratischen
Orientierung. Diesen allgemeinen Teil, d.h. seine Bestandteile, sollten wir
zuerst betrachten. DIE ROLLE DER SELBSTVERWALTUNG
Das radikalste und wirksamste antibürokratische Mittel ist natürlich
der Austausch der professionellen Verwaltung der Gesellschaft gegen die
Selbstverwaltung der Massen. Dazu ist folgendes erforderlich: 1) Ein
ausreichendes Niveau der politischen und allgemeinen Kultur der Massen; 2) Eine
gewisse (wirtschaftliche, politische, kulturelle, informationstechnische etc.)
praktische Verbundenheit der Massen (durch das Vorhandensein dieser ersten
beiden Merkmale wird, nebenbei bemerkt, nichts anderes als die
Zivilgesellschaft definiert); 3) ein
bestimmter technischer Ausrüstungsstand, der die genannte Verbundenheit
erleichtert und intensiviert. Das Anwachsen jedes dieser Parameter
und umso mehr aller Parameter erhöht das Potenzial der Selbstverwaltung,
also die Fähigkeit der Mitglieder der Gesellschaft, organisatorische
Probleme, denen sie gegenüberstehen, selbst zu lösen, ohne entsprechende
Fachleute heranzuziehen. Dabei ist das genannte Wachstum, je nach der
Entwicklung der Gesellschaft, natürlich und unvermeidlich, und deswegen
erweitern sich ständig die Möglichkeiten und der reale Umfang der Selbstverwaltung.
Die Bourgeoisie unternimmt auch einiges in diesem Bereich. Sie geht dabei natürlich
viel weiter als die vereinzelten Bauern, indem sie den Bürokraten den (im
Vergleich zu den Bauern) größeren Teil ihrer funktionalen Aufgaben
und der damit verbundenen Befugnisse nimmt. Das ist jedoch kein Ausweg aus unserer
Situation. Erstens rein formal nicht: Der Übergang zur Selbstverwaltung
ist die Verdrängung, die Zerstörung des Staatsapparats, aber nicht etwa
eine Methode, ihn den Regierten unterzuordnen, was wir hier jedoch offenbar
behandeln wollten. Zweitens (und das ist das Wichtigste) ist die genannte Verdrängung
der professionellen Verwaltung bis heute recht selten vorzufinden. Es ist
unwahrscheinlich, dass sie jemals endgültig sein wird, also dass die Notwendigkeit
einer solchen Verwaltung je vollständig aufgehoben wird. Es kann auch schlimmer
kommen: Die Entwicklung der Gesellschaft, die die Erweiterung der
Selbstverwaltung hervorbringt, erzeugt ja gleichzeitig im ähnlichen, wenn
nicht in schnellerem Tempo einen wachsenden Bedarf, diese Entwicklung zu regeln.
Die Kultur, die Verbundenheit und die technische Ausrüstung von
Mitgliedern der Gesellschaft nehmen sicher in der historischen Perspektive zu,
aber gleichzeitig wächst auch die Komplexität der Gesellschaft und
damit die Schärfe und die Anzahl der organisatorischen Probleme, die zu
lösen sind. Der Bedarf an professioneller Verwaltung steigt hierbei letztlich
eher an. Die Selbstverwaltung wächst nur absolut, nach ihrem eigenen
Umfang, aber nicht relativ, nicht nach ihrem Anteil am allgemeinen Umfang der Verwaltungstätigkeit,
die sich noch schneller aufbläht. Daher war und ist die Dringlichkeit der
Aufgabe groß, die Verwalter den Regierten unterzuordnen. Sie bleibt offensichtlich
noch lange aktuell (wenn nicht überhaupt, solange es die Menschheit gibt). ZWEI ARTEN VON
MASSNAHMEN Die Aufgabe wird grundsätzlich im Rahmen von zwei Ansätzen
durch folgende Maßnahmen gelöst: a) direkte Kontrolle des
Staatsapparates und b) dessen relative Abschwächung (einschließlich
der Methoden einerseits der Abschwächung der Apparatschiks selbst und
andererseits der Stärkung der Regierten; das ist, wie verständlich, eine
Frage der Verteilung von Kraftfaktoren). Behandeln wir sie also der Reihe nach.
WÄHLBARKEIT Die
erste und wichtigste Maßnahme der direkten Kontrolle des Staatsapparates
ist die Wählbarkeit seiner Mitglieder (natürlich eine reale,
funktionierende Wählbarkeit und nicht ihre Profanation, wie das im
modernen Russland der Fall ist). Im sechsten Vortrag wurde festgestellt, dass
der Staatsapparat von denjenigen dominiert wird, die die Kader ernennen. Die
Wahlen sind eigentlich mit einer Ernennung gleichzusetzen, außer dass
diese nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben erfolgt: Die Ernennenden
sind nicht die obersten Behörden, sondern die verwalteten Massen selbst, die
dementsprechend auch die „Musik“, d.h. den Aktionsplan, bestimmen, dessen
Ausführung den Verwaltern anvertraut wird. Dabei sollen nicht alle Beamten zur
Wahl gestellt werden (obwohl je totaler die Wählbarkeit von Beamten, desto
höher ihre Kontrollierbarkeit ist, und im Prinzip sollte man das als Ideal
anstreben, wenn man es sich zum Ziel setzt, den Staatsapparat unterzuordnen).
Neben diesem Ziel gilt es allerdings auch andere zu realisieren, z.B.
öffentliche Ressourcen zu sparen. Die totale Wählbarkeit, ihre
technische Ausführung ist extrem aufwendig und kostspielig. Man würde
keine Zeit zum Arbeiten haben und es würde nichts zum Leben geben, wenn
man nichts anderes tun würde als seine Führer zu wählen. Noch wichtiger ist die Effektivität
der Verwaltung, mit welcher eine totale Wählbarkeit schlecht kombinierbar
ist. Erstens aufgrund der Unfähigkeit der meisten Wähler, die
berufliche Eignung bestimmter Spezialisten angemessen zu beurteilen, die
für die Verwaltung verschiedener Lebensbereiche einer komplexen
Gesellschaft erforderlich sind. Zweitens, da die Verwaltung an sich eine
gewisse innere Hierarchie im Apparat, die Unterordnung der Unteren unter die
Oberen und somit eine gewisse Abhängigkeit der Ersteren von den Letzteren
erfordert, die nur durch Ernennung gesichert werden kann. Wenn die oberen Schichten
der Bürokratie sich jedes Mal an die Massen der Regierten wenden müssten,
um die untauglichen Unteren zu ersetzen (was einen langen und komplizierten
Prozess der Neuwahl einleiten würde), dann würde das alle Verwaltungsaktivitäten
blockieren. Die totale Wählbarkeit ist daher in der Praxis
unzweckmäßig. Um alle gesellschaftlich wichtigen
Ziele zu erreichen (also nicht nur die Unterordnung des Staatsapparats, sondern
auch die Effektivität seiner Arbeit, die Einsparung von Ressourcen usw.), ist
daher ein gewisser Kompromiss von Wählbarkeit und Ernennung nötig. Genauer
gesagt, ist die Wählbarkeit hierbei nur in Bezug auf Schlüsselposten angebracht
(wenn es um die wesentliche Amtsgewalt geht). Idealerweise sollte die Wählbarkeit
in den Grenzen maximal sein, die von den Möglichkeiten der Gesellschaft
und vom Bedarf einer guten Verwaltung festgelegt werden (die natürlich
überall sehr unterschiedlich sind und die vor allem durch das
Entwicklungsniveau einer Gesellschaft bestimmt werden). Ein „Rezept“ kann nur
in allgemeiner Form gegeben werden. DIE VERRINGERUNG
DER ZEIT ZWISCHEN DEN WAHLEN (DIE INTENSIVIERUNG DER WÄHLBARKEIT) Dort, wo
es die Wählbarkeit gibt, ist sie selbstverständlich nur da vorhanden,
wo die gewählten Verwalter ihre Posten für eine klar begrenzte Zeit,
und sei es auch auf Lebenszeit, bekleiden. Hauptsache, dass diese Posten in
keiner Weise vererbt werden, sondern dass es Neuwahlen gibt. Von welcher „Wählbarkeit“
sollte sonst die Rede sein? Sie existiert dann einfach nicht. Je kürzer dabei die genannte Frist
ist, je öfter die Neuwahl der Beamten erfolgt, desto mehr hängen sie
von den Wählern (von der verwalteten Bevölkerung) ab und desto
höher ist folglich ihr Fokus auf den Schutz der Interessen der Letzteren. Je
öfter die Wahlen durchgeführt werden (was in diesem Fall das Gleiche
ist wie von den Verwaltern Rechenschaft zu fordern), desto deutlicher sind die
Verwalter dem Volk untergeordnet (und folglich „treu“), alles andere gleichgesetzt:
Das ist ja nur einer der Faktoren. Demgegenüber ist die Verlängerung
der Amtszeit ein Schritt zur Bürokratisierung der Macht. Die Wahl auf
Lebenszeit ist in diesem Sinne die extreme und schlechteste Variante (von all denen,
bei denen die Wählbarkeit überhaupt noch vorhanden ist; die Vererbung
ist hierbei natürlich überhaupt jenseits des „Normalfalls“). Allerdings
wird manchmal, in Ausnahmefällen, doch die Wahl auf Lebenszeit angewandt,
u.a. in Bezug auf die höchsten Richterämter. Das wird wiederum durch
die Notwendigkeit rechtfertigt, eine Reihe anderer wichtiger Ziele (außer
der Unterordnung der Verwalter unter die Regierten) zu erreichen. Das Vorhandensein dieser anderen Ziele
(die sich letzten Endes zur Deckung des gleichen Bedarfs der konkreten
Verwaltung zusammenfassen lassen) ruft auch in diesem Fall einen weiteren
Kompromiss hervor, diesmal bezüglich der Festlegung der optimalen Frist
für die Erfüllung der entsprechenden Dienstpflichten (ich möchte
daran erinnern, dass es oben um einen Kompromiss zwischen der Wählbarkeit und
der Ernennung ging, also wer gewählt und wer ernannt werden sollte). Diese
optimale Frist sollte einerseits recht kurz sein, um durch eine lange Kontrolllosigkeit
keine übermäßige Entfremdung der Verwalter von den Regierten zu
fördern. Andererseits sollte sie jedoch lang genug sein, um eine effektive
Lösung konkreter Verwaltungsaufgaben nicht zu beeinträchtigen (von
denen jede verständlicherweise bestimmte Bemühungen und einen
bestimmten Zeitaufwand erfordert). REGLEMENTIERUNG
Die zweite Methode, um den Staatsapparat den Regierten unmittelbar
unterzuordnen, ist die detaillierte Reglementierung seiner Aktivitäten und
allgemein des Funktionierens der Gesellschaftsordnung, also eine entwickelte
Gesetzgebung. Wo es keine Gesetze gibt, d.h. keine strengen Vorschriften
darüber, was in verschiedenen Situationen zu tun ist, was verboten und was
erlaubt ist, bleibt natürlich alles den Verwaltern überlassen. Ihr
Wille wird in einer solchen Situation zum einzigen Wegweiser und der alleinigen
Autorität. Die Zwangsjacke der Gesetze jedoch bindet die Apparatschiks an
Händen und Füßen, verengt das Feld ihrer Willkür, schiebt
diese in einen bestimmten Rahmen. (Daraus folgt übrigens, dass die
unterentwickelte bzw. scheinheilige Gesetzgebung in konkreten Gesellschaften
Kennzeichen ihres bürokratischen Wesens sind. Dort, wo Gesetze nicht
erfüllt werden, sind eindeutig Bürokraten an der Macht, und umso deutlicher
dort, wo es gar keine Gesetze gibt). Dabei sollen diese Gesetze im Idealfall selbstverständlich erstens keinen bürokratischen,
sondern einen zivilen Charakter haben, also sie sollen nicht die Interessen der
Verwalter, sondern der Regierten schützen. Allerdings muss man sagen, dass
ein beliebiges Gesetz antibürokratisch ist, weil es zwangsläufig eine
rechtliche Leere ausfüllt und so die absolute Willkür der
Herrschenden begrenzt. Es wird die Grundlage für Demonstrationen von
Bürgern geschaffen mit der Forderung: „Erfüllt die Verfassung!"
Am ungehemmtesten fühlt sich die Bürokratie da, wo es überhaupt
keine Gesetze gibt, wo alles durch bloße Gewalt entschieden wird. In der
Tat ist die einzige rein pro-bürokratische Festlegung: Der Wille der
Bürokraten wird zum Gesetz erklärt (die oberste Instanz ist hierbei verständlicherweise der
Wille ihres obersten Führers, des Zaren-Alleinherrschers). Die detaillierte Reglementierung als eine Maßnahme für die
Kontrolle des Apparats funktioniert zweitens nur bei dessen erfolgreicher
Unterdrückung durch eine ganze Reihe anderer Maßnahmen (begonnen mit
der schon erwähnten Wählbarkeit bis hin zu den Maßnahmen, die
weiter unten behandelt werden). Ohne diese obligatorische Hilfe sind alle Gesetze
eine Fiktion, eine Nebelwand, denn sie werden einfach nicht erfüllt. Sie
sind nur als ein Teil dieses Komplexes wirksam; unter dieser Bedingung
erhöhen sie jedoch die Effektivität des gesamten Systems erheblich.
(Das Gleiche gilt übrigens auch für alle anderen
antibürokratischen Maßnahmen, die hier beschrieben werden: Keine
davon hat für sich allein eine Aussicht auf den Sieg über die
Bürokratie; es muss eine ausreichende Menge von ihnen geben). 3. Die Schwächung der
Verwalter Wenden wir uns nun den Möglichkeiten zu, den Staatsapparat zu
schwächen, und fangen wir an mit seiner absoluten (eigenen)
Schwächung. SAMSONS
KAHLSCHEREN Die erste, einfachste und offensichtlichste Maßnahme hierbei
ist es, den Apparatschiks den Teil von Kraftfaktoren, Befugnissen und
Ressourcen zu entziehen, die sie sich gesetzwidrig angeeignet haben, nicht um
die Gesellschaft effektiv zu verwalten, sondern ausschließlich um ihre
Herrschaft zu etablieren und zu festigen. Zu solchen „Ausschweifungen"
gehören z.B.: a) ein
übermäßiges zahlenmäßiges Wachstum der Verwalter,
d.h. die berüchtigte „Aufblähung der Kader“ (im heutigen Russland
machen die Verwalter, samt ihren Familien, etwa ein Drittel der
Bevölkerung aus); b) eine
Vielzahl von „Tigern“, „Steinadlern“[37] usw.
(wie gerne identifizieren sie sich doch mit Raubtieren bzw. -vögeln!),
kurzum interne Truppenteile und Spezialeinheiten, die dazu da sind, „Unruhen“,
d.h. Auftritte und Proteste der unzufriedenen Bevölkerung, zu
unterdrücken und aufzulösen; c) alle
Arten von Verboten und Beschränkungen der sozialen Tätigkeit, die
Reglementierung von Versammlungen und Demonstrationen, die Zensur und andere
Werkzeuge der Vernichtung von unerwünschten Medien, die obligatorische
Registrierung des Wohnortes, die Ausstellung von Visa für Reisen ins
Ausland usw. usf. Alle diese und viele andere rein „protektive“ Konstrukte und „Stützen“ der
bürokratischen Regime können und müssen beseitigt werden. Sie
müssen den Verwaltern nicht einfach genommen und dem Volk im Rahmen der
Erweiterung seiner Selbstverwaltung
übertragen, sondern sie müssen für immer vernichtet,
liquidiert werden, weil, ich wiederhole, sie für die Verwaltung
überhaupt nicht, sondern lediglich für die Herrschaft der Verwalter
erforderlich sind. DIE
VERWURZELUNG DER VERWALTER Die
zweite Methode der Schwächung des Staatsapparats ist die obligatorische
Rotation seines Personals (zumindest in
Schlüsselpositionen). Die oben erwähnte periodische Neuwahl
von Beamten ist das Wesen der Verlängerung oder Nichtverlängerung des
Vertrauensvotums für sie, abhängig vom
Erfolg ihrer Aktivitäten während der Zeit zwischen den Wahlen (aus
der Perspektive der Wähler). Dies trägt natürlich dazu
bei, sie im richtigen „Tonus“ zu halten, kann
allerdings nicht in angemessener Weise verhindern, dass sich die Apparatschiks
an bestimmten Orten verwurzeln und dass dabei ihr Zusammenhalt bei der Behauptung ihrer
Klasseninteressen wächst. Schließlich bedeutet die reine
Wählbarkeit (bei einer beliebigen Periodizität) nur die
Möglichkeit der Amtsenthebung bestimmter Beamter. Das ist jedoch kein Muss: Sie können mehrere Male (unbegrenzt) wiedergewählt werden. Dies führt jedoch
zur Bildung von bürokratischen Clans. Das Ersetzen der Ernennung durch die
Wählbarkeit (für Schlüsselpositionen)
erschwert natürlich diesen Prozess, hebt ihn (bei der unvermeidlichen teilweisen Erhaltung der
Machthierarchie im Staatsapparat) allerdings
nicht vollständig auf. Je länger jemand einen bestimmten
Führungsposten bekleidet, desto mehr Verbindungen knüpft er an, desto mehr Leute setzt er ein, die von ihm
persönlich abhängig und die ihm persönlich treu sind. Darum
wächst seine sogenannte „administrative Ressource“ (politische Macht). Im Laufe
der Zeit können in einem solchen Fall
auch regelmäßige Wahlen zu einer bloßen Fiktion werden. Man kann dieses Übel dadurch bekämpfen, dass es einer beliebigen
Person verboten wird, einen Posten länger als eine bestimmte Zeit zu
bekleiden, auf diesen Posten mehr als zweimal gewählt zu werden oder
diesen länger als fünf Jahre zu bekleiden (es ist klar, dass alle
Zahlen relativ sind). Ich wiederhole, es geht um die obligatorische
Absetzbarkeit von Apparatschiks in Schlüsselpositionen, nachdem eine
bestimmte Zeit ihres Dienstes abgelaufen ist. Dabei ist klar, dass je
kürzer dieser Zeitraum (bzw. je geringer die erlaubte Anzahl von Wahlen)
ist, desto wirksamer ist dieses Mittel gegen die genannte „Krankheit“. Deswegen
versuchen alle Diktatoren auf eine beliebige Art und Weise, die o.g.
Beschränkung zu umgehen oder diese ganz abzuschaffen (wenn sie in der
Gesetzgebung der von ihnen regierten Gesellschaften vorhanden ist). Übrigens wurde diese Maßnahme noch von bürokratischen
Führern der Antike und des Mittelalters erfunden und in ziemlich
großem Umfang praktiziert. Sie kämpften auf diese Weise gegen den
Separatismus ihrer Statthalter in den Regionen, indem diese alle zwei bis drei
Jahre von ihren Stammplätzen entfernt und an andere Orte versetzt wurden,
um die Verbindungen zur Bevölkerung und dem unteren Verwaltungsapparat,
die sie in der Zwischenzeit hergestellt hatten, zu beenden. Die gleiche Politik
wurde bekanntlich von Stalin betrieben, nur viel härter und blutiger. Er
begnügte sich nicht damit, seine Handlanger immer wieder auf neue Posten
zu versetzen; er vernichtete sie direkt zusammen mit ihren Clans durch
Repressalien. Das sind allerdings Exzesse, die mit den Besonderheiten des
bürokratischen politischen Kampfes zusammenhängen (sowohl im
Allgemeinen, als auch in dieser konkreten Situation und bei diesem konkreten
Führer mit all seinen „Eigentümlichkeiten”). In unserem Fall sind solche
„Exzesse" verständlicherweise unnötig. Wir müssen nur
anmerken, dass eine ständige Rotation die Bildung von Clans sowie die
Herstellung persönlicher Bindungen im Staatsapparat verhindert und dadurch
einen Faktor seiner Stärke wie den inneren Zusammenhalt unterminiert. MAN SOLL NICHT
ALLES IN EINEN TOPF WERFEN Das nächste wichtige Verfahren, das Wasser auf
die gleiche Mühle gießt, das also die Einheitlichkeit des
Staatsapparats zerstört und, mehr noch, einzelne Verwaltergruppen einander
gegenüberstellt, ist die sogenannte Gewaltenteilung. Hierbei wird das
Lieblingsprinzip der Bürokraten „Divide et impera” gegen sie selbst
angewandt. Dies ist sicher nur in gewissen Grenzen möglich, also insoweit es die
Ausführung konkreter Verwaltungsfunktionen nicht beeinträchtigt.
Natürliche Grenzen, die eine solche mehr oder weniger schmerzfreie
Einteilung des Staatsapparats zulassen, liegen hauptsächlich in drei
Bereichen: a) dem beruflichen, b) dem branchenmäßigen und c) dem
regionalen. Im ersten Fall werden die Verwalter nach ihren Funktionen aufgeteilt und
gruppiert. Traditionsgemäß (im Rahmen der klassischen Theorie)
werden so die Gesetzgeber (diejenigen, die Gesetze entwickeln und
verabschieden), die Exekutive (diejenigen, die die praktische Umsetzung dieser
Gesetze sicherstellen sowie die konkrete Politik im Rahmen dieser Gesetze
durchführen) und die Richter gruppiert (diejenigen, die das Handeln von
Menschen, einschließlich der Apparatschiks selbst, bewerten: Inwieweit
werden die Gesetze eingehalten; falls erforderlich, werden entsprechende
Strafen verhängt). Aber das ist keineswegs eine erschöpfende Liste,
sondern nur eine grobe Verallgemeinerung, die (als praktizierte Politik) nur in
den frühen Etappen der Entwicklung der Gesellschaften ausreichte (als die
klassische Theorie geschaffen wurde). Eine weitere Verkomplizierung der
Gesellschaften diversifizierte selbstverständlich auch ihre Verwaltung. So
haben sich heutzutage darüber hinaus die Funktionen der Kontrolle, der
Untersuchung von Verbrechen, der Verteidigung der Rechtsordnung usw. zu einer
gesonderten bedeutenden Position herauskristallisiert. Es haben sich also in
der Tat neue Machtbereiche herausgebildet, die völlig unabhängig sein
können. In diesem Zusammenhang ist eine neue, detailliertere
Gewaltenteilung notwendig. Im zweiten Fall (der jedoch nur als eine besondere Richtung der beruflichen
Differenzierung des Apparates betrachtet werden kann) gibt es eine
sekundäre Aufteilung (Spezialisierung) von Vertretern aller aufgelisteten
funktionalen Einheiten (Gesetzgeber, Exekutive, Richter, Aufsichtsbeamte usw.)
nach Branchen. Mit der Entwicklung der Gesellschaft wächst, wie bereits
erwähnt, die Bandbreite der erforderlichen Verwaltungstätigkeit. Der
Staatsapparat wird immer weiter in die Verwaltung von Wirtschaft, Finanzen,
Bildung, Gesundheitswesen, Kultur und anderen Bereichen involviert, die
Bedeutung der Massenmedien und des Internets im Leben nimmt zu usw. Das alles
bereitet auch den Boden für die weitere Aufspaltung von Verwaltern in
voneinander unabhängige Gruppen von Funktionären (also macht es
möglich und notwendig). Auf diese Weise (um ein aktuelles Beispiel aus dem
heutigen Russland anzuführen) können und sollten das Straf-, das
Zivil- und das Schiedsgericht voneinander getrennt werden. Im dritten Fall (den wir regional genannt haben) ist nicht die Teilung von
„Branchen", sondern von „Stockwerken" der Macht gemeint: Wie viele
von ihnen gibt es überhaupt oder kann man (wenn nötig) mehr davon
kreieren – auf dem lokalen, regionalen, Stadt- und Bundesniveau, in den Ober-
und Unterhäusern des Parlaments usw. Auch hier ist es notwendig, dass alle
von ihnen in substanzieller Weise unabhängig voneinander sind, dass sie
also keine einheitliche Struktur darstellen, als Klasse fragmentiert sind (und
das nicht zu Lasten der Effizienz des gesamten Verwaltungsprozesses). DAS WESEN DER
SACHE Ich gehe noch einmal darauf ein, wozu das alles nötig ist. Die
allgemeine Aufgabe besteht hierbei darin, eine übermäßige
Zentralisierung der Macht, ihre Konzentration in einer Hand und dementsprechend
die gefährliche Stärkung der Machthaber zu verhindern. Man sollte zum
Beispiel eine Situation ausschließen, in der diejenigen, denen die
Ausführung der Gesetze übertragen ist (die Exekutive), diese zugleich
verabschieden und sogar als Richter fungieren (und dabei judizieren, wie sie
wollen, weil bei dem genannten Szenario alles in der Tat diesen „universellen”
Beamten ausgeliefert wird; sie haben die volle Macht). Oder, ein anderes
Beispiel, wenn ein Finanzmanager gleichzeitig die Produktion, die Armee, die
Massenmedien u.a.m. verwaltet. Es ist klar, dass eine solche Konzentration von
Ressourcen und Befugnissen (sprich von Kraftfaktoren und Möglichkeiten,
die Gesellschaft zu beeinflussen) in einer Hand entsprechende Apparatschiks drastisch
stärkt und diese zu den eigentlichen Platzhirschen, den Herren der
Gesellschaft macht. Es ist notwendig, die Elemente der Macht (sowie die
Faktoren, die den Machtbesitz sichern) zwischen verschiedenen (und voneinander
unabhängigen) Verwaltergruppen zu verteilen. Das Gleiche trifft zu auf lokale und zentrale Apparatschiks. Sind die
Ersteren den Letzteren völlig untergeordnet, sind die lokalen Verwalter
lediglich einfache Vollstrecker des Willens ihrer Vorgesetzten, untere Glieder
der hierarchischen Verwaltungspyramide, dann liegt tatsächlich die ganze
Macht in den Händen des Zentrums und letzten Endes des höchsten
Hierarchen, und es handelt sich um eine übliche bürokratische
Struktur. Es ist notwendig, diese irgendwie zu brechen, das Gesamtvolumen der
Macht in Stücke zu teilen, diese zwischen den höheren und niedrigeren
Instanzen zu verteilen, indem die Dominanz und das Diktat durch eine von ihnen
(natürlich hauptsächlich der höchsten) ausgeschlossen wird,
damit der Staatsapparat statt einer einzigen fest geballten Faust eine Hand mit
in verschiedene Richtungen gespreizten Fingern darstellt. Dieses Ziel aber wird
eben durch die Gewaltenteilung erreicht. DAS SYSTEM DER WECHSELSEITIGEN EINSCHRÄNKUNGEN UND
GEGENGEWICHTE Darüber hinaus hat diese Maßnahme einen weiteren
positiven Effekt, sozusagen einen Bonus. Bei der Aufsplittung des
Staatsapparats in getrennte funktionale und sonstige Gruppen wird die einfache
Zersplitterung seiner Kräfte auch durch die Divergenz der Interessen
dieser Gruppen und damit durch ihre Konfrontation, durch den Kampf um einen
„Platz an der Sonne" ergänzt. Darum wird das System der
Gewaltenteilung auch das System der wechselseitigen Einschränkungen und
Gegengewichte genannt. Alle
voneinander abgetrennten Gruppen von Verwaltern (der gleichen Gesellschaft)
sind zur Konfrontation verdammt, weil jede von ihnen wenigstens daran
interessiert ist, ihre Vollmachten zu behalten (um ihren Erhalt zu sichern).
Ihr Maximalinteresse besteht jedoch darin, sich die Vollmachten der anderen
anzueignen (um ihre Macht zu erweitern). Aus diesem Grunde gibt es zwischen
ihnen ein ständiges Gerangel. Dabei hat natürlich die Exekutive die
größten Chancen zu gewinnen: Sie ist die zahlenmäßig
stärkste, homogenste Gruppe, die bewaffnet sowie praktisch an die
Bevölkerung gebunden ist und über die größten materiellen
und sonstigen Ressourcen verfügt. Gesetzgeber und Richter zum Beispiel
sind in jeder Hinsicht schwächer und können bei allem Begehren nicht
mit gleichem Erfolg rechnen. Daher ist es für sie lebenswichtig, den
unteren Apparatschiks nicht zu erlauben, ihre Vorteile zu nutzen, um die totale
Macht zu ergreifen. Ihre dringlichste Aufgabe besteht darin, die
gefährlichen Konkurrenten zumindest innerhalb von gesetzlich festgelegten
Grenzen zu halten. Das veranlasst diese schwachen Glieder des Apparates, die
Aktionen der Starken strikt zu kontrollieren und deren Übergriffe zu
bekämpfen. Dies
bezieht sich auf alle „Branchen"
und „Stockwerke" des Staatsapparats. Der für die Bürokratie
übliche Krieg aller gegen alle um die Vorherrschaft in der Gesellschaft
wird bei der Gewaltenteilung einerseits intensiviert (indem auf diesem Feld
zusätzliche Sonderspieler
erscheinen), andererseits wird der Krieg in für die Regierten günstige,
kontrollierbare Bahnen gelenkt (nämlich dadurch, dass sie Verbündete
oder, wenn Sie so wollen, eine fünfte Kolonne im feindlichen Lager
erlangen). Deshalb
(ich fasse zusammen) ist die Gewaltenteilung recht nützlich. Aber wie kann
sie realisiert werden? DIE SICHERSTELLUNG DER GEWALTENTEILUNG Wie können
die Verwalter überhaupt aufgeteilt werden? Erstens durch eine enge Spezialisierung,
also durch die Gliederung in Gruppen nach den Arten ihrer
Verwaltungstätigkeit (soweit diese einzeln durchgeführt werden kann
und soweit sie aufgrund ihres Spezialisierungsgrades erforderlich ist).
Zweitens durch die Sicherstellung der gegenseitigen Unabhängigkeit dieser
Gruppen voneinander, und zwar nicht nur in Form ihrer Spezialisierung, sondern
auch nach allen anderen wesentlichen Parametern (so dass keine von ihnen auf
irgendeine Weise den anderen untergeordnet ist). Die Gewaltenteilung wird genau
über diese beiden Arten realisiert. Die erste
besteht in der Aufteilung der funktionalen Aufgaben und der damit verbundenen
Befugnisse der „Branchen"
und „Stockwerke" der Macht, natürlich nicht in quantitativer, sondern
in qualitativer Hinsicht. Damit ist nicht die Situation gemeint, dass manche
Menschen einfach mehr Rechte haben als andere und sie somit dominieren, sondern
eine Situation, in der jeder seine eigenen Befugnisse hat. Für
professionelle Abteilungen des Staatsapparats ist dies am einfachsten, weil es
ihrer Natur entspricht. Die Befugnisse der Gesetzgeber bestehen eben darin,
Gesetze zu verabschieden und die der Richter nach ihnen zu richten und die der
Exekutivbehörden sicherzustellen, dass sie erfüllt werden. Es ist
jedoch wichtig, dass keine dieser Einheiten die Grenzen des fremden
Territoriums verletzt, also dass die Verfügungen des Präsidenten (des
Premierministers) nicht identisch mit den Gesetzen sind und diese nicht
ersetzen (geschweige denn sie negieren), sondern dass sich die o.g.
Verfügungen völlig in dem für sie umrissenen Rahmen befinden.
Die Gesetzgeber sollten sich wiederum nicht mit der konkreten Verwaltung beschäftigen
und den Ministern, den „Silowiki“
usw. keine Anweisungen geben. Es ist
schwerer, die Befugnisse verschiedener „Verwaltungsstockwerke" so zu
diversifizieren, dass sie sich nicht kreuzen. Aber auch hier ist es durchaus
möglich, die Befugnisse so zu gestalten, dass das eine zu einem Ressort
gehört, das andere zu einem anderen und das dritte zu einem dritten, wobei
sich diese keineswegs in die Angelegenheiten der jeweils anderen einmischen.
Dabei sollte Priorität den unteren Ebenen des Apparats gehören - in
dem Sinne, dass nur jene Aufgaben (und die damit verbundenen Befugnisse) an die
Spitze übertragen werden sollten, die nicht auf niedrigeren Ebenen
ausgeführt werden können. Alles, womit die unteren Ebenen
zurechtkommen, darf nur deren Angelegenheit sein. Die einzige restriktive
Bedingung besteht darin, dass den allgemeineren Interessen dadurch kein Schaden
zugefügt wird, dass „privatere" Interessen verfolgt werden. Dies ist
jedoch ein Anliegen der einschlägigen Gesetzgebung und der Behörden,
die ihre Umsetzung kontrollieren. So wird,
ich wiederhole, die Aufteilung des Staatsapparats in (funktional) autarke
Verwaltungsgruppen, in kleine „Pyramiden" gesichert, die jeweils für
einen entsprechenden Bereich zuständig sind. Die Unabhängigkeit all
dieser Strukturen (verschiedener „Branchen" und „Stockwerke" der Macht) wird
dagegen hauptsächlich durch die Wählbarkeit jedes Verwaltungsbereichs
erreicht (das zur Absonderung „verurteilt" ist), also dadurch, dass die
entsprechende gegenseitige Ernennung beseitigt wird. Diejenigen, die direkt von
der Bevölkerung gewählt werden, verdanken die Tatsache, dass sie ihre
jeweiligen Posten bekleiden, nur den Wählern und hängen nun in diesem
(entscheidenden!) Sinne von keinem mehr ab, auch nicht voneinander. Wenn jedoch
eine „Branche" eine andere
ernennt, z.B. die Exekutive (Präsident) die Richter, dann wird die zweite „Branche" in der Tat von der
ersten kontrolliert - mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Das
Gleiche geschieht auch in den Fällen, wenn lokale Führer (sei es die
Exekutive, die Legislative, die Justiz oder welche „Branche" auch immer) nicht
von der Bevölkerung gewählt, sondern von oben ernannt werden
(vielleicht sogar von ein und derselben Instanz, die sich alle untertan gemacht
hat). In diesem Fall konzentriert sich die volle Justiz-, Gesetzgebungs- oder
Exekutivgewalt (wenn nicht alle gleichzeitig) de facto auf den oberen Ebenen
dieser „Branchen" (wenn
nicht gar in e i n e m Machtzentrum). Das stärkt sie und den Staatsapparat
als Ganzes in ihrer Konfrontation mit den verwalteten Massen (im
unvermeidlichen Kampf für ihre egoistischen Klasseninteressen). Um die
gegenseitige Unabhängigkeit aller genannten Einheiten sicherzustellen, ist
außerdem ihr autonomer Zugang zu materiellen, finanziellen, informativen
und anderen Ressourcen von Bedeutung, die für die Wahrnehmung ihrer
Aufgaben erforderlich sind. Mit anderen Worten, zusätzlich zu ihrer
direkten „politischen" Unterordnung sollte auch eine
„wirtschaftliche" Abhängigkeit voneinander ausgeschlossen werden.
Diese Aufgabe wird durch die entsprechende (gesetzlich festgelegte) Verteilung
der Steuereinnahmen, den Budgetplan, die Zuteilung von Eigentum und dergleichen
gelöst. DOPPELFUNKTIONEN
Um das Bild zu vervollständigen, gehe ich kurz auf eine clevere Art und
Weise ein, den Apparat (durch seine Teilung) zu schwächen: Die Bildung von
redundanten Strukturen darin. Ich meine die Schaffung von mehreren Apparaten
dort, wo es dem Charakter der Tätigkeit nach möglich ist. Sie sollen
ein und dieselbe Funktion erfüllen und somit einerseits miteinander (in
der Ausführung dieser Funktion) konkurrieren und andererseits einander
kontrollieren bzw. gegeneinander intrigieren. Dies gilt jedoch überwiegend nur
für Institutionen, die den gewaltmäßigen Rechtsschutz und die
Kontrolle bzw. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung
sicherstellen. Für die Judikative, die Legislative und selbst für die
praktische Verwaltung sind solche Doppelfunktionen ausgeschlossen, da dort
Ungereimtheiten eher schädlich sind (es ist zum Beispiel unmöglich, verschiedenartige
Gesetze zum gleichen Thema zu erlassen: Das würde die Ordnung
zerstören). Ein typisches Beispiel für solch
eine o.g. Teilung ist daher die parallele Existenz von Polizei und
Sheriffsystem in den Vereinigten Staaten. DIE STÄRKUNG
DER REGIERTEN Alle genannten Methoden sind, daran möchte ich erinnern,
direkte Maßnahmen, d.h. sie schwächen den Apparat absolut. Nicht
weniger wichtig (in Bezug auf seine relative Schwächung) sind jedoch
Maßnahmen zur unmittelbaren Stärkung der Regierten. Dabei geht es,
ich betone das, eben um „Maßnahmen", also um etwas, was extra zu
diesem Zweck unternommen, in das politische System als eines seiner Elemente
eingebettet wird, und nicht etwas, was die genannte Verstärkung auf
natürliche Art und Weise hervorgerufen hat. Immerhin ist klar, dass die
Stärke der Regierten auch so zunimmt, ohne dass sie durch gewisse
spezielle Vorgehensweisen erhöht wird. So nehmen die Kopfstärke, der
Zusammenhalt, die Selbstorganisierung, das wirtschaftliche Gewicht und die
Kultiviertheit beispielweise der Bourgeoisie zu, ohne dass sie zusätzlich
durch bestimmte politische Maßnahmen unterstützt werden. Wir
interessieren uns hier aber gerade für künstlich herbeigeführte
Institutionen, gesetzgeberische Handlungen und sonstige Aktionen, die all das
befördern. Diese Maßnahmen werden in Genehmigungs-, Anreiz- und in
Methoden unterteilt, die die Kraftfaktoren direkt in die Hände der Massen
geben. Die Genehmigungsmaßnahmen
bedeuten, dass (im Rahmen des oben beschriebenen „Kahlscherens von
Samson") verschiedene bürokratische Hindernisse auf dem Weg zur
Stärkung der Regierten aufgehoben werden. Zu den wichtigsten unter diesen
Maßnahmen gehört wohl die Genehmigung für alle
zurechnungsfähigen und volljährigen Bürger, Waffen frei zu
erwerben, zu tragen und, wenn nötig, zu benutzen (auch zum Schutz vor
Übergriffen des Staates), also die umfassende Bewaffnung des Volkes. Damit
hängt auch die Legalisierung von freiwilligen bewaffneten Gruppierungen
von Bürgern an deren Wohnort zusammen (von der Art „Nationalgarde",
Selbstverteidigungseinheiten usw.), die das staatliche Monopol auf Rechtsschutzeinheiten
brechen und teilweise sogar (vor allem in der frühbürgerlichen Zeit)
als Gegengewicht und Ersatz einer Berufsarmee auftreten. Die zweite Gruppe
(Anreizmaßnahmen) besteht nicht mehr in der Beseitigung von Hindernissen;
es handelt sich hierbei um einen direkten kräftigen Anschub für
entsprechende Prozesse, um diese in die richtige Richtung zu lenken. Dazu
gehören die Einführung verschiedener Präferenzen für die
Selbstorganisierung der Massen (z. B. Begünstigungen für Vertriebs-
und sonstige Genossenschaften), die Förderung des Wachstums von Bildung
und Kultur der Bevölkerung usw. Die dritte Gruppe von Maßnahmen
umfasst die direkte Übertragung verschiedener Ressourcen an die
Bürger, die Entwicklung technischer Mittel zu ihren Gunsten, die die
Vereinfachung und Verbesserung des Wahlprozesses sowie der Technologien seiner
Kontrolle u.a.m. ermöglichen. IDEOLOGIE UND
BILDUNG Schließlich ist es unmöglich, die wichtigen Mittel zu
ignorieren, die gleichzeitig die Regierten stärken und die Verwalter
schwächen, wie die entsprechende (a) ideologische Bearbeitung und (b)
Bildung dieser und jener (also aller Mitglieder der Gesellschaft). Dabei wird
unter der ersteren die Herausbildung der antibürokratischen Weltanschauung
und politischen Kultur und unter der anderen das Anerziehen von Anstand und
allgemeiner Kultiviertheit gefasst. Die gesellschaftliche Atmosphäre und
der Charakter des dominierenden Wertesystems haben ebenfalls eine große
Bedeutung. Wenn den Bürgern von klein auf
Misstrauen gegenüber den Beamten und die Bereitschaft eingehämmert
wird, gegen deren Missbräuche und Machtübergriffe anzukämpfen,
verringern sich die Chancen der Bürokratisierung stark. Wo
Menschenwürde, Ehrlichkeit, echter Patriotismus (wenn der Wohlstand der
einfachen Menschen und nicht des „Staates“ Vorrang hat) und andere sozial
vorteilhafte Eigenschaften weit verbreitet sind (einschließlich der
Beamten als Fleisch vom Fleisch des eigenen Volkes), sind auch die
Anforderungen an den Staatsapparat (und damit die Kontrolle über ihn)
höher, und er selbst ist nicht so deutlich geneigt, ausschließlich
seine eigenen egoistischen Klasseninteressen zu verfechten. 4. Das Problem der Armee Es lohnt sich, das Problem der Isolation
(von anderen „Branchen“ der Macht) und der Unterstellung der Armee dem Volk
separat zu behandeln. ZWECK UND
BEDEUTUNG DER STREITKRÄFTE Zunächst möchte ich klarstellen, dass
die Armee keinesfalls ein Instrument zur Verwaltung der Gesellschaft, sondern
ein Instrument zum Schutz vor äußeren Bedrohungen ist (die
gewaltmäßige Aufrechterhaltung der inneren öffentlichen Ordnung
wird durch die Polizei und ähnliche Strukturen realisiert). Immerhin kann
die Armee mit ihrer Kraft durchaus als ein Instrument eingesetzt werden, um die
Macht zu ergreifen und zu erhalten. Die traditionelle klassische
Bürokratie baute, wie bereits erwähnt, ihre Herrschaft vor allem
genau darauf auf, dass sie sowohl ein Verwalter-, als auch ein
Militärstand war. Die spätere Verkomplizierung des Staatsapparates
(die mit der entsprechenden Verkomplizierung der Gesellschaft einherging)
verursachte jedoch nicht nur dessen Aufspaltung in spezialisierte Schichten von
Gesetzgebern, Richtern, Sachbearbeitern usw., sondern auch die
Professionalisierung des Militärwesens, das Aufkommen der Armee als eines
eigenständigen gewaltmäßigen Apparates. Daher wurde es zu einer zentralen
Frage, wessen Partei dieses „Monster“ ergreift, wer es kontrolliert. Im Grunde
genommen ist ja die Armee der entscheidende Kraftfaktor. Wenn sie dem Staatsapparat
oder einer seiner Abteilungen untergeordnet ist (die damit
selbstverständlich an die erste Stelle rückt und alle anderen zu
einfachen Vollstreckern ihres Willens herabstuft), sind in diesem bedauerlichen
Fall alle in diesem Vortrag beschriebenen antibürokratischen
Maßnahmen einfach nicht realisierbar: Der Bürokratismus ist
unvermeidlich. Wenn aber die Armee irgendwie vom Volk kontrolliert wird oder
sich zumindest zeitweilig auf seine Seite schlägt, erhält das Volk die
wichtigste Trumpfkarte in die Hand und kann den Bürokraten die Bedingungen
vorschreiben. (Vergessen wir jedoch nicht, dass die Kraft alleine nicht
ausreicht, um den Staatsapparat vollständig zu beherrschen:
Gewaltandrohung bzw. -anwendung kann bestenfalls zum Bonapartismus führen;
eine ständige Kontrolle der Verwalter und ihrer Politik wird nur durch die
gleichzeitige Einführung ihrer Wählbarkeit, Rotation und anderer
Elemente der hier behandelten nichtbürokratischen politischen Systeme
erreicht). Doch auch das ist nicht das Wichtigste,
denn die Armee ist nicht nur ein Kraftfaktor, eine teilnahmslose Waffe in der
Hand dieser oder jener Klasse, die sie zur Etablierung ihrer Herrschaft
einsetzt. Sie ist an sich eine Abteilung des Staatsapparates und somit nicht
aus Dummbach. Die Armee ist stark genug, um aus sich selbst heraus in der Lage
zu sein, die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten, wobei sie
absolut jedem Paroli bieten kann. Beispiele dafür gibt es in der
Geschichte wie Sand am Meer, sowohl in der klassischen Epoche des
Bürokratismus, in der nahezu die Mehrheit der Bürokratien aus
militärischen Führern mit ihrem Kriegsgefolge heraus entstanden war
(beginnend mit Sargon dem Großen[38]), als auch in der späteren
(einschließlich der neuesten) Zeit, als sich das Militär bereits vom
reinen Verwaltertum zu einem separaten Berufsstand abgesplittert hatte.
Militärjuntas (und als Junta wird ein Regime bezeichnet, in dem die Macht
in der Hand der Armee liegt) sind ein ziemlich häufiges Phänomen in
den letzten einhundert bis zweihundert Jahren. Erinnern wir uns an
Atatürk, Suharto, Pinochet, die griechischen Obristen, die südkoreanischen Generäle usw. (Und da ist es noch gut,
bemerke ich nebenbei, wenn sich diese Usurpatoren - im modernen und nicht im
primär-bürokratischen Verständnis der Rechtmäßigkeit
der Machtübernahme - als mehr oder weniger kultivierte Menschen und
Patrioten ihrer rückständigen Gesellschaften erweisen, die versuchen,
diese auf den rechten Weg zu leiten, indem sie eine fortschrittliche
probürgerliche Politik betreiben. Die wilde Stammessoldateska Afrikas
(wahre „Affen mit Granaten") macht zumeist nichts anderes, als alle samt und sonders zu berauben und niederzumetzeln und ständig humanitäre
Katastrophen hervorzurufen). Daher stellt das Vorhandensein der Armee
eine ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft dar: Sie ist ein Faktor,
der die Chancen ihrer Bürokratisierung erheblich verstärkt. Wie lässt
sich das bekämpfen? „CHIRURGISCHE"
UND „THERAPEUTISCHE" LÖSUNGEN DES PROBLEMS Die radikalste
Behandlungsmethode ist hier natürlich eine direkte operative Entfernung
des Tumors, sprich der vollständige Verzicht auf die Armee, ihre
Auflösung als Sonderstruktur. Das ist dann eine Lösung nach dem Motto:
„Kein Mensch, kein Problem."[39];
allerdings ist sie ziemlich utopisch, denn es ist bekannt, dass jemand, der
seine eigene Armee nicht ernähren will, eine fremde ernähren muss.
Jedenfalls war es zu allen vergangenen Zeiten so. Heute hat sich die Situation
etwas verbessert. Die vollständige Entmilitarisierung einzelner kleiner
Länder (die sowieso den großen Staaten nicht widerstehen
könnten, selbst wenn sie über Armeen verfügten) ist möglich
- vorausgesetzt, sie werden von den vereinten Kräften der Gemeinschaft
zivilisierter Gesellschaften oder von deren Vertretern verteidigt (ein Beispiel
dafür sind die Beziehungen der USA zu Japan und Südkorea). Aber das
ist eher eine Ausnahme. Im letzten halben Jahrhundert ist wohl
eine andere, therapeutische Methode realistischer geworden. Sie läuft darauf hinaus, dass die
Streitkräfte von defensiv-offensiven zu rein defensiven umorganisiert
werden und nicht mehr dazu geeignet sind, Territorien zu erobern und die Bevölkerungen
(einschließlich der eigenen) zu unterwerfen. Die technische
Fähigkeit dazu entstand mit dem Aufkommen von Massenvernichtungs- („Vergeltungs-"),
insbesondere Atomwaffen. Der Besitz solcher Waffen bietet eine verlässliche
Garantie gegen Angriffe von außen, und die Ausrüstung der Armee nur
mit solcher Art Waffen (zusätzlich zu einer natürlichen kardinalen
Verringerung ihrer Kopfstärke) macht diese Struktur weniger
gefährlich hinsichtlich ihrer Fähigkeit, die Macht in der
Gesellschaft zu ergreifen. Aber auch das liegt leider immer noch eher im
Bereich des Erwünschten als des Tatsächlichen. Die meisten Staaten beeilen
sich heutzutage nicht sonderlich, ihre aggressive Außenpolitik aufzugeben,
und darum bleibt der offensive (eroberungssüchtige) Charakter ihrer Armeen
größtenteils erhalten. Daher sind beide „Heilmethoden“, die
Armee im Zaum halten, auch heute noch kaum realisierbar, und das kann nicht
ignoriert werden, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wir das Thema hier nicht
in Bezug auf besonders günstige (gegenwärtige oder zukünftige)
Bedingungen behandeln, sondern theoretisch, in einem beliebigen Zusammenhang
und eher mit der Neigung dazu, diese Dinge in ihrer „Urzeit“, nämlich der
Zeit der primären Machtergreifung durch die Bourgeoisie zu betrachten. Daher werde ich im Weiteren (nachdem
ich mich vorher schon zu beiden Themen geäußert habe, um historische
Perspektiven vorzugeben) nur von folgendem ausgehen, dass: (a) die Gesellschaft
über eine Armee verfügt und (b) dieser eine besonders
gefährliche Offensivform eigen ist. In diesem Szenario besteht die vordringliche
Aufgabe darin, die Streitkräfte unter die Kontrolle des Volkes zu bringen, damit diese weder zu einem unabhängigen Machtakteur noch zu einem
Instrument eines anderen Teils des Staatsapparats werden (lassen Sie mich daran
erinnern, dass wir vorerst nur über die rein antibürokratische Motivation
des politischen Systems reden: Das Problem der monopolartigen Unterordnung der
Armee einer bestimmten verwaltungsfremden Klasse oder, im Gegensatz dazu, ihrer
vollständigen Klassenneutralisierung ist ein Kapitel für sich). Was lässt
sich hier tun und was nicht (von den uns bereits bekannten allgemeinen
Maßnahmen)? DEPOLITISIERUNG
Ich beginne mit einer einfachen, leicht zugänglichen Sache, - mit der Reglementierung,
also mit der gesetzlichen Beschränkung der Tätigkeit der Armee. Die
naheliegende Aufgabe der Armee besteht darin, die Gesellschaft vor
äußeren Bedrohungen zu schützen, - und sonst nichts. Alles
andere betrifft sie nicht, darf sie nicht betreffen. Diese Regel (Anforderung)
ist normalerweise in konkreten Gesetzen, beginnend mit der Verfassung, in Form
eines kategorischen Verbots für das Militär festgelegt, erstens
Waffen gegen das Volk zu richten und zweitens überhaupt irgendwie in innere
Angelegenheiten der Gesellschaft einzugreifen, einschließlich jeglicher
Beteiligung an der politischen Tätigkeit, - bis hin zum Entzug des Wahlrechts
von Militärangehörigen (und auch Reserveoffizieren – für die
Dauer einer bestimmten Zeit, bis sie sich vollständig in Zivilisten verwandeln).
Dabei geht es sowohl um das aktive Wahlrecht (das Recht zu wählen), als
auch, umso mehr, um das passive Wahlrecht (das Recht, gewählt zu werden). Dabei werden diese Verbote selbstverständlich
nicht nur proklamiert: Verstöße gegen diese Regeln werden (nach
derselben Gesetzgebung) vor allem durch die unverzichtbare und
unverzügliche Entlassung der dagegen Verstoßenden aus der Armee und darüber
hinaus durch ihre strafrechtliche oder administrative Verfolgung (tat- und
schuldangemessen) bestraft. DIE ARMEE IST
KEINE POLIZEI Die Sache mit der Wählbarkeit der Militärangehörigen
selbst ist komplizierter. Einerseits bedeutet die Wählbarkeit, wie gesagt,
eine direkte Kontrolle der Apparatschiks und andererseits die Förderung ihrer
Schwächung, indem die Unabhängigkeit der zu wählenden
Funktionäre voneinander bei der Gewaltenteilung gesichert wird. Bei der
Armee geht das jedoch wegen ihrer Abwehrfunktion nicht. Ich betone, ihrer
Abwehr- und nicht Schutzfunktion, also einer Funktion, die nicht nur das
reibungslose Funktionieren einer bestimmten Gesellschaftsordnung, sondern die
Existenz der Gesellschaft an sich sicherstellt. Die Polizei (und die ihr ähnlichen
„inneren" Gewaltstrukturen) kann man so oder so „drehen“, um ihre
Kontrollierbarkeit durch die Bevölkerung zu sichern, u.a. indem ihre Kommandoträger
fast bis ins siebente Glied hinein gewählt werden. Der dadurch für
die Wirksamkeit der Polizeiarbeit verursachte Schaden (wenn überhaupt) ist
erstens für die Gesellschaft insgesamt nicht tödlich. Zweitens wird
dieser ausgeglichen durch den Vorteil für die Massen, dass diese Strukturen
ihren Interessen untergeordnet werden. Bei der Armee ist das nicht so. Sie
widersetzt sich dem äußeren sozialen Umfeld, dessen Aggression beliebig
hart sein kann und daher eine ständige Bereitschaft zu einer ebenso harten
Reaktion und eine ständige totale Mobilisierung der Kräfte erfordert.
Die Priorität liegt hierbei nicht in der Unterordnung unter die Interessen
des Volkes, sondern in seiner Sicherheit, seiner Rettung überhaupt.
Deswegen müssen die Streitkräfte einer starken, geballten (und dabei sehr
wendigen) Faust ähneln, die kraftvoll und hart auf die Zähne schlagen
kann. Jede Abschwächung ist hierbei unerwünscht; sie ist nicht
grundsätzlich unmöglich, sondern einfach schädlich und gefährlich.
Die Wählbarkeit ist jedoch ein den Apparat „entspannendes" Mittel,
und darum ist dessen Anwendung in diesem Fall mit einem großen Fragezeichen
versehen. Sehen wir uns das genauer an. LIEBER WENIGER, DAFÜR
BESSER Die Wirksamkeit der Wählbarkeit als Mittel, den Apparat dem Volk
unterzuordnen, wird von zwei Hauptpunkten beeinflusst: Wen man wählt und wer
wählt. Im Allgemeinen ist der Erfolg der genannten Unterordnung des
Apparats umso größer, je mehr Posten wählbar sind und je
breiter der Wählerkreis ist (was Letzteres betrifft, ist die Qualität
der Wähler, d.h. ihre politische Kultiviertheit, ebenfalls wichtig). Aber die
Armee „widersetzt sich“ diesen beiden Ansätzen. Um eine geballte und wendige „Faust“ zu
sein, bedarf sie vor allem einer einheitlichen Führung, einer strengen
Disziplin, der strikten Unterordnung der unteren Ränge unter die höheren
usw., also eine Situation, in der man nicht einmal daran denken kann, Befehle
in Frage zu stellen. All das ist mit der massenhaften Wählbarkeit von
Armeekommandeuren unvereinbar (ob vom Volk, ob vom Militär selbst,
beginnend bei den Mannschaften). Hier sind eine klare bürokratische
Hierarchie und dementsprechend maximal die Ernennung als die einzig richtige
Art und Weise erforderlich, um Strukturen aufzubauen, damit nicht die Untergebenen
ihre Vorgesetzten wählen, sondern die Vorgesetzten ihre Untergebenen ernennen.
Die gesamte Macht muss sich dabei letztendlich ganz oben, in den Händen
einer einzigen Kommandozentrale, eines Generalstabs und sogar eines einzigen
Oberbefehlshabers konzentrieren, und es kann nur in Bezug auf diese Spitze von
einer gewissen Wählbarkeit die Rede sein. Das bezieht sich auf die Frage, wen man hinsichtlich der Armee wählen
dürfte. Wie erkennbar, ist das kaum jemand (im Vergleich zu den zivilen Verwaltern).
Und wie steht es damit, wer wählt? In dieser Hinsicht ist es zunächst einmal
wichtig, dass die Wähler
selbst keine Militärangehörigen sind, sondern externe Zivilisten,
damit die Armee von der Gesellschaft kontrolliert werden kann und nicht in sich
geschlossen ist, sich nicht in eine besondere Kaste verwandelt. Ansonsten kann
Cäsarismus nicht vermieden werden. Außerdem ist hier eine drastische
Verengung des Kreises der Wähler
erforderlich, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wiederum wegen
der Kampfbereitschaft. Die Stärke der Armee liegt nicht nur in ihrer Geschlossenheit
und Mobilität, sondern auch in der Professionalität ihrer Soldaten,
Offiziere und insbesondere der höheren Befehlshaber, also eben der Spitze,
die gewählt werden soll. So kann zum einen die Auswahl dieser Spezialisten
nicht den Laien anvertraut werden, und zum anderen gilt: Je breiter der Kreis
der Wähler,
desto niedriger das durchschnittliche Niveau ihrer Kompetenz, also die Fähigkeit,
die Professionalität und die Talente der Stellenbewerber angemessen zu
bewerten (alles andere gleichgesetzt, also wenn die Wähler nicht extra ausgewählt
werden). Daher die Schlussfolgerung: Der genannte Kreis muss eng genug sein
(oder, mit anderen Worten: Die Wahl der militärischen Führer ist
nicht die Sache des ganzen Volkes). Zweitens folgt dies aus der Stärke
der Streitkräfte als einer Tatsache (und nicht als einem Ziel, das
erreicht werden muss). Der Oberbefehlshaber führt eine gewaltige
Streitmacht und kann sie gelegentlich missbrauchen, um selbst an die Macht zu kommen.
Diese Gefahr steigt erheblich, wenn er auf diesen Posten vom Volk gewählt
wird, denn dadurch erweist er sich einerseits als eine ebenso maßgebliche
Figur wie der Präsident, der Parlamentspräsident und andere oberste Wahlbeamte
des Staates. Somit scheidet er de facto aus dem Unterstellungsverhältnis ihnen
gegenüber aus (selbst wenn das de jure in der Gesetzgebung festgelegt ist).
Andererseits ist es dann äußerst schwierig, diesen Oberbefehlshaber,
wenn nötig, abzusetzen, vor allem genau dann, wenn er cäsaristische
Neigungen manifestiert: Die Einführung
seines Kultes in der Armee, die Ernennung von Untergebenen aufgrund ihrer persönlichen
Loyalität (und nicht aufgrund ihrer beruflichen Eignung und ihres
Bestrebens, der Gesellschaft zu dienen) u.a.m. Es ist wichtig, dies alles rechtzeitig
zu bemerken und umgehend zu unterbinden, und zwar unbedingt durch die Amtsenthebung
eines solchen „Führers“. Wenn er jedoch von der Bevölkerung
gewählt wird, erfordert das einen kritischen Zeit- und Arbeitsaufwand, und
darum sind hier die Chancen potenzieller Cäsaren bis um das Zehnfache höher. Es folgt aus diesen Überlegungen,
dass der militärische Oberbefehlshaber nicht von allen, sondern von einem
eher engen Personenkreis gewählt werden sollte. Die Wahlmänner sollten
hier nicht nur in der Lage sein, den richtigen Spezialisten fachkundig
auszuwählen, sondern auch seine Aktivitäten ständig auf ihre
Wirksamkeit und politische Loyalität hin zu überwachen und ihn gegebenenfalls
(d.h. beim Nachweis entweder seiner Inkompetenz oder seiner gefährlichen
politischen Ambitionen) schnell loszuwerden. IN DER NOT FRISST
DER TEUFEL FLIEGEN Die Armee erfordert also eine grundsätzliche
Reduzierung der Anzahl der zu Wählenden und der Wähler, wobei beides
in krassem Widerspruch zur Aufgabe steht, die Streitkräfte dem Volk
unterzuordnen. Die Masse der Militärangehörigen wird hierbei nur von
ihren Kommandeuren und letztendlich vom Oberbefehlshaber kontrolliert, und
dieser hängt wiederum nicht von der Gesamtbevölkerung, sondern von
einem bestimmten engen Kreis privilegierter Wahlmänner ab, - eine unangenehme
Situation, die aber leider nicht zu vermeiden ist (jedenfalls nicht
vollkommen). Das Maximum, das hier erreicht werden kann (außer den o.g.
Bildungs-, Reglementierungs- sowie „chirurgischen" und
„therapeutischen" Maßnahmen), ist zu versuchen, die daraus
resultierenden Bedrohungen irgendwie zu minimieren. Die allgemeinen
Ansätze sind dabei wie folgt: Erstens ist es ratsam, nicht nur einen, sondern mehrere hochrangige
Militärbeamte zu wählen, wobei die Aufgaben und Befugnisse unter
ihnen ordnungsgemäß verteilt werden sollten (es geht also auch hier
um eine machbare Gewaltenteilung): Zum einen die Teilung reiner Kommandeurs-,
Stabs- (eine Art gesetzgebender) und wirtschaftlicher Gewalten u.a.m. und zum
anderen die Gewaltenteilung nach Truppengattungen. Sicherlich könnten und
müssten auch verschiedene Aufklärungs-, Kontroll-, ideologische (?)
und ähnliche Strukturen dazu gehören. Schließlich bietet sich
einfach an, dass sich zum Oberbefehlshaber (womit ich hierbei lediglich den
Feldherrn meine, der unmittelbar die Truppen und die Militäreinsätze
leitet) ein ziviler Verteidigungsminister gesellt, mit einerseits all seiner
unzureichenden Professionalität, mangelnden Beliebtheit bei den Truppen,
Abhängigkeit von den Wahlmännern,
kurzen Zeit zwischen den Wahlen, obligatorischen Absetzbarkeit usw., aber
andererseits mit dem Recht der zweiten (und bedeutungsmäßig sogar
ersten) Unterschrift in den wichtigsten Fällen, die nicht mit der direkten
Truppenführung zusammenhängen, und vor allem bei der Berufung des
Schlüsselpersonals. Zweitens sollte der Wahlmännerkreis
nicht zu eng sein. Vor allem darf er niemals aus einem Kreis zu einem Punkt
werden, indem nur einer Person, zum Beispiel dem Präsidenten, das Recht
der „Wahl“ des Oberbefehlshabers und seinesgleichen übertragen wird. Es
ist klar, dass es dann in der Tat gar keine Wahlen mehr gibt, sondern nur eine
Ernennung, und dass dieser oberste Personalleiter selbst zum Hauptbewerber für
die Rolle des Diktators wird. Aber wenn es auch reale Wahlmänner gibt,
sollten sie, ich wiederhole, nicht zu klein an Zahl sein, um die
Möglichkeit eines Komplotts bzw. einer Gruppenusurpation der Macht auszuschließen.
Dazu ist es erforderlich, den genannten Kreis mindestens bis auf einige hundert
Personen zu erweitern (je mehr Menschen sich an einer Sache beteiligen, desto wahrscheinlicher
ist es, dass sie sich raufen). Dabei bezieht sich das unbedingt auf Menschen,
die: a) sich
unabhängig voneinander oder von einer dritten Kraft (außer dem Volk)
zusammengefunden haben; b) die
Position der Wahlmänner nur
für eine begrenzte Dauer und nicht auf Lebenszeit besetzen (damit sich
für sie auf lange Sicht ein anderes Schicksal und andere Interessen
abzeichnen). Für diese Rolle ist beispielsweise
durchaus ein gewähltes Parlament geeignet, und es ist sinnvoll, diesem die
genannte Funktion anzuvertrauen (um keine überflüssigen hoch
spezialisierten Vertretungsorgane zu schaffen). Schließlich drittens ist es
sinnvoll, die Gewaltenteilung auch in dieser Hinsicht durchzuführen, so
dass einige (fachkundigere) Instanzen für die professionelle Auswahl von Stellenbewerbern
und andere (zahlenmäßig größere) für ihre unmittelbare
Ernennung (also für die Billigung oder Ablehnung der von den ersten
Instanzen vorgeschlagenen Kandidaturen) zuständig sind. Dabei kann zum
einen ein akzeptabler Kompromiss zwischen den einander zuwider laufenden Anforderungen
an die Kompetenz und Kopfstärke der Wahlmänner erreicht werden. Zum anderen ergibt sich
dann, dass die gewählten Beamten nicht von einer, sondern mindestens von zwei
Instanzen abhängig sind, und das verringert natürlich das Risiko, dass
eine von ihnen die Macht usurpiert. (Ich betone jedoch extra, dass hierbei
nicht nur die zweite, sondern auch die erste Aufgabe gelöst wird; diese
Maßnahme wird nämlich oft nur verwendet, um einfach die
Gewaltenteilung zwischen den Abteilungen des Staatsapparates durchzuführen,
ohne Rücksicht auf ihre Kompetenz). Man kann sich zum Beispiel leicht ein
System vorstellen, in dem der Verteidigungsminister Kandidaten für das Amt
des Oberbefehlshabers auswählt und das Parlament diese billigt oder
ablehnt (es versteht sich von selbst, dass der Wille des Parlaments ausreicht,
um diesen abzusetzen), oder wenn der Oberbefehlshaber Kandidaturen für die
Kommandierenden der Truppengattungen vorschlägt und der Verteidigungsminister
diese billigt oder ablehnt usw., quer durch die gesamte Kette von Ernennungen.
(Übrigens ist der gleiche Ansatz auch bei der Ernennung von zivilen
Beamten sinnvoll – dort, wo es möglich ist). 5. Abschließende
Überlegungen DIE DEMOKRATIE
All das Genannte bildet so oder so ein System (a) der Gestaltung, (b) der
Befugnisse und (c) der Arbeitsbedingungen des Verwaltungsapparates, der als
Demokratie bezeichnet wird. Dies ist natürlich kein sehr guter Name, denn
er wird (aus dem Griechischen) wörtlich als die „Macht des Volkes"
übersetzt. Allerdings rechtfertigt kaum eine real existierende Demokratie
diesen Namen (genauso wenig wie den Namen „Macht der Mehrheit“). Das Wesen
dieses Systems definiert sich keineswegs dadurch, wem genau (der Mehrheit oder
der Minderheit, der Bourgeoisie oder dem Proletariat usw.) die Macht
zufällt, sondern wem sie genommen wird, es besteht also im
Antibürokratismus des Systems, - und in nichts anderem . Das Wesen dieses
Systems, ich betone das, besteht genau in den genannten Maßnahmen, und
nicht etwa zum Beispiel in den politischen Freiheiten und in der Gleichheit an
sich. Die Rede-, Religions-, Versammlungsfreiheit usw. sowie das Recht eines
jeden auf Arbeit, Erholung, Bildung und sonstige „Lebensfreuden" sind
keine Elemente des politischen Systems, sondern nur Werte und Ziele, allgemeine
Erklärungen, selbst wenn sie in der Verfassung niedergelegt sind. Sie
müssen aus den Wünschen und Worten in Taten umgesetzt werden, und
dafür muss man an der Macht sein. Und hier kommt es auf die Unterordnung
des Staatsapparates an, also auf die Maßnahmen, die dies sicherstellen,
und eben diese (und nur diese) bilden in ihrer Gesamtheit (und, ich wiederhole,
nur in ihrem allgemeinen antibürokratischen Teil) ein demokratisches
politisches System. Dementsprechend
reduziert sich auch die politische Kultur, auf deren wichtige Rolle im achten
Vortrag so ausführlich eingegangen wurde, entscheidend (auf jeden Fall
wiederum in ihrem allgemeinen, antibürokratischen Wesen) eben auf das
Wissen über diese Wege, den Staatsapparat zu zähmen, auf das
Verständnis von deren Zweckbestimmung und Sinn sowie auf die Bereitschaft
und Fähigkeit, diese in der Praxis anzuwenden. SUCHET, SO WERDET IHR FINDEN
Dabei sollte man allerdings nicht der Illusion verfallen, dass die
beschriebenen Verfahren und Mittel die ganze Palette umfassen. Das stimmt
nicht, auch nicht bezüglich der zurzeit und früher tatsächlich praktizierten
Maßnahmen (ich habe nur die wichtigsten und bekanntesten davon dargestellt),
ganz zu schweigen von den möglichen. Die Demokratie (genauso wenig wie
jedes andere politische System) ist kein Bronzemonument ihrer
Gründerväter, sondern ein lebendiger, sich ständig entwickelnder
Organismus. Dies ist zum einen
auf die anhaltende natürliche Verkomplizierung der Gesellschaft
zurückzuführen, also einerseits auf die Veränderungen in ihrem funktionalen
und sozialen Bereich, auf das Erscheinen grundsätzlich neuer Schichten und
Klassen mit ihren besonderen Interessen, Möglichkeiten und
Herangehensweisen und andererseits auf die stürmische Entwicklung von
Technologien und technischen Mitteln, die die Gesamtsituation, den Charakter
der Verwaltung und das Potenzial der Kontrolle des Staatsapparats usw.
ausschlaggebend verändern. Zum anderen
trägt das ewige politische Wirken der Massen (einschließlich der Gruppierungen,
die sich darauf spezialisieren) dazu bei. Auch wenn sich in der Entwicklung der
Gesellschaft gar nichts tut, ist es, falls gewünscht, niemandem verboten,
neue Methoden zur Zähmung der Apparatschiks zu finden, und hierbei gäbe
es eine Menge zu tun. Man könnte zum
Beispiel auf Anhieb: Ø eine deutlich l erhöhte
strafrechtliche Verantwortlichkeit von Beamten für Straftaten
einführen (dies wird derzeit zum Teil auch getan); Ø eine obligatorische
Amtsenthebung bei Verstößen gegen das Gesetz vorsehen (heute treten
im Westen in solchen Fällen die belasteten Beamten normalerweise selbst
zurück; das ist jedoch eine Frage ihres Gewissens und keine gesetzliche
Anforderung, sollte aber automatisch geschehen); Ø diesen Beamten das aktive
Wahlrecht aberkennen (das Recht zu wählen); Ø die Massenmedien in eine
echte, legitime, von den übrigen „Mächten" getrennte „vierte
Macht" verwandeln - dadurch, dass die wichtigsten Informationsressourcen
direkt budgetiert und ihre Führungskräfte entsprechend gewählt
werden. Und so weiter. Man
könnte auf Wunsch noch viele Dinge ausklügeln, aber in diesen
Vorträgen ist das unnötig, weil... IN DER NOT SCHMECKT JEDES
BROT ...das für Russland (wie übrigens auch für die meisten
anderen Länder der Welt) nicht relevant ist: Wir haben Wichtigeres zu
erledigen als diese Spielereien. Es wäre gut, wenn wir es schaffen
würden, mehr schlecht als recht das Bekannte zu realisieren. In den
russischen (arabischen, chinesischen u.a.m.) unermesslichen Weiten gibt es ja
nichts als Probleme mit der Demokratie. Das Machtsystem ist bei uns leider gar
nicht demokratisch. Es gibt
außerdem praktisch niemanden, der sich dieser entsprechenden politischen
Kultur rühmen könnte, bis hin zu der Tatsache, dass nach Ansicht der
meisten Russen „Demokratie" fast ein Schimpfwort ist. Dieses System wird jetzt
bei uns von jedem Hans und Franz lautschallend verunglimpft. Einige tun das aus
Unwissenheit und andere böswillig, wobei sie ihre persönlichen
egoistischen Ziele verfolgen. DIE SCHULDLOS
SCHULDIGEN Gewöhnlich wird das folgendermaßen begründet: Einige
einfältige Leute (oder diejenigen, die sich als solche ausgeben) reden
sich heraus, indem sie auf die Gegebenheiten der postsowjetischen Epoche
verweisen, als sich die Demokratie in Russland angeblich in all ihrer „lasterhaften
Schönheit" zeigte. Unserem naiven, hinterwäldlerischen Volk wird
erklärt, dass all der Mist der „stürmischen Neunziger" eben „die
Demokratie" heißt. Also assoziiert es die Demokratie eben mit „Dermokratie"[40], obwohl
jedem mehr oder weniger verständigen Menschen klar ist, dass es bei uns in
jenen Jahren überhaupt keine Demokratie gegeben hat (ganz zu schweigen von
den „Nullerjahren"), weder nach dem Charakter des etablierten politischen
Systems und noch (umso weniger) nach der Beschaffenheit der Bevölkerung
selbst mit ihrer pro-bürokratischen (paternalistischen, Führer-)-mentalität
und ihrer politischen Kulturlosigkeit. Solche Beschuldigungen gegen die Demokratie
ist also reine Demagogie. Eine andere Position wirkt
(anscheinend) anständiger, die Position der „theoretisch versierten"
Kameraden, die bolschewistische Mantras gegen den „bürgerlichen"
Parlamentarismus wiederholen (worunter sie aus irgendeinem Grund
hauptsächlich und vor allem die Gewaltenteilung verstehen) und die „Tugenden"
des sowjetischen Systems verherrlichen. Die Kommunisten behaupten bekanntlich
bis heute, dass die parlamentarische „Schwatzbude" eine Machtform der
Bourgeoisie ist (was wiederum nur durch Verweise auf praktische Beispiele
westlicher bürgerlicher Staaten „bewiesen" wird). Die Sowjets dagegen
seien nach dem Wesen ihrer Institutionen eine Form der realen Demokratie. Auch
hier ist alles Lüge und Irrtum, denn das Sowjetsystem ist um das Zehnfache
schlechter als jeder (auch dreimal „bürgerliche") Parlamentarismus,
im Hinblick auf seine Ausrichtung darauf, den Staatsapparat dem Volk
unterzuordnen (mehr dazu weiter unten). Außerdem gibt der
Parlamentarismus als solcher der Bourgeoisie keine Herrschaft. Seine
kommunistischen „Kritiker" unterscheiden einfach nicht zwischen dem
probürgerlichen und dem allgemeinen antibürokratischen Teil des
politischen Systems der westlichen Länder (der Parlamentarismus
gehört ausschließlich zum letzteren Teil). WIEDERHOLUNG IST DIE MUTTER DER QUÄLEREI Ich wiederhole: Dieses oder
jenes parlamentarische und im Allgemeinen demokratische System wird nicht durch
sein eigenes, rein antibürokratisches Wesen, sondern durch
äußere Umstände bürgerlich gemacht (bzw. proletarisch oder
sonst irgendwie seinem Klassencharakter nach). Die Demokratie an sich ist einfach
ein obligates Programm zur Zähmung des Staatsapparats, ein Satz
allgemeiner Methoden zu dessen Eindämmung, die eine beliebige Klasse von
Regierten (und nicht nur die Bourgeoisie) verwenden kann und muss (wenn sie die
Verwalter von Herren zu Dienern machen will). MAN WIRD UNSACHLICH Eine andere Frage für jede dieser Klassen ist: Wie
kann man den genannten Apparat nur sich
selbst unterordnen? Wie kann man die Kontrolle darüber monopolisieren
und allen anderen Klassen die Macht in der Gesellschaft nehmen? Dieses Ergebnis kann
logischerweise auf zweierlei Weise erreicht werden: Entweder in einem ehrlichen
demokratischen Wettbewerb (also unter den für alle gleichen politischen
Bedingungen) aufgrund realer Überlegenheit in Bezug auf Stärke bzw.
Geschicklichkeit (politische Kultur), die von den - dem politischen System
fremden - Umständen gesichert wird; oder indem auf betrügerische
Weise gewisse Präferenzen für jemanden geschaffen werden, indem die
Spielregeln zu seinen Gunsten angepasst werden (nicht zum Nachteil ihres
allgemeinen antibürokratischen Charakters, sondern nur bezüglich der
Auseinandersetzungen zwischen den verwalteten Klassen). Im Weiteren steht uns bevor,
uns damit auseinanderzusetzen, wie die Bourgeoisie diese Aufgabe der
monopolistischen Unterordnung des Staatsapparates bewältigt (unter
Berücksichtigung der beiden o.g. Lösungsmethoden). Vortrag elf. DIE MONOPOLISIERUNG DER MACHT
DURCH DIE BOURGEOISIE DER STICHPUNKT Die Demokratie ist ein System
der Unterordnung von Verwaltern unter die Regierten. Die Regierten selbst sind
jedoch keineswegs homogen; sie bestehen aus einer Reihe sozialer Gruppen mit
unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Interessen. Jede dieser
Gruppen kämpft dafür, dass eine für
sie vorteilhafte Ordnung etabliert und dann eine
entsprechende Politik
betrieben wird. Das erfordert die Monopolisierung der Kontrolle
über den Staatsapparat. In einer Demokratie heißt das, dass nur
Günstlinge dieser Gruppe in ein staatliches Amt gewählt werden
können. Wer die Wahl gewinnt, kommt am Ende an die Macht. Deswegen reduziert sich in diesem politischen System
alles darauf, diesen Sieg zu garantieren, also auf die Maßnahmen und
Faktoren, die den Wahlerfolg dieser oder jener Klasse bestimmen. Wovon
hängt dabei der Erfolg ab? BEDINGUNGEN DES SIEGES Der Erfolg wird durch zwei Hauptumstände bedingt: Zum einen durch die
Spielregeln und zum anderen durch das Potenzial der Spieler, also durch das
Verhältnis ihrer Kräfte in diesem Spiel. Der Sieg wird durch eine
Kombination dieser beiden Faktoren gesichert, die in einem für den Sieg
ausreichenden Verhältnis vorhanden sein müssen. Dabei gilt folgendes: 1)
Je
kleiner die Differenz der Potenziale der „Spielteilnehmer" ist, desto
wichtiger ist die Rolle der Regeln, also dieser oder jener Präferenzen
bestimmter Spieler (bei Kräftegleichheit gewinnt derjenige, in dessen
Sinne der „Schiedsrichter" befangen ist). 2)
Je
geringer das Potenzial eines bestimmten Spielers (A) im Verhältnis zu den
Potenzialen seiner Rivalen (B, C usw.) ist, desto größer ist die
Vorgabe, die er für den Sieg benötigt. 3)
Je
größer, im Gegensatz, das Potenzial von A im Vergleich zu seinen
Konkurrenten ist, desto weniger Privilegien benötigt er. Jede
Klasse kann also in einer Demokratie auf zweierlei Art
die Dominanz in der Gesellschaft erreichen (den Staatsapparat in ihren - und nur in ihren - Dienst stellen): a) durch die
gesetzgeberische Anpassung der Spielregeln an die eigenen Interessen bzw. b) durch ein reales kraftmäßiges
Dominieren auf dem „Spielfeld". Der endgültige Erfolg wird durch die
Kombination der beiden Varianten erzielt (mit oder ohne Verlagerung des
Schwerpunkts in eine beliebige Richtung). Schauen wir uns das genauer an. 1. Die Anpassung der Spielregeln an die eigenen Interessen DIE MONOPOLISIERUNG DES WAHLRECHTES Was sind hierbei die Spielregeln? Sie sind das akzeptierte,
also de jure legalisierte und de facto realisierte Wahlverfahren. Das Ergebnis der
Wahlen hängt vor allem davon ab, wie sie organisiert (durchgeführt)
werden. Die einfachste Siegesgarantie ist demnach die Einstellung des
Wahlsystems auf die Bedürfnisse einer bestimmten Klasse, die ihr
entscheidende Vorteile bringt. Welche sind das? Abhängig von den
Umständen können sie unterschiedlich sein, sowohl nach dem Charakter,
als auch nach der Bedeutung. Das Wichtigste dabei ist jedoch immer und
überall die monopolistische Anmaßung durch die Mitglieder einer
bestimmten Klasse des Rechts, entweder Staatsbeamte zu wählen (das
sogenannte aktive Wahlrecht), oder in die Staatsämter gewählt zu
werden (das passive Wahlrecht), oder beides zusammen. Jeder dieser Ansätze
gewährleistet, dass der Staatsapparat nur von Agenten (Vertretern oder
Günstlingen) des genannten Monopolisten besetzt wird. PRIORITÄT Dabei ist die Monopolisierung des
aktiven Wahlrechts wichtiger als die Monopolisierung des passiven Wahlrechts.
Derjenige, der ernennt, ist immer wichtiger als derjenige, der ernannt wird.
Wenn nur die Mitglieder einer bestimmten Klasse wählen, sind sogar ihre
Günstlinge fremder sozialer Natur zuverlässiger als ihre
unmittelbaren Vertreter, die von einem breiten Wählerkreis gewählt
werden. Im letzteren Fall besteht immer ein hohes Risiko, dass die
Klassenmitglieder, die Staatsbeamte geworden sind, die Interessen ihrer Klasse
verraten. Entweder bevorzugen sie (sehen sie sich gezwungen, bei hoher
politischer Aktivität und Sachkompetenz der Massen), sich auf die
Anforderungen der gesamten Wählerschaft auszurichten. Oder (wenn die
Kultur des Volkes niedrig und dementsprechend der Populismus wirksam ist, was
die Bürokratisierung der Macht ermöglicht) entarten sie einfach zu
Bürokraten aufgrund dessen, dass sie eigentlich ihren sozialen Status
geändert haben. DER WAHLZENSUS UND SEINE GRUNDLAGE Und wodurch wird die Monopolisierung des Wahlrechts sichergestellt? Das geschieht dadurch, dass ein entsprechender Wahlzensus eingeführt wird, also dass bestimmte Personen laut Gesetz zu den
Wahlen zugelassen werden (oder ihnen das Wahlrecht aberkannt wird). Solch
ein Wahlzensus ist an sich ein weit verbreitetes
Phänomen. Ein Beispiel dafür ist der Alterszensus, also das Recht,
erst ab einem bestimmten Alter wählen zu dürfen (manchmal auch nur
bis zu einem bestimmten Alter). Dieser Zensus ist in den Wahlgesetzen vieler
demokratischer Länder vorhanden. Das Gleiche gilt für
Beschränkungen für Handlungsunfähige, Geisteskranke und u.U. Kriminelle.
Mancherorts trifft man auch auf den Zensus aus sexuellen, ethnischen und
religiösen Gründen, früher war er gang und gäbe. All
das ist jedoch neutral im eigentlichen sozialen Sinne. Für Klassen sind
natürlich andere Ansätze relevant. Der Wahlzensus muss sich hierbei auf Merkmale stützen, die klassenspezifisch sind,
also dieser oder jenen Klasse (und nur ihr) innewohnen. MAN SOLLTE KEIN MITTEL UNVERSUCHT LASSEN Dieses
Problem (die Einführung eines beispielsweise probürgerlichen
Wahlzensus) kann man zweierlei lösen, negativ und positiv. Im ersten Fall
wird den Mitgliedern aller anderen Klassen (sozialen Gruppen) das aktive
Wahlrecht entzogen. Die demokratische Ordnung umfasst, wie bereits
erwähnt, eine solche Diskriminierung von Militärangehörigen (zumindest
vom Kaderpersonal), von Beamten usw. Dies ist nichts anderes als ein negativer
(restriktiver) antibürokratischer Wahlzensus. Dadurch werden die Verwalter
von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen. Leider geht das nicht in Bezug
auf alle anderen eventuellen Konkurrenten der Klasse, die Privilegien
beansprucht. Um den Staatsapparat monopolistisch zu beherrschen, ist es bei
einem derartig restriktiven Herangehen an die Wahlen erforderlich, jeden der
Rivalen separat und nach den ihm eigenen Klassenmerkmalen zu beschränken,
und das ist ziemlich mühsam. Die Liste der Personen, denen so das
Wahlrecht entzogen wird, kann recht lang sein (je nach der Anzahl der
gegnerischen Klassen). Der zweite (positive) Ansatz ist allgemeiner und somit
einfacher. In diesem Fall läuft die Sache darauf hinaus, dass es nur den Mitgliedern einer
bestimmten Klasse erlaubt ist zu wählen. Dabei werden nicht diejenigen
bestimmt, die nicht wählen dürfen, sondern ausschließlich
diejenigen, die es dürfen. Hierbei genügt es, sich auf das Merkmal
(die Merkmale) zu beziehen, die dieser und nur dieser Klasse eigen sind. DIE BESONDERHEIT DER BOURGEOISIE Was ist in dieser Hinsicht für die Bourgeoisie charakteristisch? Wodurch unterscheidet sie sich von den anderen Klassen? Und zwar auf eine Art und Weise, dass man diesen Unterschied bei der Einführung des Wahlzensus, der ihre
Dominanz sichert, aufgreifen könnte? Dies ist am ehesten der materielle
Wohlstand der Bourgeois. Sie unterscheiden sich von den meisten anderen Klassen
vor allem durch ihren Reichtum. Allerdings
konkurrieren in dieser Hinsicht die Verwalter erfolgreich mit
ihnen: Sie sind auch keine notleidende soziale Schicht. Rein formell ist also der Reichtum kein ausschließlich bürgerliches Merkmal. Als Basis
für die Zensur des aktiven Wahlrechts arbeitet er jedoch
hauptsächlich für die Bourgeoisie. Erstens angesichts ihrer
erheblichen zahlenmäßigen Überlegenheit über die
Verwalter: Das Bürgertum hat eindeutig mehr Stimmen. Zweitens wegen der
Wählbarkeit der Apparatschiks an sich, die sie offensichtlich
schwächer macht. Ihre Klassenposition als Privatpersonen ist in einer
Demokratie instabil: Heute sind sie Apparatschiks und morgen nicht. Und
drittens (und das ist das Wichtigste) ist die erwähnte „Peinlichkeit"
(die Identität der Bourgeois und der Verwalter als wohlhabende Klassen),
wie wir bereits festgestellt haben, wenn nötig, leicht zu neutralisieren,
indem ein entsprechender restriktiver Zensus (nach der Zugehörigkeit zum
Beamtentum) eingeführt wird. Daher
ist für die Bourgeoisie in einer Demokratie der Vermögenszensus das geeignetste und zuverlässigste Mittel der
Monopolisierung ihrer Kontrolle über den Staatsapparat. Das bedeutet, dass
nur Personen mit einem bestimmten Einkommen oder Wohlstand wahlberechtigt sind
(möglicherweise, aber nicht unbedingt, abzüglich der Verwalter).
Dieser Zensus wurde und wird von der Bourgeoisie praktisch überall als
Hauptinstrument der demokratischen Beherrschung des Staatsapparats (und damit
der Macht in der Gesellschaft) angewandt. Das galt vor allem in der frühen
Epoche ihrer Herrschaft, während sie noch nicht stark genug war (nicht
generell, sondern in einem rein demokratischen Sinne - als „Spieler" bei
den Wahlen), einerseits gegen die Beamten und die hochadlige Aristokratie
(Nachkommen der früheren Bürokratie) und andererseits gegen die
rückständige (nicht marktorientierte) Bauernschaft, gegen die
Stadtarmut und sonstige nichtbürgerliche Bevölkerungsschichten. ZWEI IN EINEM Es ist erwähnenswert, dass die genannte
Einschränkung des aktiven Wahlrechts der armen und einkommensschwachen
Bevölkerungsschichten in den primären Epochen (als sie am meisten
verbreitet war) neben den Präferenzen für die Bourgeoisie auch die
Bürokratisierung des Staatsapparates verhinderte. Sie war also, objektiv
gesehen, nicht nur ein Mittel für die Reichen, den Armen (im Rahmen der
Demokratie) die Macht vorzuenthalten , sondern auch eine antibürokratische
(rein demokratische) Maßnahme, die für diese Umstände relevant
war. Ohne eine solche Ausschaltung der Armen von den Wahlen, sprich der
offensichtlich zurückgebliebenen und politisch unkultivierten
Bevölkerung, würden nach den Wahlen zwangsläufig populistische
Diktatoren an die Macht kommen. Das passiert auch immer und überall (auch
im modernen Russland) bei einem allgemeinen Wahlrecht und einer minderen
Qualität der Wählerschaft. Natürlich ist es unwahrscheinlich,
dass in der frühen bürgerlichen Epoche die Einführung des Vermögenszensus
ausgerechnet antipopulistische (allgemeindemokratische) Ziele verfolgte (die
Hauptsache war wohl, Klassenpräferenzen zu erhalten), aber man erreichte
auch dieses wichtige Ergebnis als einen äußerst nützlichen
Nebeneffekt. Ich
wiederhole und betone: Unter bestimmten Umständen (insbesondere wenn die
Massen der Wählerschaft unkultiviert sind), können die
Zensusbeschränkungen für Wähler (laut denen nur den mehr oder
weniger aufgeklärten Schichten das Wahlrecht erteilt wird) nicht nur als
Präferenzen für eine bestimmte Klasse (oder für mehrere fortgeschrittene
Klassen), sondern als eine allgemeine demokratische Maßnahme erscheinen.
Die Demokratie existiert unter solchen Bedingungen überhaupt nur für
eine Klasse (für das Bürgertum oder für eine sonstige Klasse).
Ihre „Volkstümlichkeit für alle" ist hierbei identisch mit
Bürokratismus, also mit der Herrschaft des Staatsapparates, aber nicht des
„Volkes" (übrigens gibt es gar kein „Volk" als
politisch-wirtschaftliches Phänomen: Das ist höchstens ein Begriff
aus dem Lexikon der Ethnologie und der Kulturwissenschaft und nicht der
Wissenschaft über den Charakter und die treibenden Kräfte von
Gesellschaftsordnungen). SELBST EIN NOCH SO KLEINER HUND IST DURCHAUS KEINE
KATZE Gleichzeitig möchte ich klarstellen, dass jeglicher Zensus (so
drakonisch er auch sei) und überhaupt alle Anpassungen der Wahlgesetzgebung
zum Nutzen einer nichtregierenden Klasse durchaus demokratische Maßnahmen sind, denn er
vergreift sich nicht an der Wählbarkeit des Staatsapparates selbst, die
hierbei nicht hinsichtlich solch (für die Bändigung der
Apparatschiks) wesentlicher Parameter wie die Nomenklatur der Wahlämter,
der Zeitrahmen für die Ämter (Wahlhäufigkeit) usw., sondern nur
hinsichtlich der Zusammensetzung der Wähler beschränkt wird. Die
Wählbarkeit als solche wird dadurch keinesfalls negiert. Die Zensur ist
nur eine klassenmäßige Anpassung der Wahlordnung und nicht deren
Vernichtung; die Zensusdemokratie bleibt eine Demokratie. Eine
andere Sache ist die Fälschung von Wahlergebnissen unter Verwendung der sogenannten
Verwaltungsressource. Das ist schon Machtmissbrauch durch die Apparatschiks mit
dem Ziel, die Macht in deren Händen zu behalten, zu monopolisieren. Es ist
also kein Mittel im Kampf verschiedener Gruppen von Regierten um die Kontrolle
des Staatsapparats (ähnlich dem Zensus), sondern ein Werkzeug der Bürokraten
in ihrem Kampf gegen die Wählbarkeit und Demokratie im Allgemeinen, die
dann im Ergebnis einfach ausgehöhlt und zu einer Fiktion werden. Nun,
noch schlimmer kommt es natürlich bei einer Variante der Wahlgesetzgebung,
bei der die gesamte Kontrolle über den Wahlprozess in die Hände der
Apparatschiks gegeben wird. In diesem Fall ist die demokratisch anmutende
Ordnung in Wirklichkeit nur ein umgehängtes Mäntelchen für den
ganz gewöhnlichen Bürokratismus. ZUSÄTZLICHE BESCHRÄNKUNGEN Der
Vermögenszensus (insbesondere beim gleichzeitigen Verbot für die
Verwalter, sich an den Wahlen zu beteiligen) ist die Hauptpräferenz der
Bourgeois, ein unverhohlenes Ausschalten von den Wahlen praktisch aller,
außer den Vertretern dieser Klasse. Dies ist eine entscheidende
Maßnahme, die den gewählten Staatsapparat ausschließlich der
Bourgeoisie unterordnet. Es gibt aber auch andere Maßnahmen, die das
begünstigen. Im Einzelnen geht es um ähnliche Beschränkungen des
passiven Wahlrechts, sowohl unmittelbare (wenn nur Personen mit einem
bestimmten Einkommen gewählt werden dürfen - direkter
Vermögenszensus der Bewerber), als auch indirekte (wenn ein
größeres Geldpfand von Bewerbern bzw. eine beträchtliche Anzahl
von Wählerunterschriften erforderlich sind, die diese Bewerber
unterstützen). Die Sammlung von Unterschriften ist gewöhnlich ohne
entsprechende Kosten (sprich ohne einen gewissen Wohlstand) nicht möglich.
Dies sind natürlich nur nebensächliche Maßnahmen, die nur die
Kandidatenaufstellung (also das Recht, gewählt zu werden) betreffen. Das
ist, wie gesagt, nicht so wichtig wie das Recht zu wählen, behindert aber
immerhin auch beträchtlich die Teilnahme der Armen an den Wahlen. Somit
handelt es sich hierbei in der Tat ebenso um probürgerliche
Maßnahmen. Dies
sind die Hauptpunkte der Anpassung der „Spielregeln" (also
der Wahlordnung) durch die Bourgeoisie zu deren Gunsten. 2. Von den Privilegien zur
praktischen Vorherrschaft WENN MAN DIE MACHT HAT, BRAUCHT MAN KEINE PRIVILEGIEN[41] Kommen
wir nun darauf zurück, dass die Monopolisierung des aktiven und (in
geringerem Maße) passiven Wahlrechtes für bestimmte Klassen nur dann
dringend erforderlich ist, wenn sie schwächer sind als ihre Wahlgegner
(entweder einer von ihnen, oder alle zusammen) und daher den Sieg im fairen Kampf
nicht erringen können. Wenn jedoch eine Klasse tatsächlich die
mächtigste in der Gesellschaft (oder gar mächtiger als alle anderen
Gruppen zusammen) ist, sind für sie solche gesetzgeberischen Tricks nicht
mehr nötig. In einer solcher Situation kann diese Klasse ein viel allgemeineres (ja, sogar universelles!) Wahlrecht zulassen
und die Mehrheit (ja, sogar alle!) ihrer anderen „legitimen" (also
gesetzlich festgelegten) Präferenzen aufgeben. Ich möchte klarstellen: „Kann zulassen" bedeutet sicher nicht „lässt unweigerlich zu". Es ist klar, dass es
immer besser ist, beides, nämlich reich u n d gesund zu sein, statt nur
reich oder nur gesund. So kann sich auch die Hegemon-Klasse das ihr
Gebührende sowohl gemäß Gesetz (mit Hilfe von Privilegien), als
auch mit Gewalt (aufgrund ihrer objektiven Vorherrschaft) nehmen. Ich mache nur
darauf aufmerksam, was bereits oben erwähnt wurde, und zwar: a) Bei
relativer Schwäche einer Klasse (also ihrer geringen
Konkurrenzfähigkeit bei den Wahlen) kann sie keineswegs ohne
Präferenzen auskommen, und sie ist gezwungen, diese mit allen Mitteln zu
erringen. b) Bei
praktischer Dominanz einer Klasse bei den Wahlen (also großer und umso
mehr bei absoluter Konkurrenzfähigkeit) sind Präferenzen für sie
nicht so wichtig, und sie kann darauf verzichten (obwohl sie danach
natürlich gar nicht strebt; aber in diesem Fall macht es einfach keinen
Sinn, für die genannten Privilegien bis zum letzten Blutstropfen zu
kämpfen). Dies gilt voll und ganz auch für die Bourgeoisie. Wo sie
offensichtlich stärker ist als alle ihre Wahlkonkurrenten, braucht sie
grundsätzlich keine Privilegien. Ich meine, sie sind wünschenswert,
aber nicht obligatorisch. Es ist möglich, darauf zu verzichten, ohne dass
der Bourgeoisie dann ein Machtverlust (die Niederlage bei den Wahlen und der Verlust
der Kontrolle über den Staatsapparat) droht. DIE STÄRKE
BEI DEN WAHLEN Worin drückt sich denn die Stärke in diesem konkreten
Fall aus, wenn es nicht darum geht, der Bürokratie anfänglich Macht
zu entziehen und eine demokratische Ordnung zu etablieren, sondern um den
Wahlsieg, um den Kampf zwischen den nichtregierenden Klassen im Rahmen der
besagten Ordnung selbst? Dies ist immerhin ein Wettstreit besonderer Art, bei
dem besondere Kraftfaktoren erforderlich sind, wenn man einen Erfolg erzielen
will. Genauer gesagt, dieselben, aber nicht in der Konfiguration, wie sie
für den Sieg erforderlich sind im üblichen kraftmäßigen
Klassenkampf, der in der entscheidenden Phase den Charakter eines offenen
militärischen Zusammenstoßes trägt. So sind zum Beispiel hier
(bei den Wahlen) die auf dem Schlachtfeld so bedeutenden Kraftfaktoren wie das
Niveau der Ausrüstung oder der Ausbildung der Kämpfer eindeutig
nutzlos. Der Wahlerfolg wird durch andere Faktoren bestimmt. Welche sind das? 1) Erstens
eine einfache numerische Vorherrschaft der Klasse, d.h. die Anzahl der Stimmen,
die sie hat. Es ist klar, dass es desto leichter ist, seine Handlanger zu
fördern, je größer der Anteil der jeweiligen Klasse an der
allgemeinen Wählerschaft ist. 2) Zweitens
die politische Bildung der Mitglieder dieser Klasse, ihre Kultur, die
Fähigkeit, demokratische Institutionen zu nutzen, das Verständnis der
allgemeinen Klasseninteressen. Wie immer in solchen Spielen, besiegt der
Geschickte hierbei den Ungeschickten. 3) Drittens
der Organisationsgrad, die Disziplin der Klassenmitglieder, ihre Fähigkeit
zum kollektiven Handeln. Die Zerstrittenheit und das
Schwanken schwächen natürlich die Klasse und der Zusammenhalt
stärkt sie. 4) Viertens
der Charakter der Klassenziele, ihre Attraktivität für andere soziale
Schichten. Derjenige, der in der Lage ist, mehr Verbündete zu gewinnen,
hat auch größere Chancen auf den Sieg. 5) Schließlich
fünftens die Größe der materiellen Ressourcen, die die
jeweilige Klasse zur Verfügung hat. Wahlkampagnen sind recht kostspielige
Angelegenheiten (insbesondere, wenn der Sieg und nicht bloß die Teilnahme
das Wichtigste ist). Dabei sind sie umso teurer, je zahlenmäßig
größer die Gesellschaft ist und je höher das Niveau ihrer
kulturellen, technischen (vor allem in Bezug auf die Instrumente der
Einflussnahme auf die Gemüter) und sonstigen Entwicklung ist. Um
Kandidaten zu ernennen und - noch mehr - um ihren Erfolg zu sichern, sind
beträchtliche Mittel erforderlich: Für Werbung, Agitation, Organisierung
von Treffen mit den Wählern, Kontrolle des Wahlprozesses usw.
Dementsprechend ist der Reichere im Vorteil, alles
andere gleichgesetzt. Ich wiederhole und betone, dass all diese Faktoren nur entscheidend werden: 1) im
Rahmen des Wahlkampfs, also nicht bei der anfänglichen Machtübernahme
in der Gesellschaft überhaupt, wo die militärische Gewalt die
Hauptrolle spielt, sondern unter den Bedingungen der Demokratie, die bereits
als Ergebnis einer solchen Zwangsübernahme aufgerichtet worden ist; 2) wenn
der besagte Wahlkampf relativ ehrlich ist, wenn keine der rivalisierenden
Parteien wesentliche „legale“ Vorrechte hat (wenn der Sieg von vornherein der
einen oder anderen Klasse zuteilwird). DAS TRUMPFAS DER
BOURGEOIS Mit welchen der genannten kraftmäßigen Faktoren kann sich
die Bourgeoisie rühmen? Im Prinzip ist sie in jeder Hinsicht stark.
Allerdings sind nicht absolute, sondern relative Merkmale wichtig, also wie die
Bourgeoisie im Vergleich zu anderen Klassen aussieht. In dieser Hinsicht
übertrifft diese Klasse unveränderlich alle früheren und
jetzigen Konkurrenten nur durch ihren Reichtum. Bei den übrigen Parametern
ist ihre Position nicht so stabil, denn sie variiert stark je nach den
Gegebenheiten und ist vergänglich, insbesondere mit der Entwicklung der historischen
Situation, in deren Verlauf zahlreiche neue soziale Gruppen ständig in den
Vordergrund treten, sich die Massenbildung ausbreitet, neue populäre
Ideologien entstehen usw. Deswegen setzt die Bourgeoisie im Allgemeinen vor allem auf die
Eigentumsvorherrschaft in der Gesellschaft, obwohl sie bei den Wahlen in
bestimmten Situationen durchaus aufgrund ihrer anderen Vorteile (von den
genannten) dominieren kann. Genauer gesagt erreichen die Bourgeois immer, wenn
sie bei den Wahlen gewinnen, dieses Ergebnis nach der Summe der
kraftmäßigen Faktoren in der jeweiligen Kombination. Die Rolle der
ersten Geige in diesem Orchester wird allerdings gewöhnlich durch den
Reichtum gespielt und, was das Wesentlichste ist, immer mehr - in Anbetracht
der oben nebenbei angemerkten Verteuerung der Wahlkampagnen im Zusammenhang mit
dem zahlenmäßigen Wachstum sowie der kulturellen und technischen
Entwicklung der Gesellschaften. Ich wiederhole: Diese Entwicklung kann einerseits der Bourgeoisie einige
ihrer rein situativen instabilen Vorteile entziehen (z. B. das
zahlenmäßige Übergewicht, die organisatorische
Überlegenheit, die Attraktivität der Ideologie usw.) Andererseits
steigt im Verlauf dieser Entwicklung der Anteil der Wohlhabenheit als
Erfolgsfaktor bei den Wahlen. Die Ungleichheit in dieser Hinsicht wird mit der
Zeit (und zumindest für eine bestimmte historische Periode) am
wichtigsten. (Wie A. France schrieb: „In jedem zivilisierten Staat ist der
Reichtum heilig; in demokratischen Staaten ist nur dieser heilig.") Die gesellschaftliche Entwicklung
gießt Wasser auf die Mühle der Bourgeois (jedenfalls bis zur
Beendigung des genannten Zeitraums), wobei etwas in den Vordergrund tritt, was
bei ihnen überwiegt. Dies ist der vorherrschende Trend in den letzten
einhundert bis zweihundert Jahren. Das bedeutet, dass je weiter der historische Fortschritt, den wir bisher
kennen, voranschreitet, desto wichtiger wird bei den Wahlkampagnen der Reichtum
und desto leichter fällt es der Bourgeoisie, auf Privilegien zu verzichten
und „faire“ Wahlen zu akzeptieren. Genaugenommen verläuft die Bewegung in
diese Richtung genau parallel zur gesellschaftlichen Entwicklung mit der genannten
Nebenwirkung. Die Privilegien werden hierbei einfach durch eine starke
kraftmäßige Dominanz als Wahlspieler ersetzt. Dabei steigt, je nach
der Entwicklung der Gesellschaft, natürlich immer mehr der Druck durch andere
soziale Schichten. Die wachsende Bedeutung des Reichtums erlaubt es der
Bourgeoisie, ihre Privilegien aufzugeben; darüber hinaus wird das durch
den zunehmenden Druck der Konkurrenten erzwungen. Daher werden diese beiden
Produkte des gesellschaftlichen Fortschritts in den entsprechenden
Veränderungen des demokratischen politischen Systems in Form der
Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts realisiert. „DIE AM VERBRECHEN
BETEILIGTEN" Der Vollständigkeit halber lohnt es sich, einige weitere
Gründe für diese Veränderungen zu benennen (die in vielerlei
Hinsicht ebenfalls aus der gesellschaftlichen Entwicklung abgeleitet werden
können). Der erste Grund ist die Verringerung der Klassenkonfrontation in den
entwickelten (fortgeschrittenen) Gesellschaften aufgrund a) der Steigerung der
Arbeitsproduktivität und b) der Ausplünderung anderer Gesellschaften.
Moderne bürgerliche Demokratien können sich erlauben, sich eben darum
mit den Massen gemein zu machen, weil sie über Ressourcen verfügen,
um innere soziale Widersprüche auszugleichen, also die Situation aufrecht
zu erhalten, in der die Wölfe satt und die Schafe gesund sind. Wie
gesagt, das wird vor allem durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität sichergestellt.
Je mehr die Gesellschaft produziert (alles andere gleichgesetzt), desto reicher
ist sie und desto leichter ist es, ein akzeptables Wohlstandniveau für
alle (oder zumindest für die entscheidende Mehrheit ihrer Mitglieder) zu gewährleisten.
Das verringert die Schärfe der „Leidenschaften“ in der Gesellschaft und
erhöht die Toleranz der Massen gegenüber der existierenden Ordnung. Das
Bessere ist immerhin des Guten Feind. Die entwickelten Gesellschaften können auch allen anderen die
Umverteilung des Weltvermögens zu ihren Gunsten aufzwingen, sowohl direkt
unter Gewaltanwendung, als auch über den Weltmarkt (weil jeder Markt, wie
wir unten sehen werden, einen Mechanismus zum Transferieren des Geldes von den
Armen zu den Reichen, von den Rückständigen zu den Fortgeschrittenen,
von den wirtschaftlich Schwachen zu den wirtschaftlich Mächtigen darstellt).
Dies erhöht auch den Wohlstand und damit den Konformismus der breiten
Schichten ihrer Bürger. Darüber hinaus wird so der grundsätzliche Antagonismus über
die Grenzen einzelner Gesellschaften gedrängt und bekommt einen weniger
sozialen als vielmehr einen zwischenstaatlichen und sogar zivilisatorischen
Charakter. Dies fördert den „Waffenstillstand“ und die Solidarität
der Klassen innerhalb der gegnerischen Seiten auf der Weltbühne. In diesem
Zusammenhang wird die Lockerung der Wahlgesetze fortgeschrittener
bürgerlicher Staaten weiter erleichtert. Der zweite wichtige Grund für diese Lockerung ist das Aufkommen wirksamer
Mittel zur Beeinflussung der Gemüter, also nicht mehr der oben beschriebenen
Bedingungen, die Klassen zum Frieden zu zwingen, u.a. die Aufgeschlossenheit der
Massen gegenüber der „offiziellen" (in unserem Fall der vorherrschenden
bürgerlichen) Propaganda zu erhöhen, sondern deren rein technischer
(hochtechnologischer) Sicherung. Dadurch wird diese Propaganda total und so viel
schlagkräftiger. Erstens steigt ihre Wirksamkeit um ein Vielfaches und
zweitens in jeder Situation, und nicht nur dann, wenn ihre Wahrnehmung begünstigt
ist. Es ist klar, dass es um die Rolle der Massenmedien geht, die sich zu einem
bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung (etwa ab Mitte des letzten Jahrhunderts)
zum stärksten Einflussfaktor entwickelt haben und die sich beim
Vorhandensein von Privateigentum und Meinungsfreiheit hauptsächlich in den
Händen der Reichen befinden. Das Erscheinen dieser Ressource bei den Bourgeois
stärkte sie mehrfach als Wahlspieler und reduzierte gleichzeitig stark (zusammen
mit den anderen oben aufgeführten Umständen) ihren Bedarf an „legitimen"
Privilegien. Warum sollte man dem Gegner zu Leibe rücken, wenn man ihm unter
die Haut gehen kann? Es ist nur wichtig, die Instrumente des Spiels auf den
spirituellen Saiten zu monopolisieren, und die Bourgeoisie schafft das, ich wiederhole,
unter der Herrschaft des Marktes aus sich selbst heraus. 3. Die „übernatürliche"
Gewährleistung der praktischen Dominanz HILF DIR SELBST,
DANN HILFT DIR GOTT Die beschriebene Verschiebung des Schwerpunkts eines
erfolgreichen Wahlkampfes von Privilegien zur einfachen kraftmäßigen
Dominanz und innerhalb dieses Rahmens zum Faktor des Reichtums ist ein
natürlicher Prozess, der ohne jegliche Anstrengung der Bourgeoisie selbst
geschieht (sicher mit Ausnahme der Handlungen, die sie zur Etablierung und zum
Schutz der Marktordnung im Allgemeinen ergreift). Sie hat halt Glück im
Spiel. Allerdings gilt auch hier: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Nur das im Voraus zusammengestellte Impromptu
ist gut. So ist das auch mit der Bourgeoisie: Die Natürlichkeit ihrer
Vorherrschaft bei den Wahlen nimmt ihr keinesfalls die Lust dazu, diese
zusätzlich künstlich abzusichern. Warum sollte man in diesem Spiel
nicht auch Schummeltricks anwenden und den begehrenswerten Sieg durch unfaire
Kampfmethoden sichern? Da es nicht möglich ist, probürgerliche Spielregeln
zu erhalten, und da man sich nur auf reale Klassenvorteile verlassen muss, lohnt
es sich zu versuchen, den Abstand zu den Rivalen gewaltsam zu
vergrößern. Hier geht es um dieselbe (uns aus der Strategie und Taktik der
Bürokratie bekannte) Politik der Umverteilung von Kraftfaktoren durch die
herrschende Klasse zu ihren Gunsten, also um die Einführung und Aufrechterhaltung
einer solchen Gesellschaftsordnung, die zur Schwächung einiger
(unterdrückter) Klassen und zur Stärkung anderer (der Herrscher)
beiträgt. (Der behandelte Fall ist nur insofern spezifisch, als die genannte Schwächung/Stärkung eben
nach den Parametern erfolgt, die für den Wahlkampf wesentlich sind). Die
Bourgeoisie greift natürlich bei jeder Gelegenheit auf diese Methode
zurück, um ihre Dominanz bei den Wahlen zu gewährleisten, umso mehr, wenn
es nötig ist, also wenn die erzwungene Aufhebung von Privilegien nicht
angemessen durch die natürliche kraftmäßige Vorherrschaft kompensiert
wird. Was tut diese Klasse dann? OPTIONEN ZUR AUSWAHL
Was könnte man fürs Erste im Allgemeinen mit den im Wahlkampf
wichtigen kraftmäßigen Faktoren anfangen? Jeder von ihnen ist ja
einzigartig und erfordert eine besondere Herangehensweise. Man könnte beispielsweise mit einer relativ überragenden
Kopfstärke konkurrierender Klassen folgende Methoden der Bekämpfung
anwenden (natürlich zusätzlich zu den o.g. Zensus, die hierbei als
aufgehoben gelten): a) eine
direkte physische Vernichtung von „Überbeständen"; b) die
Einschränkung der Geburten bzw. anderer Methoden der Auffüllung
gefährlicher Gruppen (mit Verboten bzw. Anreizen); c) die
Förderung der eigenen Geburtenrate bzw. anderer Methoden der
Auffüllung der herrschenden Klasse. In Bezug auf die politische und allgemeine Kultur sind folgenden Optionen effektiv: d) die
Reduzierung der Intelligenz (der Fähigkeit, logisch zu denken) und der
Ausbildung fremder Schichten durch entsprechende Verschlechterung (oder durch
die Aufrechterhaltung auf einem niedrigen Niveau) des öffentlichen
Erziehungs- und Bildungssystems der breiten Massen; e) die Verbreitung verschiedener
Aberglauben und religiöser Überzeugungen der Massen und die
Unterstützung einschlägiger Institutionen; f) die
Verbesserung der eigenen Kultur der herrschenden Klasse im Rahmen spezieller
„Elite"-Institutionen. (Für die
Bourgeoisie mit ihren Besonderheiten könnte man noch folgendes nennen: g) die
Einführung einer bezahlten Ausbildung, wobei deren Niveau direkt vom Preis
abhängt). In Bezug auf die Desorganisierung der rivalisierenden Klassen funktioniert
die schon erwähnte Politik "Divide et impera", und zwar: h) die
gegenseitige Aufhetzung fremder sozialer Schichten mit allen verfügbaren
Mitteln (Verleumdung, Provokationen, Intrigen, Schüren von ethnischen,
religiösen, sozialen usw. Zwistigkeiten); i) das
gesetzliche Verbot (oder zumindest verschiedene Beschränkungen) der
Organisationen fremder sozialer Schichten (Parteien, Gewerkschaften etc.) bzw.
der tatsächliche Eingriff in deren Schaffung und Tätigkeit; j) der
Informations- und Propagandakrieg gegen diese in den kontrollierten Medien; k) die
Bestechung, Erpressung, Einschüchterung usw. der Führer dieser
Organisationen und die Bloßstellung der Unbestechlichen (oder sogar ihre
direkte körperliche Beseitigung); l) die
Desorientierung konkurrierender Klassen durch die Schaffung einer Reihe von
Scheinorganisationen, die angeblich ihre Interessen vertreten; m) die
Förderung der Selbstorganisation der herrschenden Klasse (also ihrer
materiellen, finanziellen, organisatorischen, administrativen,
gesetzgeberischen und sonstigen Unterstützung) sowie der ihr freundlich
gesonnenen (meist marginalen) Schichten. In Bezug auf das Aufzwingen der Gesellschaft der dominanten (der einzigen
oder zumindest der populärsten) Ideologie der herrschenden Klasse gibt
folgendes den besten Effekt: n) ihre
massive und qualitativ hochwertige Propaganda; o) die
Einbeziehung dieser Propaganda in die obligatorischen (Hoch-) Schul-Programme
(etwas, was in der Kindheit eingeprägt wird, eignet man sich aufgrund der
unkritischen Wahrnehmung der Kinder leichter und dauerhafter an); p) das
gesetzliche Verbot bzw. die tatsächliche Unterdrückung von Kritik der
aufgezwungenen Ideologeme (Dogmen), z.B. des Grundsatzes der Unverletzlichkeit
von Privateigentum; q) das
gesetzliche Verbot bzw. die tatsächliche Verdrängung feindlicher
Ideologien aus dem Informationsraum; die Behauptung, dass es keine Alternative
zur eigenen Ideologie gibt; r) wenn
das Vorhergesagte (s. Pkt. „q“) unmöglich ist, die Diffamierung (unfaire
Kritik) feindlicher Ideologien, die Darstellung der eigenen Ideologie als der
bestmöglichen (zumindest von den verfügbaren; angeblich gibt es nichts Besseres). Und so weiter, quer durch das ganze Alphabet. Und hinsichtlich der Ansammlung von Ressourcen gilt folgendes: 1) Erstens
gibt es keine für alle Klassen gültigen Rezepte, um dieses Problem zu
lösen (dieses Ziel zu erreichen), da es sich um ein System der Verteilung
des gesellschaftlichen Reichtums handelt, und jede dominierende Klasse baut
dieses auf ihre Art und Weise auf. (So raffen die Bürokraten, wie wir
bereits wissen, den Großteil des Vermögens einfach nach dem Recht
des Stärkeren an sich). In diesem Bereich wird die praktizierte Politik
durch die Besonderheiten (Unterschiede) und nicht durch die Ähnlichkeiten
der Klassen bestimmt. 2) Zweitens
sind zusätzliche Sondermaßnahmen nur dort möglich und
erforderlich, wo es keinen Markt gibt: Unter der Herrschaft des Marktes (der
unter anderem ein besonderes Verteilungssystem ist) erfolgt der Ressourcentransfer
von den Habenichtsen zu den Vermögenden (also hauptsächlich zur
Bourgeoisie) auf eine natürliche Art und Weise gemäß den
Marktgesetzen. Daher ist es unnötig zu klären, wie die Bourgeoisie
sich künstlich stärken könnte. Ihre einzige Aufgabe besteht in
der Festigung der Marktordnung in der Gesellschaft. WAS PASST ZUR
BOURGEOISIE? Die Bourgeoisie nimmt natürlich, aus verschiedenen
Gründen, nicht alle der genannten Sondermaßnahmen in Gebrauch
(genauso wenig wie alle anderen Klassen). Die Kleidung wählt man aus nach
dem Wetter, der Figur, der Mode, der Stoffqualität usw. Auch die
Bourgeoisie gibt sich Mühe, im Wesentlichen die Techniken zu nutzen, die
am besten zu ihr passen. Erstens nach den jeweils aktuellen konkreten Bedingungen, von denen einerseits
die Anwendbarkeit und andererseits die Relevanz bestimmter Maßnahmen
abhängen. Es ist gleichermaßen sinnlos, sowohl das zu tun, was unter
bestimmten Umständen offensichtlich zum Scheitern verurteilt ist, als auch
das, was gar nicht notwendig ist (denn alles ist sowieso gut und schön).
(Es ist jedoch klar, dass dies im Allgemeinen ein zufälliger und
veränderlicher Orientierungspunkt ist). Zweitens je nach dem Charakter der Maßnahmen selbst. Sie
unterscheiden sich ja durch eine Reihe von Parametern, weshalb einige
wünschenswerter sind. Die Hauptbedeutung hat dabei die Wirksamkeit der
Vorgehensweisen. Manchmal lohnt das Lammfell das Gerben nicht[42]. Die Lösung des „demografischen"
Problems (so wollen wir den Umstand einer relativ geringen Anzahl von
„Herrschern“ nennen) mittels der oben beschriebenen Verfahren „b" und
„c" ist beispielsweise viel umständlicher und vor allem von
längerer Dauer als die Verwendung der Methode „a". Noch weniger
Sorgen bereitet die Vorgehensweise, wenn man sich überhaupt nicht darum
kümmert, das ungünstige Verhältnis der eigenen und der
konkurrierenden Klassen zu korrigieren, sondern ihnen einfach durch
vernichtende Propaganda eins überbrät. Drittens haben viele (wenn nicht alle) Handlungen der Menschen nicht nur
direkte, sondern auch indirekte Auswirkungen , die manchmal nützlich,
manchmal neutral, aber nicht selten auch schädlich sind. Dabei
überwiegen die Vorteile nicht immer mit Sicherheit die Nachteile. Zum
Beispiel erhöht die Verminderung der politischen Kultur der
unvermögenden Wählerschaft neben einer relativen Stärkung der
Bourgeoisie auch die Chancen des Populismus (von dem aus es oft nur ein kurzer
Weg ist bis zur Wiederbelebung des Bürokratismus). Darüber hinaus
verschlechtern die geringe Intelligenz und Bildung eines beträchtlichen
Teils von Mitgliedern konkreter Gesellschaften (also die niedrige allgemeine
und politische Kultur der Massen mit entsprechenden innenpolitischen
Bedrohungen) auch die Wettbewerbsfähigkeit dieser Gesellschaften auf der
Weltbühne (und es ist zweifelhaft, dass es in der realen historischen
Perspektive möglich sein wird, diese Kalamität dadurch zu
bewältigen, dass die „Brains“ aus dem Ausland herangezogen werden). Die
herrschenden Klassen, darunter die Bourgeoisie, die solche Methoden anwenden,
können zwar taktisch gewinnen (und ihre Macht vorübergehend
stärken), treiben jedoch ihre Gesellschaften strategisch in die Sackgasse.
Allerdings machen sich die Begünstigten normalerweise keine Sorgen darum;
ihr Kredo lautet: Nach uns die Sintflut. Schließlich ist viertens die Bourgeoisie aufgrund der ihr eigenen
begrenzten Fähigkeiten, einigen Maßnahmen nicht gewachsen (bzw.
diese behagen ihr nicht). Lediglich totalitäre bürokratische Regime
sind imstande, „demografische" Probleme durch das direkte
„Abschießen" ihrer Untertanen zu lösen. Allerdings werden diese
mit solchen Problemen eben gar nicht konfrontiert: Die
„Schießereien" werden aufgrund der mangelnden Wählbarkeit durch
andere Gründe hervorgerufen. Das bezieht sich allerdings nicht auf
demokratische Regime, für die es viel schwieriger ist, sich solche
Maßnahmen zuzutrauen und sie umzusetzen. Obwohl der Radikalismus einer
jeden Klasse, die um die Macht kämpft, vor allem durch den Grad der
Härte dieses Kampfes bestimmt wird, können sich die Bourgeois
„Extravaganzen“, zu denen die Bürokraten immer bereit sind, nur in
Ausnahmefällen leisten: Bei einem offenen militärischen Kampf um die
Macht sowie bei der Etablierung der marktdemokratischen Ordnung, die sie
benötigen. In der Praxis sind also die Hauptmethoden des Kampfes der Bourgeoisie um
ihre relative „übernatürliche" Stärkung als Spieler auf dem
Wahlfeld normalerweise nur die Desorganisation und die ideologische
Unterdrückung der konkurrierenden Klassen. Alle anderen eventuellen
Maßnahmen sind eher nebensächlich, und zum unverhohlenen Terror
kommt es bei der Bourgeoisie überhaupt nur im äußersten Fall,
wenn ihre Macht und die darauf basierende bürgerliche Gesellschaftsordnung
ernsthaft bedroht sind. NICHT VOM BROT
ALLEIN Man tut gut daran folgendes zu bemerken, bevor man das Thema
abschließt. Obwohl die o.g. künstlichen Maßnahmen unter den
Bedingungen einer fertigen Demokratie eine relative Stärkung der
Bourgeoisie als Teilnehmer an Wahlkampagnen zum Hauptziel haben, stärken
sie diese Klasse natürlich nicht nur im engeren Sinne, sondern auch im
Allgemeinen. Die Überlegenheit an Kenntnissen, Ideologie, Zusammenhalt
u.a.m. sind nicht nur für den Wahlsieg, sondern auch bei einem globalen
politischen Duell wichtig, wenn die Wahlordnung selbst festgelegt und
bekräftigt wird. Es ist nur so, dass im letzteren Fall die Hauptgegner der
Bourgeoisie nicht mehr andere nichtregierende Klassen, sondern die Apparatschiks
sind. Darüber hinaus spielen an dieser Front andere kraftmäßige Faktoren keine geringe, sondern sogar eine größere Rolle, vor allem der Rüststand und die Militarisierung. Darum gibt sich die Bourgeoisie natürlich Mühe, die Verteilung dieser Faktoren zu ihren Gunsten zu entscheiden. Dabei gelangen die Waffen, wie im fünften Vortrag erwähnt, auf natürliche Art und Weise in ihre Hände bzw. unter ihre Kontrolle (denn sie fungiert als ihr Hersteller und ursprünglicher Besitzer). In puncto Militarisierung muss diese Klasse allerdings spezielle Maßnahmen ergreifen. Zunächst, solange der Stand der Entwicklung des Militärwesens dies zulässt, übernehmen die Bourgeois selbst unmittelbar die militärische Funktion, indem sie die Nationalgarde, die Volksmiliz und ähnliche selbstwirkende Verbände bilden. Wenn diese einfachste Art, die Streitkräfte zu kontrollieren , aufgrund der erheblichen Professionalisierung der Armee erschöpft ist, wird zuweilen (zum Beispiel im 19. Jahrhundert in England) durch den Staat praktiziert, mittlere militärische Posten gegen Geld zu verkaufen. Dank dieser Vorgehensweise werden im Wesentlichen nur Vertreter der vermögenden Stände Offiziere. Nun, und seitdem der Militärdienst endgültig zu einem hochprofessionellen Beruf geworden ist, bleibt das einzige Mittel, die Armee (sowie die Polizei, das Nachrichtenwesen, den nationalen Sicherheitsdienst usw.) zu kontrollieren, nur die (bis dahin ausreichend erstarkte) Demokratie mit ihrer Unterordnung von allen Machtstrukturen unter den Staatsapparat und des Staatsapparates selbst unter die Massen der Wähler (unter denen die Bourgeoisie dominiert). [1]
Anspielung auf die Zeile „Der Funke lodert zur Flamme auf“ aus dem Gedicht des
Dekabristen Alexandr Odojewski „Leidenschaftliche Klänge
der wahrsagenden Saiten“, 1828, veröffentlicht 1857, die später dank
W. Lenin in ganz Russland bekannt wurde (hier
und im Weiteren: Anmerkungen des Übersetzers) [2] Zitat
aus dem Gedicht „Die Muse“, 1830 des russischen Dichters Jewgeni Baratynski [3]
Anspielung auf die ersten zwei Zeilen des sowjetischen Liedes „Hymne der
demokratischen Weltjugend“, 1947, Musik A. Nowikow, Text L. Oschanin [4]
Abänderung des Sprichworts „das Kind mit dem Bade ausschütten“ [5]
Anspielung auf das Sprichwort „Die Natur schreckt vor der Leere zurück.“ [6] Anspielung auf das russische Sprichwort „Man geht nicht mit seinem Statut in ein fremdes Kloster.“ [7]
Gemeint ist die Aussage des russischen Schriftstellers Maxim Gorki in seinem
Artikel „Über den Kampf mit der Natur“, 1931: „Alles Gute in mir habe ich
den Büchern zu verdanken“. [8] Die
erste Zeile des gleichnamigen sowjetischen Liedes (Musik J. Sarizki, Text L.
Kuklin, 1964) [9] Zitat aus dem Dschungelbuch
von Rudyard Kipling, 1894; im modernen russischen Sprachgebrauch scherzhaft
über gleich gesonnene Gemüter [10] Anspielung auf Hippokrates (* um 460 v. Chr. † um 370 v. Chr.), den griechischen Arzt, der als der berühmteste Arzt des Altertums und
„Vater der Medizin“ gilt [11] Im Russischen wörtlich „Wie der Pope, so die Pfarrei“ [12] Popadja – im
Russischen „Ehefrau des Popen“ [13] Worte des listenreichen
Betrügers Ostap Bender, der Hauptfigur aus dem Roman
„Das goldene Kalb“ (1931) der sowjetischen Schriftsteller I. Ilf und J. Petrow [14]
Anspielung auf den Ausdruck „Vater der Völker", der in der
sowjetischen offiziellen Publizistik und Rhetorik im Hinblick auf J. Stalin,
neben anderen ähnlichen Lobtiteln, fast obligatorisch war, nachdem er die
Machtvollkommenheit erlangt hatte [15] Im postsowjetischen Raum Vertreter der Behörden, die
Gewalt anwenden könnten: Ministerium des Inneren, Sicherheitsdienst u.a.m.
„Sila“ heißt im Russischen so viel wie
„Kraft“, „Stärke“ [16] Die
erste Zeile des Gedichtes von A. Puschkin Sonett
(1830; Übersetzung von E. Boerner, 2011) [17] Zitat aus dem Poem von Wladimir Majakowski Wladimir Iljitsch Lenin, 1925 [18]
Anspielung auf das olympische Credo: „Das Wichtigste an den Olympischen Spielen ist nicht der Sieg, sondern
die Teilnahme“. [19] russisches
Sprichwort [20] (hier und im nächsten Absatz) Anspielung auf den
Spielfilm „Das süße Wort Freiheit“ (UdSSR, 1972, Regisseur Vytautas Žalakevičius), der aufgrund realer Ereignisse in Chile kurz vor
dem Staatsstreich von A. Pinochet gedreht wurde; in einer südamerikanischen Diktatur werden politische Gefangene von
Gesinnungsgenossen mittels eines mühsamen Tunnelbaus aus ihrer
Festungshaft befreit. [21]
Anspielung auf die in der UdSSR üblichen Praktiken der Propaganda, als dem
Volk die lebensfremden Kennzahlen der Produktion von den z.T. unnötigen
Gütern als Beweis der „Errungenschaften“ des Sozialismus präsentiert
wurden [22] russisches Sprichwort [23] „Es gibt so eine
Parte!“ - ein geflügeltes Wort,
das angeblich durch W. Lenin am 4. (17) Juni 1917 auf dem 1. Allrussischen
Kongress der Sowjets als Antwort auf die Frage von I. Zereteli, Minister in der Provisorischen
Regierung und Vorsitzender des Petrograder Sowjets, gesprochen wurde. Die Frage lautete: „Kann jemand von den Abgeordneten eine
Partei nennen, die das Risiko eingehen würde, die Macht an sich zu
reißen und die Verantwortung für die Geschehnisse in Russland zu
übernehmen?“ [24] Anspielung auf die in der sowjetischen
Geschichtsschreibung geprägte Beschreibung der Lage der jungen
Sowjetrepublik während des Bürgerkrieges und der ausländischen Interventionen 1917 –
1922 [25] Der Begriff „souveräne Demokratie“
wurde seit dem 18. Jahrhundert in verschiedenen Bedeutungen verwendet. Dieser
Ausdruck wurde 2005 - 2006 durch den damaligen stellvertretenden Leiter der
Präsidialverwaltung Russlands V. Surkov in den modernen russischen
Sprachgebrauch eingeführt. Laut seinem Konzept braucht der russische Staat
den anderen großen Machtzentren auf der Weltarena nicht zu gehorchen. [26]
Anspielung auf die britischen Angry Young Men der 1950er und 1960er Jahre [27] „Nicht kommerzielle Organisationen“ sind laut dem
Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation juristische Personen, deren
Hauptzweck nicht mit Gewinnerzielung
verbunden ist. [28] Anspielung auf die „Indianer“-Äußerung des US-amerikanischen
Generals Philip Henry Sheridan (*1831; †1888) „Nur ein toter Indianer
ist ein guter Indianer.“
[29] Zitat
aus dem sowjetischen Lied „Die Komsomoltradition“ (Musik O. Felzman, Text I.
Schaferan, 1968) [30] In sozialistischen
Ländern ein Verzeichnis aller
Führungspositionen in Partei und
Gesellschaft sowie die Gesamtheit der Personen, welche diese Positionen
innehatten. Die Nomenklatura existiert in etwas
modifizierter Form auch im heutigen Russland. [31] Zitat
aus dem Gedicht von Michail
Lermontow „Der Tod des Dichters“ (Übersetzung von Kay Borowsky) [32]
Anspielung auf die am 06.08.1990 gesprochenen Worte des damaligen Parlamentspräsidenten
der sowjetischen Teilrepublik Russland Boris Jelzin, die in den
nächsten Monaten eine „Souveränitätsparade“ der autonomen
Republiken im Bestand Russlands auslösten. [33]
russisches Sprichwort [34] Im
postsowjetischen Raum eine Banditenfirma, die eine kommerzielle Gesellschaft
bzw. Bank vor den anderen Banditen, den Steuer- und Zollbehörden u.ä.
schützt. [35] - Die „große Wende“: Der Ausdruck aus dem Artikel von
Josef Stalin „Das Jahr der großen Wende“ in der Zeitung „Prawda“ vom
07.11.1929. Damit war die gegen Ende der 1920er in der Sowjetunion begonnene
Politik der erzwungenen Industrialisierung und Zwangskollektivierung
gemeint, die, einschließlich Holodomor, etwa
fünf bis sieben Millionen Menschenleben forderte. [36] - Worte
des 17jährigen Wladimir Uljanow (Lenin) nach der Hinrichtung seines
älteren Bruders Alexandr, Mitglied der sozialrevolutionären
Geheimgesellschaft Narodnaja Wolja (Volkswille und zugleich Volksfreiheit), für die Vorbereitung des Attentats
auf den Zaren Alexandr III im Jahre 1887 [37] „Tiger“, „Berkut“ (Steinadler) – Sondereinheiten des ukrainischen
Innenministeriums jeweils 2004 – 2014 und 1992 – 2014 [38] Sargon von Akkad:
Herrscher von Mesopotamien von
2356 bis 2300 v. Chr. [39] Das vollständige Zitat lautet: „Ein Mensch ein
Problem, kein Mensch kein Problem“. Die Aussage, die irrtümlich Josef
Stalin zugeschrieben wird, geht auf den sowjetischen Schriftsteller Anatolij
Rybakow zurück und stammt aus seinem Roman "Die Kinder vom
Arbat" (1987). [40]
„Dermo“ im Russischen ist so viel wie „Scheiße“ [41]
Abgeändertes (scherzhaftes) russisches Sprichwort "Wenn man Kraft
hat, braucht man keinen Verstand" [42]
Russisches Sprichwort; bedeutet so viel wie „die Sache ist nicht der Mühe wert“.
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