Ôèëîñîôèÿ       •       Ïîëèòýêîíîìèÿ       •       Îáùåñòâîâåäåíèå
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ýìáëåìà áèáëèîòåêà ìàòåðèàëèñòà
Ñîäåðæàíèå Ïîñëåäíèå ïóáëèêàöèè Ïåðåïèñêà Àðõèâ ïåðåïèñêè

Alexander Hozej

Vorträge über die Gesellschaft

Aus dem Russischen von Sergej Demeniuk

 

Vortrag 1. ZIELE UND AUFGABEN DER VORTRAGSREIHE

1. Wozu braucht man die Wissenschaft?

DIE NÜTZLICHKEIT DER WISSENSCHAFT Diese Vortragsreihe ist für diejenigen bestimmt, die wissen wollen, was „Gesellschaft“ heißt, was sie „atmet“ und wie sie sich entwickelt, was in Russland geschieht und wohin sich die Menschheit als Ganzes bewegt. Ich garantiere keine absoluten Wahrheiten, hoffe aber, Denkanstöße zu geben. Ich werde alle diese Themen populär (so gut es geht) und doch wissenschaftlich behandeln. In diesem Zusammenhang erhebt sich als Erstes die Frage: Wozu braucht man die Wissenschaft?       

         Wenn man echte Wissenschaftler (d.h. diejenigen, die wissenschaftlich tätig sind aus Berufung und nicht aus Erwerbsgründen) fragen würde, warum sie forschen, wäre die ehrliche Antwort: Aus Neugier, wegen des Wunsches, die vielen Rätsel zu lösen, die uns die Umwelt aufgibt. Der Mensch und sogar die höheren Tiere im Allgemeinen haben eine psychische Besonderheit, die wir Wissbegierde oder, mit anderen Worten, das Bedürfnis nach Erkenntnis nennen. Und jeder, der die Welt erkennt, stillt zunächst einmal dieses Bedürfnis. Braucht man also die Wissenschaft, um den „Neugier-Instinkt“ zu stillen?

         Im Grunde genommen natürlich nicht. Um das zu verstehen, ist es ausreichend, die zweite Frage zu stellen: Wozu braucht man eigentlich die Wissbegierde? Sie ist ja nicht zufällig entstanden und wiederholt sich nicht von ungefähr in jeder Generation. Selbstverständlich ist sie, wie alles andere auch, das Ergebnis der natürlichen evolutionären Selektion. Gerade die Zuchtwahl hat bei den Tieren und ihrer besonderen Art, den Menschen, das Verlangen nach Welterkenntnis verankert. Warum ist das so? Vermutlich aus dem gleichen Grund, warum die natürliche Auslese alle Eigenschaften des Lebendigen auswählt und verankert, nämlich, weil die Neugier zur besseren Anpassung an die Umgebung und letztendlich zum Überleben derer beiträgt, die sie besitzen. Mit anderen Worten, dieser „Instinkt“ ist einfach nützlich. Die Erkenntnis im Allgemeinen und die wissenschaftliche Erkenntnis im Besonderen sind notwendig, weil sie uns helfen zu überleben. Genauer gesagt, helfen uns die Kenntnisse, die wir als Folge der kognitiven Handlungen erlangen.

         Worin besteht deren Nützlichkeit? Es gibt nur eine praktische Anwendung: Dank der Kenntnisse kann man voraussehen, was kommt, und dementsprechend rechtzeitig und richtig reagieren, seine Aktivitäten so organisieren, dass das beste Ergebnis (im Sinne der o.g. Anpassung und Überlebensfähigkeit) erzielt wird. Wenn man im Voraus weiß, was passiert, kann man darüber nachdenken, was zu tun ist.

         Es gibt zwei Arten von Wissen darüber, was bevorsteht. Die erste Art ist das Wissen davon, was von selbst geschieht, also das Wissen über die Entwicklung der Ereignisse, die nicht von uns abhängen, z.B. am Horizont ist eine dunkle Wolke erschienen, bald wird es regnen. Die zweite Art ist das Wissen davon, was passiert, wenn man selber etwas tut, z.B. wenn man einen Feuerstein und einen Feuerstahl aufeinander schlägt. Hier handelt es sich darum, was unter bestimmten Umständen zu tun wäre, um das gewünschte Ergebnis zu erhalten, in unserem Beispiel - einen Funken zu schlagen, der natürlich einmal zur Flamme auflodert[1]. Dies ist die Basis für alle Technologien. Gerade diese beiden Arten von Wissen über die Zukunft zusammen sichern unsere gesteigerte Überlebensfähigkeit. Wenn man weiß, wie sich die Ereignisse ohne unser Zutun entwickeln sowie was passieren würde, wenn man so oder anders handelt, dann kann man Handlungen wählen, die zu einem für uns optimalen Ergebnis führen (sicher je nach den gegebenen Umständen).

         Ich stelle also fest, dass die Wissenschaft im Allgemeinen (sowohl der Erkenntnisprozess, als auch das Wissen selbst) benötigt wird, um vorauszusagen, was kommt, sowohl die Zukunft an sich, als auch die Folgen unserer konkreten Handlungen in einer gegebenen Situation. Die Kenntnisse sind unser Leitfaden bei der Wahl der richtigen, der wirksamsten Handlungen, die erforderlich sind, um zu überleben.

UND WAS SAGEN DIE WISSENSCHAFTLER? Wenn man zugleich prüft, was die Wissenschaftler selbst darüber sagen, findet man oft ganz andere Formulierungen. Es wird oft behauptet, dass die Wissenschaft dazu da ist, Erklärungen zu geben. Wieso das? Erklärungen sind eindeutig keine Voraussagen. Vorhersagen beziehen sich darauf, was kommt, und Erklärungen ausschließlich darauf, was war oder ist. Es ist unmöglich, die Zukunft zu erklären: Sie lässt sich nur voraussagen. Neben dieser zeitlichen Einordnung gehen Voraussagen und Erklärungen mit unterschiedlichen Fragestellungen einher. Die ersteren beantworten die Frage „Was wird?“ und die letzteren „Warum war oder ist etwas?“ Also hängen unsere Handlungen, d.h. deren Wahl, nicht von Erklärungen ab.

         Wieso glauben dann die Wissenschaftler, dass ihre Aufgabe darin besteht zu erklären? Das ergibt sich aus der Praxis, aus der persönlichen Erfahrung jedes Wissenschaftlers. Wenn man sieht, womit sich viele Wissenschaftler in erster Linie beschäftigen, merkt man schnell, dass es sich zumeist nicht um Voraussagen, sondern nur um Erklärungen handelt. Mit Vorhersagen befassen sich nicht Wissenschaftler, sondern eher Entwickler von Technologien, Politologen usw., also Praktiker, diejenigen, die die Kenntnisse nutzen. Und die Wissenschaftler selbst, diejenigen, die dieses Wissen gewinnen, erklären mehr als sie vorhersagen. Daher entsteht die Illusion, dass die Wissenschaft benötigt wird, um etwas zu erklären. Hier handelt es sich um die gleiche Fehldeutung wie im Falle des „Neugier-Instinkts“. Im letzteren Fall wurde angenommen, dass der Sinn der Wissenschaft darin besteht, ein besonderes Bedürfnis zu stillen, und nun soll ihre Bestimmung auf den Inhalt der Tätigkeit von Wissenschaftlern hinauslaufen. Ja, dieser Inhalt der Wissenschaft sind weniger Vorhersagen, sondern vielmehr Erklärungen (warum das so ist, wird im Weiteren behandelt). Aber der eigentliche Zweck der Wissenschaft sind Vorhersagen.

         Warum sage ich das? Ich tue es, um den Hauptbezugspunkt für alle weiteren Überlegungen anzugeben. Das Ziel der Vortragsreihe besteht darin, das Grundwissen zu vermitteln, das benötigt wird, um die Situation in Russland, einem beliebigen anderen Land und auf der ganzen Welt einzuschätzen, sowie Vorhersagen über die Zukunft zu machen; ferner natürlich, um zu bewerten, was bezüglich der erwarteten Zukunft Russlands und der ganzen Welt getan werden kann und soll, um einen positiven Effekt zu erzielen. Es wurde bereits angemerkt, dass es zwei Arten von Vorhersagen gibt: Erstens in Bezug auf Situationen, die nicht von uns abhängen, die sich also ohne unser Zutun abspielen, und zweitens Voraussagen in Bezug auf die Ergebnisse unserer eventuellen Handlungen, also in Bezug darauf, was passiert, wenn man in der vorliegenden, sich entwickelnden Situation so oder anders handelt.

WAS IST NÖTIG FÜR EINE VORHERSAGE? Lasst uns nun darüber sprechen, welche konkreten Kenntnisse für Vorhersagen benötigt werden. Es sind zwei Arten von Wissen erforderlich:

Erstens das Wissen über die vorliegenden Gegebenheiten, die Ausgangsbedingungen und die wirkenden Faktoren oder, zusammenfassend gesagt, das Wissen über die gegenwärtige Situation.

Zweitens das Wissen über die Gesetzmäßigkeiten, die in einer bestimmten Situation wirken, d.h. wie wirken die Faktoren, welchen Einfluss haben die gegebenen Bedingungen usw.

Jede Prognose beruht auf a) der Kenntnis der dominierenden wirkenden Faktoren in einer bestimmten Situation, die ihre Änderung oder Erhaltung bestimmen, und b) der Kenntnis von den Gesetzmäßigkeiten des Wirkens dieser Faktoren. In dynamischen Situationen verändern sich die Faktoren ständig (z.B. indem sie sich entwickeln) oder sie werden durch andere Faktoren ersetzt, oder es ändern sich die Bedingungen, unter denen die genannten Faktoren wirken, usw. Außerdem sind (c) noch Kenntnisse über die Art, die Ursachen, die Gesetzmäßigkeiten, die Trends und das Tempo der o.g. Veränderungen erforderlich, d.h. was sich warum, in welcher Richtung und wie schnell es sich verändert sowie inwieweit diese Veränderungen notwendig sind. Allerdings ändert das Letztere nichts an der formalen Struktur der Vorhersage: Auch in diesem Falle beruht sie auf der Kenntnis der Situation und ihrer Gesetzmäßigkeiten; dabei sollte man eine komplexe Zusammensetzung der ersten und eine größere Anzahl der zweiten berücksichtigen.

DAS IGNORIEREN DES ZUFALLS Ausgehend von der Tatsache, dass die Vorhersagen auf der Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten basieren, sind sie von vornherein mangelhaft in dem Sinne, dass das Ungesetzmäßige, d.h. alle Arten von zufälligen Ereignissen, nicht erfasst wird. Im realen Leben eines jeden Objekts fehlt es daran jedoch nicht. Es ist aber im Grunde unmöglich, diese in der Prognose zu berücksichtigen: Sie sind eben zufällig, haben nichts damit zu tun, was die Situation charakterisiert, ergeben sich nicht aus ihrer Natur. Vor der Unmöglichkeit weicht jedoch bekanntlich die Schuldigkeit. Die Vorhersage kann nur vom Gesetzmäßigen in Bezug auf das zu untersuchende Objekt ausgehen.

DAS AUSWAHLPRINZIP DER WIRKENDEN GRUNDFAKTOREN UND DER WESENTLICHEN HANDLUNGEN Allerdings wird auch im Rahmen dieses Gesetzmäßigen nicht unbedingt alles genutzt. Ich betone, dass es notwendig ist, in erster Linie dominierend wirkende Faktoren zu berücksichtigen, d.h. solche Faktoren, die die Grundlage von Metamorphosen oder der Stabilität des zu untersuchenden Objekts (des Systems, der Situation u.a.m.) bestimmen. Das Wissen über die Natur, die gesetzmäßige „Zusammensetzung“ und das „Verhalten“ dieser wirkenden Faktoren bildet die Grundlage der Prognose, also das, was ihr Gesamtbild, ihre Kontur, ihre grobe Skizze definiert, die später (falls es erforderlich wird, die Vorhersage zu verfeinern) durch eine feinere „Stickerei“ ergänzt werden kann (indem zusätzlich die Auswirkung von sekundären, tertiären und weiteren Faktoren berücksichtigt wird). Daher besteht die erste Aufgabe jeder konkreten Prognostizierung in der Ermittlung der im vorliegenden Fall dominierenden wirkenden Faktoren.

         Das Gleiche gilt auch für die Wirkung dieser Faktoren. Jedes materielle Objekt (und nur solche können wirkende Faktoren sein) hat viele Erscheinungsformen und eine Vielzahl von Eigenschaften und Handlungsarten. Derjenige, der Prognosen erstellt, sollte von dieser Vielfalt genau das - und nur das - auswählen, was in seinem speziellen Fall relevant, also wichtig für die Veränderung des zu untersuchenden Objekts (z.B. der politischen Situation in Russland) ist.

DIE VORHERSAGE ALS SCHLUSSFOLGERUNG Die Kenntnis der Situation und der ihren wirkenden Faktoren und Bedingungen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten ist nichts anderes als ein Denkansatz für die Schlussfolgerung, die jede Vorhersage ja darstellt. Umgekehrt basiert jede Schlussfolgerung auf der Formel „Gesetz - Fakt – Rückschluss“, d.h. sie beinhaltet unbedingt als Prämissen Hinweise auf (1) eine bestimmte Gesetzmäßigkeit und (2) vorliegende Umstände, unter denen sie hier und jetzt funktioniert. Wenn man voraussagt (schlussfolgert), sagt man: Es gibt ein gewisses Gesetz und gewisse Umstände; daher soll (wird) folgendes geschehen. Die Kenntnis der Situation und der Gesetzmäßigkeiten ist der notwendige Denkansatz, der für die Schlussfolgerung benötigt wird. (Ich werde hier nicht die Rolle und das Wesen der Gesetze der Logik behandeln.)

DIE ROLLE DER ERKLÄRUNG Somit erfordert jede Vorhersage die Kenntnis der Umstände und Gesetzmäßigkeiten. Aber woher nimmt man dieses Wissen? Wie kann man insbesondere die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten gewinnen? Es ist immerhin einfacher, sich in konkreten Umständen zurechtzufinden, zu verstehen, welche materiellen Objekte es dabei gibt oder welche Prozesse im Gang sind. Oft ist alles direkt gegeben - man muss sich nur umsehen und „schnuppern“. Natürlich gibt es auch hierbei bestimmte Schwierigkeiten. Die erste davon ist die Notwendigkeit, wichtige Bedingungen und wirkende Faktoren von den unwichtigen zu unterscheiden. Aber unterscheiden heißt nicht erkennen; das ist ein anderes Problem, es gibt keine besonderen Schwierigkeiten mit dem Wissenserwerb selbst.

         Aber woher nimmt man die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten? Also das Wissen darüber, wie sich diese oder jene Objekte verhalten, immer und überall? Das Wissen über die dauerhaften Verbindungen und die Wechselwirkungen der Bedingungen mit den Prozessen u.a.m.? In der Physik oder Chemie wird dieses Problem teilweise mit Hilfe von Experimenten gelöst, indem künstliche Bedingungen, reine Laborbedingungen, geschaffen werden. Das Verhalten des zu untersuchenden Objekts wird unter diesen Bedingungen oder bei gewissen vorgeplanten Änderungen studiert. Hier stellt man der Natur direkte Fragen und erhält Antworten darauf. Jedoch in unserem Fall, wo die Gesellschaft das Objekt darstellt, ist das Experimentieren fast unmöglich. Hier lässt sich die Sache nicht auf die Spitze treiben, jedenfalls nicht, wenn man es ernst meint und einen angemessenen Maßstab setzt. (Ich ignoriere all die Aussagen, dass die Bolschewiki in Russland ein gescheitertes Experiment durchgeführt haben, weil es sich bei solchen Ansichten um puren Idealismus und Naivität handelt.)

         Eine weitere Option wäre, nicht vom Experiment auszugehen, sondern zu versuchen, einige Gesetze logisch, deduktiv abzuleiten, indem man sich auf die Kenntnis bestimmter grundlegender Fakten stützt. Im sozialen Bereich sind das die Gesetze der Philosophie und Biologie (weil Menschen im Grunde genommen Tiere sind). Allerdings lässt sich mit Hilfe dieser Methode nur ein sehr kleiner Teil der gesellschaftlichen Gesetze erkennen; darüber hinaus handelt es sich nur um die grundlegendsten. Eine Vielzahl von speziellen Gesetzen, die sich auf Kleinigkeiten beziehen und gerade für Vorhersagen am wichtigsten sind, kann man auf solche Weise nicht festlegen.

Im Endeffekt bleibt nur der dritte, der letzte Weg – die Analyse der konkreten Daten, d.h. die Ermittlung von Gesetzmäßigkeiten durch die Erklärung des verfügbaren historischen Materials. Wie ist das möglich? Warum führen Erklärungen zu Gesetzmäßigkeiten? Weil ihr Algorithmus genau das Gegenteil von Vorhersagen ist. Während man bei einer Vorhersage, die auf der Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten und Situationen aufbaut, über die antizipierte Tatsache eine Schlussfolgerung zieht, hat man bei einer Erklärung im Gegensatz dazu ursprünglich diese Tatsache vor sich und sucht nach ihrer Ursache, d.h. eben nach den Umständen und Gesetzmäßigkeiten, die zu ihrer Entstehung bzw. ihrem Sein geführt haben. Das ist dann keine Bewegung vom Denkansatz hin zum Rückschluss, sondern die vom Rückschluss hin zum Denkansatz. Die Gesetzmäßigkeit ist hier nicht die Grundlage für den Rückschluss, sondern das Gesuchte selbst. Etwas zu erklären heißt, für sich selbst zu entdecken oder einem anderen zu zeigen, auf welcher Grundlage und dank welcher Gesetzmäßigkeiten es entstanden ist. Eine Erklärung ist die Ermittlung des notwendigen (nicht zufälligen) Zusammenhangs zwischen dem zu Erklärenden und dem, woraus es entstanden ist. Dieser Zusammenhang aber ist die Gesetzmäßigkeit selbst.

 Es ist daher verständlich, warum Wissenschaftler, vor allem diejenigen, die Objekte nicht im Labor studieren, sich zumeist mit Erklärungen beschäftigen. Sie tun eigentlich auf diese Weise nichts anderes, als die diesen Objekten inhärenten Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln. Es ist die wichtigste und nahezu einzige echte Methode diese zu erkennen. Dabei ist die Ermittlung von Gesetzmäßigkeiten die wichtigste Aufgabe der Wissenschaft, denn ohne ihre Erkenntnis sind Vorhersagen nicht möglich.

2. Die Vielzahl und Wertigkeit von Einflüssen

KONKRETE BEISPIELE Nun führe ich, der Übersichtlichkeit halber und zum besseren Verständnis des Wesens der Sache, einige Beispiele an und analysiere sie. Nehmen wir für den Anfang den einfachsten Fall, d.h. eine Vorhersage mit einer minimalen Anzahl von Prämissen. „Minimal“ heißt zwei, das Gesetz und die Situation. Hier ist der einfachste Syllogismus: „Alle lebenden Organismen bestehen aus Zellen. Der Hund ist ein lebendiger Organismus. Der Hund besteht aus Zellen". Diese Schlussfolgerung ähnelt natürlich kaum einer Vorhersage. Aber niemand hat oben behauptet, dass alle Schlussfolgerungen unbedingt Vorhersagen sind. Ich behaupte nur das Gegenteil: Alle Vorhersagen sind Schlussfolgerungen. Im Übrigen lässt sich wohl jeder Rückschluss recht leicht in eine Vorhersage umändern. Im obigen Beispiel, sagen wir, ist der Rückschluss ohne weiteres wie folgt zu ändern: „Wenn man einen Hund in Stücke schneidet und durch ein Mikroskop schaut, so sieht man, dass er aus Zellen bestand". Doch sollten wir das lieber den Koreanern überlassen und uns mit geeigneteren Fällen befassen.

         Nehmen wir die Wechselwirkung zwischen zwei Massen. Die erste Prämisse lautet: „Alle Körper ziehen einander proportional zu ihren Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres Abstandes an". Es ist das wohlbekannte Gesetz der Schwerkraft. Die zweite Prämisse lautet: „Hier und jetzt gibt es zwei Körper mit den Massen m und n, die sich auf dem Abstand k voneinander befinden". Das ist die Beschreibung einer bestimmten Situation, aller Punkte, die im Sinne des o.g. Gesetzes wichtig sind. Ist es möglich, daraus einen bestimmten Rückschluss zu ziehen? Ja, und zwar, dass jeder dieser beiden Körper den anderen Körper jeweils mit den Kräften r und w anzieht; diese Kräfte können mit den entsprechenden Vektoren dargestellt werden. Ist das eine Vorhersage? Ich bin nicht sicher. Es scheint, dass der Rückschluss wieder geändert werden sollte. Eine absolute Vorhersage wäre jedoch die Aussage darüber, wo sich die beiden Körper nach der Zeit t befinden würden. Aber noch ist das unmöglich, denn die beiden o.g. Prämissen sind dafür nicht ausreichend. Man braucht zumindest noch eine dritte: „Die beiden Körper werden durch nichts weiter beeinflusst". Dann ließe sich schon folgender Rückschluss (Vorhersage) ziehen: „Diese beiden Körper werden sich geradeaus aufeinander zu bewegen und stoßen im Punkt s der Geraden aufeinander."

Das ist auch ein ganz einfaches Beispiel. Aber man könnte es auf verschiedene Weise komplizierter gestalten. So kann man statt der o.g. dritten Prämisse einige andere eingeben. Nehmen wir an, dass sich eine der sich anziehenden Massen bezogen auf die andere bewegt (wegen der Relativität jeder Bewegung ist es unwichtig, welche von ihnen), d.h. sie verfügt über einen gewissen Impuls v. Das soll die dritte Prämisse sein. Dann braucht man auch die vierte Prämisse, die die Gesetzmäßigkeiten jeder geradlinigen Bewegung beschreibt, also das Trägheitsgesetz: „Jede geradlinige Bewegung dauert eine unbestimmte Zeit lang an, sofern auf den sich bewegenden Körper keine Kraft ausgeübt wird, die seinen Impuls ändert." Dann wird auch die fünfte Prämisse erforderlich, nämlich dass es außerdem nichts mehr gibt. Und dann erhält man - je nach den konkreten Verhältnissen von Größe und Richtung der Schwerkraft und des Impulses - einen Rückschluss (eine Vorhersage) bezüglich entweder einer kreisförmigen (Option - elliptischen) Drehung eines Körpers um den anderen oder über die Annäherung der Körper auf einer Spiralbahn (und im Endeffekt ihre Kollision) oder über ihre Streuung im Raum in unterschiedlichen Richtungen auf der gleichen Spiralbahn, die sich allmählich in eine Gerade verwandelt.

         Aber auch das ist ein ziemlich einfaches Beispiel. Die Realität ist manchmal viel komplizierter. Es ist z.B. nicht schwer, sich eine wesentlich größere (und sogar eine unendliche) Anzahl von grundsätzlich verschiedenen Umständen vorzustellen, die auf die o.g. Flugbahnen einwirken, und sich daraus ergebend die entsprechende Anzahl von damit verbundenen Sondergesetzmäßigkeiten. Beispielsweise könnten diese Körper elektromagnetisch geladen sein, was auf kurzen Abständen ihre aufeinander bezogenen Bewegungen beeinflussen würde: Sie werden dann entweder stark voneinander angezogen (bei entgegengesetzten Ladungen) und fallen beschleunigt oder, umgekehrt, sie stoßen einander ab und bremsen einander im Fallen ab.

Oder stellen wir uns vor, dass sich diese Bewegungen nicht im Vakuum, sondern in einem bestimmten Medium (z.B. Luft oder Wasser) abspielen. Dann erlangen einerseits die Besonderheiten und Gesetzmäßigkeiten der Bewegung von Massen dieses Mediums, d.h. des Gases oder der Flüssigkeit, und andererseits die aerodynamischen Eigenschaften der Körper selbst, ihre Massenschwerpunkte, ihre Dichte und Oberflächenformen, ihre Eigenschaften, die kinetische Energie des Luftstroms abzufangen, eine zusätzliche, wenn nicht sogar die Hauptbedeutung – und so weiter und so fort.

DIE VIELFALT VON PRÄMISSEN Diese Beispiele zeigen, dass zu Vorhersagen nicht nur drei bis fünf, sondern ein Dutzend oder mehr Prämissen gehören können. Die Liste von Sonderfaktoren, die eine konkrete Situation beschreiben, und von besonderen Gesetzmäßigkeiten, die für sie charakteristisch sind, kann recht lang sein. Und gerade das Letztere ist für die überwiegende Mehrheit von realen Prozessen typisch, das meint solche Prozesse, die nicht unter sterilen Laborbedingungen, sondern in einer „kontaminierten" Umgebung auftreten. Hierbei gibt es fast immer eine Menge von verschiedenen Einflüssen, die bei der Prognostizierung berücksichtigt werden müssen. So sind alle historischen Prozesse, sowohl die in einer bestimmten Gesellschaft, als auch die für die Menschheit als Ganzes zutreffenden, real. Bei Vorhersagen in diesem Bereich handelt es sich nicht um primitive Berechnungen der Bewegung von zwei einander anziehenden Körpern, wobei jede andere Einwirkung fehlt. Nein, hier muss eine Vielzahl von ganz verschiedenen wesentlichen Faktoren und Gesetzmäßigkeiten berücksichtigt werden und die Schlussfolgerungen müssen aufgrund einer Vielzahl von Prämissen gezogen werden.

Lassen Sie mich das im Detail erklären. Zunächst einmal Einiges über die Anzahl der Einflussfaktoren. Hier kann es nur um die reine Zahl gehen. Zum Beispiel, wenn nicht zwei, sondern Hunderte Körper einander anziehen. Solch eine Verkomplizierung der Situation erschwert natürlich die Berechnungen stark, aber das war es dann auch schon. Die Anzahl von Prämissen für eine entsprechende Schlussfolgerung ändert sich in Wirklichkeit nicht: Es handelt sich um das gleiche Gesetz der Schwerkraft plus eine erweiterte Beschreibung der Situation (wegen der Auflistung der Parameter all dieser Hunderte von Körpern und ihrer Standorte) und natürlich die Anmerkung, dass es sonst keine Faktoren mehr gibt.

Die Erhöhung der Anzahl von Prämissen wird durch eine qualitative Komplexität der Situation hervorgerufen, d.h. durch die Präsenz grundsätzlich verschiedener wirkender Faktoren und Bedingungen, die mit besonderen Gesetzmäßigkeiten verbunden sind. Dabei kann es sich sogar um dieselben Körper handeln, die jedoch nicht nur über Massen, sondern auch über Impulse, Ladungen oder - in einem widerstandsfähigen Medium - auch über eine besondere aerodynamische Struktur verfügen usw. Alle diese spezifischen Wechselwirkungen (untereinander und mit dem Medium) erfordern separate Beschreibungen, sowohl bezüglich der hier wirkenden Gesetzmäßigkeiten, als auch bezüglich der entsprechenden Parameter (Größe, Form, Struktur u.a.m.) Hier erfordert die Vorhersage genauso viele Prämissen wie besondere Gesetzmäßigkeiten sowie die gleiche Anzahl von Beschreibungen der die Situation charakterisierenden Faktoren, und zwar für jedes Gesetz einzeln.

Das gleiche trifft natürlich auch dann zu, wenn es nicht um eine Reihe von qualitätsmäßig verschiedenen Wechselwirkungen derselben Körper geht, sondern unmittelbar um eine Anzahl qualitativ verschiedener Objekte in ihren vielfältigen Kontakten. Beispielsweise sind die o.g. Strömungsverhältnisse in den Medien, die die Flugbahn der sich darin bewegenden Körper beeinflussen, nur fremde Dritt- oder Viertfaktoren für diese Körper mit all ihren „persönlichen" Besonderheiten, inklusive der aerodynamischen Struktur. Die Gesetzmäßigkeiten der Bildung und des Einflusses von Dichte, Viskosität, Geschwindigkeit, Richtung und Konfiguration dieser Ströme sind mit den o.g. Körpern gar nicht verbunden. Daher dringen in die Vorhersagen über deren Flugbahn ebenso Faktoren ein, die auch die Umweltbedingungen ihrer Bewegung beschreiben, d.h. entsprechende Parameter und Gesetzmäßigkeiten.

DIE VIELFALT DER EINZUBEZIEHENDEN THEORIEN Im Großen und Ganzen ist in den beiden dargestellten Fällen wichtig, dass man grundsätzlich verschiedene Gesetzmäßigkeiten mit unterschiedlicher theoretischer Grundlage heranziehen muss, um Prognosen zu erstellen. Die Massen und das Gesetz der Schwerkraft sind eins, der Impuls und die Gesetze der Bewegung etwas anderes, die Ladungen und die Gesetze des Elektromagnetismus  ein Drittes, die Aerodynamik von Körpern und ihre Gesetze ein Viertes und die Gas- oder Hydrodynamik und ihre Gesetze ein Fünftes. Sie alle sind Objekte und Gesetze spezieller Art, einzelner Theorien. Und all diese Theorien müssen für die Vorhersage der endgültigen Flugbahnen verwendet werden. Es reicht nicht aus, nur allein die Gravitationstheorie zu kennen und anzuwenden.

         Und so ist es in fast allen realen Situationen, in denen normalerweise sehr viele qualitativ verschiedene Prozesse auftreten und aufeinanderprallen, von denen jedem wieder qualitativ besondere Gesetzmäßigkeiten eigen sind. Die Vorhersage kann sich hier nicht nur auf eine bestimmte Theorie stützen; es muss eine ganze Reihe verschiedener Theorien herangezogen werden, verschieden nicht in dem Sinne, dass sie miteinander wie Theorien eines einzelnen Phänomens konkurrieren, sondern in dem Sinne, dass sie einander ergänzen, indem sie verschiedene Facetten des Verhaltens eines Objektes oder das unterschiedliche Verhalten von verschiedenen Objekten beschreiben. Die Gravitationstheorien von Newton und Einstein konkurrieren miteinander und schließen einander in gewissem Sinne aus, aber die Theorien der Schwerkraft und des Elektromagnetismus ergänzen einander bei der Beschreibung der Flugbahn des Körpers in entsprechenden Feldern. So ist es auch mit der realen historischen Entwicklung der Menschheit oder einer einzelnen Gesellschaft. Man benötigt ebenso eine ganze Reihe verschiedener Theorien, um diese zu erkennen und zu erklären.

DIE BERÜCKSICHTIGUNG DES WESENTLICHEN Gleichzeitig kann man leicht feststellen, dass die Komplexität, die ihrem Wesen nach unendlich ist, dennoch in der Praxis nicht total ist. Bei einer relativ zuverlässigen Vorhersage kann man Vieles unberücksichtigt lassen, da sich der Einfluss der verschiedenen Umstände mitsamt ihren Gesetze in der Größe unterscheidet (wir erinnern uns hier an das Prinzip der Auswahl von wichtigen wirkenden Faktoren und wesentlichen Maßnahmen).

         Zum Beispiel wird die Flugbahn einer Flocke in der Erdatmosphäre vor allem durch Luftströme sowie durch aerodynamische Eigenschaften der Flocke bestimmt. Die Auswirkung ihrer Masse, d.h. der Erdgravitation, und umso mehr ihrer Ladung, wenn es diese gibt, und somit die Auswirkung des elektromagnetischen Feldes der Erde auf sie, können ruhig ignoriert werden. Sie sind hier praktisch bedeutungslos, obwohl sicher auch vorhanden. Aber wenn man statt der Flocke eine gusseiserne Hantel nimmt, dann können im Gegenteil ihre aerodynamischen Eigenschaften und die Luftströme ignoriert werden, denn hier treten die Masse und das Gesetz der Schwerkraft in den Vordergrund.

         So ist es überall, auch im sozialen Bereich. Obwohl entsprechende reale Prozesse komplex sind und dabei viele Faktoren und Theorien berücksichtigt werden müssen, reicht es auch hier, nur das bedeutendste im Auge zu behalten, um mehr oder weniger verlässliche Vorhersagen zu machen. Ansonsten ertrinkt man einfach im Material, und es wird nichts Rechtes daraus. Allerdings ist es auch nicht einfach, das Signifikante vom Unbedeutenden zu unterscheiden, denn was heute als unwichtig empfunden wird, könnte morgen wichtig sein, und unsere ganze Prognose für übermorgen wäre falsch, wenn wir das nicht berücksichtigen würden. Dennoch ist es möglich und notwendig, das Wichtige sachkundig auszuwählen und das Unwichtige zu verwerfen.

ZWISCHENFAZIT Ich fasse also zusammen: Unser Ziel und unsere Hauptaufgabe bestehen darin, die Vergangenheit Russlands zu erklären und die Zukunft dieses Landes oder, genauer gesagt, der russischen Gesellschaft vorherzusagen. Erstens ist dies kein „Laborprojekt“, sondern es ist ein reales, „lebendes" Objekt. Seine Evolution wird von vielen verschiedenen Faktoren bestimmt, und deswegen ist es nötig, viele Umstände zu berücksichtigen und sich auf eine ganze Reihe von verschiedenen Gesetzmäßigkeiten zu stützen, also verschiedene Theorien zu verwenden, um dieses Objekt zu erklären und entsprechende Vorhersagen zu formulieren.

Zweitens handelt es sich um ganz konkrete Erklärungen und Vorhersagen, die kein totales Wissen erfordern, um zuverlässig zu sein, sondern nur eine bestimmte Anzahl von wesentlichen Theorien und Fakten. Welche sind das nun?

3. Drei Hauptansätze, die für die Erklärung und die Vorhersage von gesellschaftlichen Prozessen wichtig sind

DIE THEORIE DER GESELLSCHAFT IM ALLGEMEINEN Das Erste (und das Wesentlichste), was man beachten sollte, ist die Tatsache, dass Russland eine Gesellschaft ist. Was folgt daraus? Es folgt die Erkenntnis, dass es mit all seinen individuellen Besonderheiten allen anderen Gesellschaften im Wesentlichen ähnlich ist, es ist also im Grunde genommen genauso aufgebaut, es funktioniert und entwickelt sich so wie sie alle. Bei allen Gesellschaften gibt es zwangsläufig etwas Gemeinsames, wenn wir sie auf irgendeine Weise definieren und alle diese Objekte (mit den ihnen eigenen Strukturen, Eigenschaften, Evolutionsrichtungen usw.) mit dem gleichen Begriff „Gesellschaft" bezeichnen. Gäbe es keine Ähnlichkeiten, würden wir dieser Klasse von Objekten keine Sonderstellung einräumen, wir würden keine Idee von der Gesellschaft als solcher haben und würden dann auch Russland nicht so einstufen.

Mit anderen Worten, alle Gesellschaften müssen, wenn sie eben Gesellschaften sind, über bestimmte identische Aufbauprinzipien und Gesetzmäßigkeiten ihrer Lebenstätigkeit (ihres internen Funktionierens und ihrer externen „Verhaltensweisen“) und Entwicklung verfügen (inklusive der identischen Entwicklungsstufen). Und daher kann oder, genauer gesagt, muss es eine gewisse gemeinsame (eine für alle geltende) Theorie geben, die diese Gesetzmäßigkeiten beschreibt, sozusagen eine Theorie der Gesellschaft im Allgemeinen, die in Bezug auf eine beliebige Gesellschaft, welche auch immer, als Erklärungsgrundlage „praktikabel" ist, sei es nun in England, China oder Russland.

         Eben diese allgemeine Theorie muss in erster Linie erforscht werden. Es muss untersucht werden, was jeder Gesellschaft bezüglich ihrer Struktur, Lebenstätigkeit und Entwicklung eigen ist, welche grundlegenden Gesetzmäßigkeiten es dazu gibt und was daher auch für Russland zutreffend ist, wenn man es von diesem zentralen Gesichtspunkt her betrachtet. So findet man das Allgemeine im Besonderen. Oder, genauer gesagt, man nutzt das allgemein Zutreffende in Bezug auf das Besondere, denn man ermittelt ja das Allgemeine nicht nur am Beispiel Russlands, sondern auch aller anderen Gesellschaften.

DER „BESONDERHEITSANSATZ“ Die zweite Tatsache ist, dass Russland, das natürlich eine Gesellschaft ist, zur gleichen Zeit eine besondere Gesellschaft darstellt. Oder zumindest war das früher hundertprozentig der Fall (bis zu dem allmählich alles und jeden nivellierenden Zeitalter der Globalisierung). Es hatte sozusagen ein Gesicht, dessen Ausdruck keinem anderen ähnlich war.[2] Diese Besonderheiten waren auch nicht vorübergehend, sondern recht beständig; es waren wichtige Faktoren, welche die russische Gesellschaftsordnung und ihre Evolution beeinflussten. Die Kenntnis dieser Besonderheiten, die Kenntnis davon, was sie darstellten, wo sie hergekommen sind und wie sie die o.g. Struktur und Evolution bestimmten, also die Kenntnis all dieser Umstände, ist auch für das Verständnis des historischen Schicksals von Russland wichtig.

Das gilt so für jede Gesellschaft. Die Kinder verschiedener Völker hängen eben nicht alle nur dem Traum vom Frieden an[3], wie ihn einst unsere Väter und Großväter besangen; sie reagieren durchaus verschieden auf die gleichen Reize. Unter Umständen können sie auch einfach jemanden niederstechen. Es ist bei weitem nicht unangebracht, die Besonderheiten solcher Reaktionsweisen zu kennen, sich darüber im Klaren sein, wo sie herkommen und wozu sie führen können. Und dann ist auch eine Sondertheorie erforderlich (und sogar nicht nur eine).

EINZEL-THEORIEN DER GESELLSCHAFTEN Als Erstes ist bei diesem "Besonderheitsansatz" eine ganze Familie von Theorien erforderlich, die jeweils Folgendes beschreiben:

1)   eben die Besonderheiten der Struktur, des Funktionierens, der "Verhaltensweisen" und der Entwicklung von: a) den einzelnen Gesellschaften und b) deren Gruppen (Arten), Untergruppen (Abarten) etc., die durch deren Gemeinsamkeit verschiedenen Grades bestimmt werden (wobei jedes für die Mitglieder einer bestimmten Gruppe gemeinsames Merkmal, das diese bildet, gleichzeitig auch ein Markenzeichen ist, das diese Gruppe von den anderen Gruppen derselben Ebene und Art der Generalisierung unterscheidet);

2)   die Bedeutung dieser Besonderheiten, also die Rolle, die sie im „Leben" der jeweiligen Gesellschaften spielen (gespielt haben).

So sind z.B. die englische, französische, deutsche und andere Gesellschaften Westeuropas einzigartig. Sie unterscheiden sich einerseits sichtbar voneinander. Andererseits bilden sie  Gruppen und werden entsprechend den verschiedenen „sekundären Merkmalen" unterteilt (z.B. in römische, keltische und germanische Ethnien oder in katholisch und protestantisch geprägte Gesellschaften usw.) Drittens sind sie alle  westeuropäische Gesellschaften, die nach einigen grundlegenden Merkmalen einander nah sind und sich von allen anderen Gesellschaften unterscheiden. Und jede von diesen Besonderheiten hat eine tiefe Spur in den Wendungen der Geschichte der jeweiligen Gesellschaften hinterlassen.

Das Gleiche kann über die Gesellschaften (und die Geschichte) des arabischen Ostens, Lateinamerikas, der fernöstlichen Region sowie über die verschwundenen Kulturen (antike, alte nahöstliche, mittelalterliche soziale Gebilde Mesoamerikas usw.) gesagt werden. Überall findet sich eine vielfältige Differenzierung der Klasse (Gattung) von „Gesellschaften überhaupt", begonnen von ihren ersten groben Formen, den sogenannten „Sonderzivilisationen“, über viele Zwischenstufen, die immer speziellere Verallgemeinerungen darstellen, bis zur Basis dieser „Pyramide", die aus einzelnen konkreten Gesellschaften besteht. Im Zusammenhang damit geben die Unterschiede, die Gemeinsamkeiten sowie die einzigartigen Besonderheiten verschiedener Gesellschaften genügend Material, um entsprechende Theorien zu entwickeln.

DAS VERHÄLTNIS DER ALLGEMEINEN THEORIE UND DER EINZEL-THEORIEN Und wie ist das Verhältnis dieser Einzeltheorien und der allgemeinen Theorie der Gesellschaft zueinander?

        Zum einen sind sie in ihren entscheidenden Teilen Konkretisierungen der allgemeinen Theorie. Mit anderen Worten ist ihr Verhältnis zu dieser Theorie in den besagten Teilen identisch mit dem Verhältnis von verschiedenen Formen der Realisierung eines bestimmten Inhalts und des Inhalts selbst. Die allgemeine Theorie fungiert in diesem Sinne einfach als eine Verallgemeinerung der Einzel-Theorien, wobei das Gattungswesen den Phänomenen abgewonnen und von den Artnuancen abgesehen wird, in denen sich dieses Wesen in diesem oder jenem konkreten Fall verkörpert

         Zweitens können einige (weniger wichtige und in der Regel kleinere) Teile der Einzel-Theorien den Inhalt der allgemeinen Theorie ergänzen. Das bezieht sich auf die Beschreibung der Besonderheiten von einzelnen Gesellschaften (sowie ihrer Gruppen, Untergruppen etc.), welche die in den besagten Gesellschaften ablaufenden Prozesse beeinflussen; somit lohnt es sich, diese theoretisch zu behandeln. Gleichzeitig sind sie einzigartig, lassen sich also nicht verallgemeinern.

         Es ist weiterhin erwähnenswert, dass das Verhältnis von allen Theorien aller Objekte auf einer bestimmten Ebene der Verallgemeinerung (n-1, n-2 usw.) genauso ist. Je kleiner dabei der Abstand zwischen den mehr und den weniger allgemeinen Theorien ist, desto mehr wird der Inhalt der zweiten zur Konkretisierung der ersten, statt diese zu ergänzen. Umgekehrt, je größer dieser Abstand ist, desto mehr neigt sich die Waagschale zu Gunsten der Ergänzungen auf Kosten der Konkretisierung.

THEORIEN DER HERKUNFT VON BESONDERHEITEN Aber die Sache ist nicht auf Einzel-Theorien beschränkt, die die Besonderheiten der Gesellschaften (und den Einfluss dieser Besonderheiten auf deren Schicksal) beschreiben. Man muss außerdem deren Genese untersuchen; sie kommen ja irgendwo her. Die Beschreibung der Bedingungen, Ursachen und Gesetzmäßigkeiten von deren Herkunft (sowie deren weiterer Evolution) bilden den Inhalt des zweiten Typs der „Besonderheits-Theorien“. Sie sind auch in eine Art allgemeine Theorie und Einzel-Theorien unterteilt. Die allgemeine Theorie behandelt Gesetze und Faktoren, welche die Entstehung der Vielfalt im öffentlichen Bereich bedingen; sie erklärt also den Ursprung der Besonderheiten überhaupt. Die Einzel-Theorien beschreiben die Bedingungen, Ursachen und Gesetze der Bildung von konkreten Arten der Besonderheiten.

DIE NORMGERECHTIGHEIT DES GATTUNGS- UND ARTANSATZES UND UNSERE WAHL Alles, was vorhin gesagt worden ist, berührt natürlich direkt das, was es in den Naturwissenschaften sowie in jeder theoretischen Erkenntnis aller Objekte an sich gibt (also der Objekte, die keine „Früchte" unserer physischen oder geistigen Tätigkeit sind): der Elementarteilchen, Atome, Moleküle, Zellen, Organismen sowie Galaxien, Sterne, geologischen Ablagerungen usw. Die Struktur ist überall die gleiche: Es gibt allgemeine (Gattungs-)Theorien der Objekte, ihre Einzel-Anwendungen (Modifikationen; Konkretisierungen und Ergänzungen), welche die Besonderheiten verschiedener Gattungen (Arten, Unterarten etc.) der zu untersuchenden Objekte beschreiben, und schließlich bestimmte Theorien über den Ursprung dieser Objekte, sowohl als Klasse, als auch deren einzelner Sondervertreter.

         Auch bei der Erkenntnis der Gesellschaften (die genauso Objekte an sich sind) haben wir den gleichen Standard-Fall. In der vorliegenden Vortragsreihe interessiert uns nicht alles davon, sondern nur: a) die allgemeine Theorie der Gesellschaft, b) die allgemeine Theorie der Herkunft von Besonderheiten der Gesellschaften und c) die Einzel-Theorie der Besonderheiten der russischen Gesellschaft, einschließlich der Einzel-Theorie von deren Herkunft. Ähnliche Abschnitte, die sich auf andere Gesellschaften beziehen, werden wir größtenteils ignorieren oder, genauer gesagt, als Illustrationen nur kurz anschneiden.

DIE THEORIE DER UMWELTEINFLÜSSE Schließlich ist es (als Ergänzung zum oben genannten) unmöglich, die Wechselfälle der historischen Entwicklung und der jeweiligen Struktur einer gewissen Gesellschaft zu verstehen, ohne den Einfluss der Umwelt auf diese Gesellschaft zu berücksichtigen. Es ist genauso unmöglich, die Bewegung einer Flocke in der Erdatmosphäre vorherzusagen, indem man sich auf die bloße Kenntnis der Besonderheiten dieser Flocke stützt; das Wesen der Luftströme ist hier nicht weniger wichtig. Jede Gesellschaft hat genauso ihre eigene Umwelt, und diese Tatsache beeinflusst oft wesentlich die „Flugbahn" ihrer Evolution und ruft einen gewissen „Zickzack-Kurs“ hervor. Es ist unmöglich, dies im Rahmen der o.g. allgemeinen Theorie der Gesellschaft sowie der Theorien von individuellen und Gruppenbesonderheiten der einzelnen Gesellschaften zu erklären, denn sie sind ja eben Theorien der Gesellschaften an sich, welche die gerade ihnen eigenen allgemeinen und spezifischen Eigenschaften beschreiben, d.h. das, was ihnen gemäß ihrer Natur inhärent ist und ihr Leben und ihre Evolution von innen bestimmt. Äußere Einflüsse dagegen sind in diesem Beziehungsgefüge eher Zufälle.

Allerdings lässt sich das über die Theorie der Herkunft von Besonderheiten der Gesellschaften nicht sagen - eben weil die Entstehung der Besonderheiten, die diese Theorie erforscht, durch besondere Umwelteinflüsse bedingt ist, wie im entsprechenden Vortrag nachgewiesen wird; selbstverständlich ist die Besonderheit dieser Einflüsse von der Eigenart der Umwelt abzuleiten. Aber seit die konkreten Besonderheiten der einzelnen Gesellschaften entstanden sind (und seitdem sie angefangen haben, deren Struktur und Evolution zu beeinflussen), erlangen sie eine von der Umwelt unabhängige Existenz und werden dadurch zu eigenen Merkmalen dieser Gesellschaften.

         Gleichzeitig sind die Umwelteinflüsse nicht nur im Hinblick auf die o.g. Erzeugung von individuellen und Gruppenbesonderheiten bedeutsam, die später eine autonome Entwicklung beginnen. Die Umwelt setzt ihre vielfältigen Einwirkungen fort, auch in anderen Bereichen. Konkrete Gesellschaften, die einerseits als Gesellschaften im Allgemeinen und andererseits im Rahmen ihrer Einzelbesonderheiten funktionieren und sich entwickeln, stehen außerdem ständig unter Druck durch verschiedene externe Faktoren und sind gezwungen, darauf „ab- oder ausweichend“ zu reagieren. Manchmal sind diese Einflüsse sogar von erstrangiger Bedeutung (z.B. wenn eine Gesellschaft die andere erobert und dieser ihre eigene, mehr oder weniger entwickelte Ordnung aufzwingt). In solchen Fällen lässt sich die Zukunft von konkreten Gesellschaften einfach nicht voraussagen, ohne diesen Einfluss zu berücksichtigen (genauso wenig lässt sich dann auch ihre Vergangenheit erklären).

         Hier stellen wir also eine weitere Art von Einflussfaktoren fest. Es zeichnet sich eine weitere Sondertheorie darüber ab, welche besonderen Faktoren der Umwelt bei der Existenz von Gesellschaften eine Rolle spielen und wie sie deren Ordnung, Struktur und Evolution beeinflussen. Ich meine dabei die Beschleunigung, Verlangsamung oder sogar Verzerrung des natürlichen Verlaufs der Ereignisse, den diese Gesellschaften erlebt hätten, wenn sie „geradlinig“, ohne fremdes Zutun, außerhalb von Sonderbedingungen oder bei deren nur unbedeutendem Einfluss gelebt und sich entwickelt hätten (d.h. wenn die Bedeutung der Umwelteinwirkung viel geringer als die Wirksamkeit der internen Faktoren der Gesellschaftsevolution ist).

DIE NACHTEILE DER MODERNEN WISSENSCHAFT Daraus folgt, dass es notwendig ist, (mindestens) alle drei genannten Ansätze zu berücksichtigen: den allgemeinen (Gattungs-)Ansatz, den „Besonderheits“-(Arten-)Ansatz sowie den Ansatz der Umwelteinflüsse - um wenigstens grundsätzlich, im Großen und Ganzen, die Geschichte zu verstehen oder die Zukunft einer beliebigen Gesellschaft sowie der Menschheit als Ganzes vorauszusagen. Für eine Detailvorhersage ist es dabei erforderlich, weitere  demografische, ethologische, ökologische und andere Ansätze- heranzuziehen. Man kann den historischen Prozess mit nur einer der o.g. speziellen Theorien nicht erklären.

         Das wird von vielen modernen Wissenschaftlern nicht verstanden (von früheren Gelehrtengenerationen, die selbst von all diesen besonderen Herangehensweisen gar nichts wussten, ganz zu schweigen). Die allgemeine Theorie der Gesellschaft, die Beschreibung von Besonderheiten der einzelnen Gesellschaften und deren Gruppen (einschließlich einer Reihe von Überlegungen über die Herkunft dieser Besonderheiten) und die Theorie der Umwelteinflüsse sind heute in der Wissenschaft in Form der sogenannten Gesellschaftsordnungs-, Zivilisations- und Weltsystemansätze zwar präsent, gehen aber der Sache nicht auf den Grund (im letzteren Fall spielt die Einbeziehung der Gesellschaft in eine bestimmte politische oder wirtschaftliche Gemeinschaft die Hauptrolle). Den ersten Ansatz begründete vor allem der Marxismus, den zweiten machte vor allem A. Toynbee berühmt und der dritte, jetzt im Westen populäre Ansatz ist besonders mit den Werken von I. Wallerstein und Co. verbunden. Alle o.g. Lehren stehen in deutlichem Widerspruch zu dem, wie ich im Weiteren diese Themen behandeln werde. Die Materie ist zwar gemeinsam, aber das Verständnis der zugrunde liegenden Theorien ist ganz verschieden. Jedoch ist im Moment selbst das nicht wichtig.

         Hier möchte ich nur darauf aufmerksam machen, dass die Anhänger der drei genannten Ansätze diese aus irgendeinem Grund meist als konkurrierende und nicht als komplementäre Theorien behandeln. Leider halten die meisten Protagonisten jeder dieser Lehren nur ihre Schule für richtig oder zumindest für führend und ignorieren alle anderen bzw. lehnen sie als angeblich fehlerhaft ab. Im Ergebnis werden von ihnen die kompliziertesten multifaktoriellen historischen Prozesse einseitig und voreingenommen untersucht. Daraus folgt aber auch die vollkommene Hilflosigkeit der erarbeiteten Konzepte, die jedes Mal erkennbar wird, wenn es um komplexere Erklärungen und Vorhersagen geht.

         Es gab Zeiten, als die sowjetischen Wissenschaftler massenhaft nur die allgemeine Theorie der Gesellschaft entwickelten und anerkannten und sie wie eine Fahne über den Weiten der Weltgeschichte schwangen. Sie versuchten, alle gesellschaftlichen Gratwanderungen ausschließlich durch Gesetze der Gesellschaftsordnungen zu erklären. Es wurde Kleinholz gemacht und bis jetzt wird damit gefeuert. In den 90er Jahren beeilte man sich, das Gegenteil zu praktizieren: Die Zivilisationsbesonderheiten der einzelnen Gesellschaften wurden auf den Schild getürmt, sie wurden zu den einzigen wesentlichen Faktoren erklärt, die das Sein jeder Gesellschaft bestimmen. Die Gesellschaftsordnungstheorie mit ihren für alle gemeinsamen Gesetzen wurde zusammen mit dem Schmutzwasser des sowjetischen „Sozialismus" ausgeschüttet[4] (nebenbei wurde die ohne diese Gesetze entstandene Leere selbstverständlich durch den falsch verstandenen synergetischen Zufall ausgefüllt[5]). Nun dringt zu uns nach und nach aus dem Westen der Weltsystemansatz durch, und natürlich auch als die einzig richtige siegreiche Lehre, die wiederum den Gesellschaftsordnungs- und Zivilisationstheorien nicht zu Hilfe kommt, sondern diese ersetzen soll. Ein Ergebnis nahe null (in Bezug auf die Erklärung der Weltgeschichte) wird nicht ausbleiben.

         Man muss diesen Fehler vermeiden. Das Klosterleben im Allgemeinen wird nicht mit dem Statut von nur einem bestimmten Kloster geregelt[6]. Man muss (wieder – zumindest!) alle zuvor genannten Ansätze in Anspruch nehmen, um alle wichtigen Nuancen der menschlichen Geschichte oder der Geschichte verschiedener Gesellschaften zu erklären.

DAS PROGRAMM DER VORTRAGSREIHE Um den historischen Weg Russlands in seinen Grundlagen zu erklären (was hier für ausreichend gehalten wird) und dessen Zukunft vorauszusagen, muss man also alle drei genannten Theorien verwenden und eine Vielzahl von verschiedenen Umständen und Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen, die hierbei eine Rolle spielen. Und dafür muss man diese natürlich erst untersuchen, erkennen. Gerade damit werden wir uns vor allem im Weiteren befassen. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf die allgemeine Theorie der Gesellschaft, also auf die Untersuchung dessen gerichtet werden, was sie (also die Gesellschaft im Allgemeinen) ausmacht und wie sie sich entwickelt. In diesem Bereich soll herausgefunden werden:

Ø  wie eine beliebige Gesellschaft im Großen und Ganzen aufgebaut ist;

Ø  wie sie sich im Großen und Ganzen entwickelt und welche Etappen (Gesellschaftsordnungen) sie in dieser Entwicklung zurücklegt;

Ø  was für diese Etappen typisch ist und welche Besonderheiten der Gesellschaften es gibt, die sich in einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung befinden.

         Dann sollen die allgemeine Natur (der Untergrund, die Basis) und das konkrete Wesen der Zivilisationsbesonderheiten von einzelnen Gesellschaften, der Ursprung dieser Besonderheiten und deren Bedeutung für das Schicksal der jeweiligen Gesellschaften geklärt werden, vor allem der russischen. Hierbei wird es erforderlich sein, die Rolle von Umwelteinflüssen zu behandeln, die dann auch aus anderen Blickwinkeln betrachtet werden sollen.

Schließlich wird es am Ende, basierend auf allem Vorgenannten, möglich sein, den historischen Weg Russlands zu erklären sowie zu versuchen, dessen unmittelbare Zukunft vorauszusagen.

Vortrag zwei. DIE BASISSTUKTUR DER GESELLSCHAFT

1.  Die Funktionsstruktur

DIE GENOSSENSCHAFT Es ist offensichtlich, dass die Gesellschaft ein System ist, dessen Elemente die Menschen sind. Aber Systeme sind unterschiedlich, z.B. materiell und ideell, offen und geschlossen usw. In unserem Fall ist es wichtig, dass sie in chaotische und geordnete eingeteilt werden. Die Gesellschaft gehört eindeutig zu den Letzteren. Sie ist keine Atmosphäre, keine Flüssigkeit mit der Brownschen Bewegung der Teilchen, sondern etwas recht Stabiles, etwas mit einer mehr oder weniger dauerhaften Form und Struktur.

         Die Ordnung kann jedoch unterschiedlich sein. Ich sage hier gleich, ohne mich in detaillierte Klassifikationen zu vertiefen, dass der Basisbegriff für die Gesellschaft eine Ordnung ist, die eine komplexe Kooperation darstellt oder, einfacher gesagt, auf der Arbeitsteilung beruht. Nimmt man eine beliebige Gesellschaft (ob entwickelt, ob nicht), ist leicht zu merken, dass sie eine Art Genossenschaft ist. Jedes Mitglied führt in dieser Genossenschaft seine besondere Funktion aus und alle zusammen bilden einen Gesamtorganismus - die Gesellschaft, gerade dank dem Verbund ihrer vielfältigen Aktivitäten.

DIE EBENEN DER FUNKTIONALEN SCHICHTUNG Dabei erfolgt die o.g. funktionale Arbeitsteilung auf verschiedenen Ebenen. Die niedrigste  ist die Ebene der konkreten Berufe. Heute gibt es viele Tausende davon: Fräser, Dreher, Mechaniker, Lehrer der Mathematik, Physik, Chemie, Zahnärzte, Baggerführer, Vermögensanwälte, Untersuchungsführer, Diplomaten u.a.m. Das sind die einfachsten funktionalen Gruppen; jede  spielt ihre Rolle im öffentlichen Leben, hat ihren Platz in der Genossenschaft namens „Gesellschaft".

         Die Zusammenfassung dieser konkreten Berufe ergibt neue Niveaus. Alle Zahn-, Kinder-, HNO-Ärzte, Urologen u.a. schließen sich z.B. zur Gruppe der „Ärzte“ zusammen und wenn man noch Sanitäter, Krankenschwestern und -pfleger hinzufügt, dann geht es um eine weit größere Gruppe von medizinischen Mitarbeitern. Das gleiche gilt für Lehrer, Lektoren, Erzieher etc. Sie alle sind Bildungs- und Erziehungsmitarbeiter. Nun, und so weiter. Es lassen sich viele solcher Zusammenfassungen von verschiedenen Berufen vornehmen.

         Aber auch diese zweite Ebene ist verständlicherweise nicht die letzte. Man kann weitere funktionale Gruppen nach den verschiedensten Kriterien zusammenfassen und das ergibt eine immer grobkörnigere Einteilung der Gesellschaftsmitglieder, z. B. in Verwalter, Produzenten von materiellen Gütern, Kunstschaffende, Wissenschaftler, Tätige der geistigen und körperlichen Arbeit etc. Und im Weiteren werden wir natürlich vor allem solche Zusammenfassungen der zweiten, dritten usw. Ebenen verwenden. Die „untere“ Berufseinteilung selbst ist für uns uninteressant, weil sie zu detailliert ist.    

Im Moment reicht es jedoch, nur eins festzustellen: Egal wie detailliert die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist, alle Gruppen von Tätigen, die in ihrem Rahmen eine spezielle Funktion ausüben, können als Funktionsschichten bezeichnet werden. Diese Funktionsschichtung von Menschen ist die Grundlage jeder Gesellschaft als System. Die Kooperation und nichts sonst (keine Gewalt, kein Gesellschaftsvertrag und kein Klebstoff) ist ihr wesentlichster Faktor. Warum gerade sie?

DER SINN DER „AKTIVITÄTEN“ Weil die Entstehung und die Existenz der Gesellschaft lediglich dadurch bedingt ist, dass sie für das Überleben des Menschen nützlich ist. Genauso wie alle Evolutionserwerbungen, die durch die natürliche Zuchtwahl ausgesucht und gesichert worden sind, ist die Gesellschaft eine besondere (und, es sei bemerkt, äußerst effektive) Art und Weise der Umweltanpassung. Dabei wird ihre ganze Effektivität eben durch die Kooperation gesichert. Sie erhöht drastisch die Fähigkeiten derjenigen, die sie praktizieren. Selbst die einfache Summierung von Anstrengungen lässt gelingen, was ein Einzelner nicht leisten kann, z.B. einen tonnenschweren Stein zu heben. Eine komplizierte Kooperation fügt dem noch den sogenannten „Systemeffekt“ hinzu. Die Arbeitsteilung ermöglicht, jede einzelne Operation, die das Gesamtergebnis sichert, um mehrere Hundert Mal besser und effizienter auszuführen. Daher ist auch das Ergebnis viel besser. Was sage ich! Gäbe es keine Arbeitsteilung, würde die zahlenmäßig kleine Menschheit bis heute bestenfalls mit Stöcken bewaffnet durch Afrika streifen, ohne über Fernseher, noch über Flugzeuge oder selbst die einfachsten Metallwerkzeuge zu verfügen. Wir haben alles Gute, worüber wir verfügen, der Kooperation zu verdanken, um M. Gorkis Worte neu zu formulieren[7].

Die Kooperation, die die Menschen zu einem Ganzen verbindet, bildet die Gesellschaft eben durch diese Verbindung. Eine beliebige Gesellschaft ist, wie gesagt, eine große Genossenschaft, in der wir alle unsere Funktionen ausüben, indem wir für das allgemeine Wohl arbeiten, und in der jeder einen wesentlichen Nutzen daraus zieht. Jedes Gesellschaftsmitglied (selbst wenn es um eine äußerst ungerechte Gesellschaft geht) hat viel größere Chancen zu überleben im Vergleich zu dem, der alleine, auf eigene Gefahr, mit seiner Umwelt kämpft. Ganz zu schweigen von der Zugänglichkeit zu vielen materiellen und geistigen Gütern, deren Vorhandensein nur die gemeinsame komplizierte kooperative Produktion sichern kann. (Außerdem wird oft der zusätzliche allgemein bekannte Umstand außer Acht gelassen, dass der Mensch nur im sozialen Gebilde, unter der Bedingung der Sozialisierung zum vernünftigen Menschen werden kann, sowohl in der historischen Herausbildung der Art „Homo sapiens“, als auch in der individuellen Entwicklung eines jeden einzelnen Menschen).

Die Kooperation ist also mit ihren Vorteilen etwas, was die Gesellschaft zu einer supereffektiven Art und Weise der Umweltanpassung macht und gleichzeitig diese überhaupt erst als ein besonderes System herausbildet. Die Arbeitsteilung erhöht mehrfach die Effizienz der Arbeit, und gerade die jedem mehr oder weniger zuteilwerdenden Ergebnisse dieser Effizienz halten uns alle zusammen. Deswegen ist die funktionale Struktur die Basis der Gesellschaft, ihr Fundament, worauf sie im Endeffekt beruht.

FUNKTIONEN UND AUFBAU Die funktionale Struktur (d.h. die Existenz bestimmter Funktionsschichten) und die Ausführung spezieller Funktionen sind nicht ein und dasselbe. Natürlich gibt es in jeder Gesellschaft eine bestimmte Anzahl von durch deren Mitglieder ausgeführten Funktionen, die dieser Genossenschaft in ihrem Niveau entspricht. Und selbstverständlich sind die Funktionsschichten spezialisiert auf konkrete Funktionen. Aber daraus allein ergibt sich nicht, dass für die Ausführung jeder einzelnen Funktion auch eine besondere Gruppe von Spezialisten benötigt wird. Die Anzahl von Spezialisten kann per definitionem die Anzahl der Funktionen nicht übersteigen. Die Anzahl der Funktionen kann aber größer als die der Spezialisten dafür sein, da es Fachleute gibt, die mehrere Funktionen ausführen können und darüber hinaus werden einige Aufgaben sogar von allen Mitgliedern der Gesellschaft ganz ohne Spezialisierung ausgeführt.

         Mit anderen Worten, die Zahl der in einer Gesellschaft ausgeführten und für deren Überleben notwendigen Fähigkeiten entspricht nicht unbedingt der genau gleichen Zahl von Funktionsschichten. Damit eine ganze Schicht von Menschen herausgelöst wird, die eine bestimmte Funktion ausführen (d.h. die funktionale Struktur der Gesellschaft wird verändert), ist erstens eine signifikante Zunahme der Komplexität und der Bedeutung dieser Funktion und zweitens eine ausreichende Entwicklung der Gesellschaft selbst nötig, die sichert, dass ein Teil ihrer Mitglieder eine Sonderstellung einnehmen kann. Damit Spezialisten auftreten können, die, sagen wir, nur vom Singen und Tanzen leben, ist es notwendig, dass die Gesellschaft bereit ist, diese Menschen einerseits entsprechend ihren Bedürfnissen und andererseits ihren Möglichkeiten gemäß zu unterhalten.

         Daher ist die Anzahl der gesellschaftlichen Funktionen in der Regel größer als die Anzahl von besonderen Funktionsschichten. Die funktionale Struktur der Gesellschaft bleibt immer hinter der Anzahl von Funktionen zurück, die von ihren Mitgliedern in Wirklichkeit ausgeführt werden. Diese Funktionsanzahl ist sozusagen der Boden, auf dem besondere Schichten von Spezialisten mit der Weiterentwicklung dieser Funktionen selbst sowie der Gesellschaft als Ganzes wachsen.

ÄHNLICHE BEISPIELE Aber zurück zu den Genossenschaften. Es ist klar, dass nicht nur die Menschen es geschafft haben, sich wunderbar an die Umgebung anzupassen. Es gibt auch andere Systeme, die auf der Kooperation beruhen, d.h. über eine funktionale Struktur verfügen, so z.B. die Gemeinschaften der Ameisen, Termiten und Bienen, überhaupt alle Lebewesen, die aus vielen spezialisierten Zellen bestehen, und sogar die Zellen selbst, Zusammensetzungen von Kernen, Mitochondrien, Vakuolen usw. In all diesen Fällen sichern die Zusammenarbeit, Symbiose und Arbeitsteilung eine bessere Überlebensfähigkeit sowohl des Systems als Ganzem, als auch jedes einzelnen seiner Elemente.

DIE UNTERSCHIEDE FUNKTIONALER STRUKTUREN Funktionalität ist für alle Genossenschaften charakteristisch (eben das erzeugt sie ja erst als solche). Dies ist ihr Hauptmerkmal. Dabei hat jede von ihnen natürlich ihre eigene Struktur. Die Anzahl von Funktionen und derer, die sie ausführen, können in verschiedenen Genossenschaften unterschiedlich sein (und sind auch unterschiedlich), natürlich nicht absolut, sondern nur im Einzelnen. In mancher Hinsicht sind diese Funktionen ähnlich, in mancher unterscheiden sie sich. Einige Funktionen sind in allen (zumindest den genannten) Genossenschaften erkennbar, andere nur in manchen von ihnen.

         Woher kommen diese gleichen oder besonderen Funktionen? Verallgemeinernd gesagt, ist es klar, dass die Gleichheit der Funktionen (und der sie ausführenden Funktionsschichten) durch die Ähnlichkeit der Aufgaben determiniert wird, die mit ihrer Hilfe gelöst werden, und die Einzigartigkeit, im Gegenteil, durch die Einzigartigkeit dieser Aufgaben. Vor jeder Genossenschaft stehen ihre eigenen Herausforderungen, denen sie gerecht werden muss. Etwas ist für alle gleich, etwas für viele, aber etwas ist auch einzigartig. Es geht eben darum, was das für Aufgaben und Herausforderungen sind. Womit sind sie verbunden? Hierbei gibt es zwei Hauptpunkte und  einen besonderen Gesichtspunkt.

DIE ROLLE DER UMWELT Erstens werden bestimmte Herausforderungen durch die Natur der Umwelt vorgegeben, an die die Gesellschaft sich anpassen muss. In dem Maße, in dem es sich um die gleiche Umwelt handelt, d.h. in dem sie die gleichen Anforderungen stellt, ist auch die Reaktion darauf gleich. Wenn z.B. die Umwelt feindlich ist, ist die Funktion des Schutzes davor und damit (bei ausreichender Ernsthaftigkeit des Problems, die den Bedarf an Spezialisierung erzeugt) eine spezielle Gruppe von Verteidigern erforderlich. Alle genannten Arten von Genossenschaften haben die Mittel des Schutzes vor der Umwelt: In der Gesellschaft sind es die Armee und das Ministerium für Katastrophenschutz, bei den Ameisen Soldaten als eine Fachschicht (mit der Beseitigung von Unfällen befassen sich die „Arbeiter“, hierbei gibt es keine separate Spezialisierung), im menschlichen Körper die Haut und das Immunsystem (d.h. entsprechende Zellen) und in den Zellen die Membran (d.h. bestimmte molekulare Einheiten). All das sind, ich wiederhole, die Schutzspezialisten, die die gleiche, für alle notwendigen Funktion ausführen.

         Wenn die Umwelt jedoch spezifisch ist und einzigartige Anforderungen stellt, dann ist natürlich auch die Reaktion darauf in Form der funktionalen Spezialisierung, d.h. der Entstehung von speziellen Funktionsträgern, einzigartig. So ist für Lebewesen (vor allem für massive Landorganismen) das Überleben unter den Bedingungen der Schwerkraft notwendig. Daher haben sie einen  Stützmechanismus wie das Skelett (das Knochen- und Muskelgewebe) oder die Chitinabdeckung und einen  Orientierungsmechanismus wie das Gleichgewichtsorgan (das ebenfalls teilweise aus speziellen Zellen besteht). Es gibt nichts dergleichen in den Insektengemeinschaften und in der menschlichen Gesellschaft, denn vor ihnen als Gemeinschaft steht einfach keine solche Aufgabe (die Ausrichtung und Aufrechterhaltung der Position im Schwerefeld der Erde); jedes einzelne Individuum löst diese Aufgabe für sich,  quasi auf einer „vorgesellschaftlichen“ Ebene.

DIE ROLLE DER ELEMENTE Zweitens sind die Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Funktionen mit den Ähnlichkeiten und Unterschieden der Natur von Genossenschaften selbst verbunden, wobei die Besonderheiten ihrer Mitglieder ausschlaggebend sind. Zum Beispiel sind Ameisen, Bienen und Menschen einander ähnlich ( unterscheiden sich aber von den Zellen her), da sie als getrennte Individuen existieren. Daher entsteht bei ihnen eine spezialisierte Funktion des Erwerbs von Nahrung und sonstigen notwendigen Gütern. Es gibt „Arbeiter“ bei den Ameisen, Bienen, Menschen. Aber es gibt keine speziellen „Arbeiterzellen“. Die Funktion des Nahrungserwerbs erfüllt hier der Organismus als Ganzes (wie eine Genossenschaft). Darin gibt es Zellen, die die Nahrung verarbeiten, aber es gibt keine „Erwerber“ als Sonderschicht (obwohl eventuell einige Arten von Muskelgewebe unter Vorbehalt als solche betrachtet werden können).

         Ein weiteres Beispiel: Nur Menschen mit ihrer entwickelten Intelligenz haben ästhetische Bedürfnisse und eine dementsprechende Spezialisierung einzelner Individuen auf ihre Befriedigung hin. Für Insekten und Zellen ist das  Unsinn. Zur gleichen Zeit ist nur bei Insekten mit ihrer massenhaften Eiablage die Spezialisierung auf die Geburt als soziale Funktion möglich. Hierbei wird sie durch Mütter, „Königinnen" erfüllt. Bei den Menschen ist die Geburt aus der Gesellschaft ausgeklammert (es geht hier nicht um Erziehung und Sozialisierung); sie ist keine soziale Funktion, zumindest keine Funktion, die spezialisiert und einer Schicht von Spezialisten anvertraut werden kann. Sie ist die  individuelle Angelegenheit eines jeden Menschen. Bei den Körperzellen, die sich durch Teilung unter der Kontrolle eines genetischen Programms reproduzieren, gibt es zumeist auch keine solche Spezialisierung. Also ich wiederhole: Die Besonderheiten der Elemente legen zusammen mit den Besonderheiten der Umwelt die Möglichkeiten und den Nutzen bestimmter Funktionen, und dann, mit der Intensivierung dieser Funktionen, auch entsprechende mögliche und notwendige Spezialisierungen (Fachschichten) fest.

DIE ROLLE DES ENTWICKLUNGSGRADES Schließlich ist, drittens, auch der Entwicklungsgrad von konkreten Genossenschaften wichtig. Dieser Grad definiert ebenfalls die Funktionssätze und, im weiteren, die Funktionsschichten. Einerseits fehlen in den primitiven Gesellschaften und bei den Menschen, aus denen sie bestehen, einfach einige Bedürfnisse, so dass es auch keine besonderen Aktivitäten zu ihrer Befriedigung gibt. Die neuen Funktionen selbst erscheinen erst mit der Zeit, mit der Entwicklung der Gesellschaft. Andererseits wächst bei einem immer größeren Rückstand die Anzahl von Funktionsschichten. Erinnern wir uns an das o.g. Verhältnis der Anzahl von Funktionen und der Funktionsstruktur, also an jene Fälle, in denen manche Funktionen entweder durch alle Mitglieder der Genossenschaft oder durch einen Teil von ihnen ausgeführt werden, wobei aber mehrere Funktionen durch diesen Teil der Mitglieder erfüllt werden. Im Zusammenhang damit ist es möglich, dass es bei den Genossenschaften mit einem unterschiedlichen Entwicklungsgrad selbst bei ein und demselben Funktionssatz verschiedene funktionale Strukturen geben kann (und auch gibt).

         So haben primitive Tiere kein Kreislaufsystem und auch kein Skelett; die Antworten auf entsprechende Herausforderungen werden auf eine andere Art und Weise und nicht spezialisiert gegeben. Bei den Menschen sind viele Funktionsschichten in getrennter Form auch erst in bestimmten Entwicklungsetappen entstanden. Zuvor haben die Mitglieder der Gesellschaft einfach eine ganze Reihe von Funktionen ausgeführt, z.B. Kontrolle und Schutz, Bildung und Erziehung, Haareschneiden und Heilung (Barbiere befassten sich bekanntlich im Mittelalter mit beiden Sachen) usw. Erst die Entwicklung führt sowohl zur Entstehung von besonderen neuen Funktionen, als auch zu ihrer spezialisierten Ausführung, also zur Herauslösung bestimmter Schichten von Spezialisten. Im Zusammenhang damit erhebt sich unsere nächste Frage: Wie verläuft diese Entwicklung?

2. Die Entwicklung der funktionalen Struktur

DER DREH- UND ANGELPUNKT DES PROZESSES Zu Beginn ist es wichtig deutlich zu verstehen, dass die Gesellschaft selbst im Grunde nichts anderes als eine funktional gegliederte Genossenschaft ist und dass ihre Entwicklung im Allgemeinen vor allem die Entwicklung dieser funktionalen Struktur ist. Wir sprechen von der funktionalen Struktur der Gesellschaft, ohne die Gesellschaft und die funktionale Struktur völlig gleichzusetzen, nur weil die Gesellschaft nicht nur funktional, sondern auch anders strukturiert ist: nach Alter, Geschlecht, Ethnien, Klassen usw. Eben deswegen muss man die Funktionsstruktur terminologisch herauslösen und dieser einen von der Gesellschaft getrennten Platz einräumen, quasi neben ihren sonstigen Strukturen. Aber in Wirklichkeit ist sie  die wichtigste, essentielle. Die Gesellschaft als solche läuft letztlich auf sie hinaus. Alle anderen Strukturen der Gesellschaft sind entweder nur Überbauten auf dieser Grundlage oder sie tragen keinen öffentlichen, sozialen, sondern einen biologischen, kulturellen usw. Charakter, so wie die Strukturierung nach Alter, Geschlecht und Ethnien. Würden die Menschen keine funktionale Schichtung entwickelt haben, würde es auch keine Gesellschaft im Allgemeinen geben, mit all ihren sekundären Erscheinungen.

Deshalb wiederhole ich: So wie die Gesellschaft im Grunde genommen eine Genossenschaft ist, verläuft auch ihre Entwicklung vor allem in der Form der immer komplizierteren funktionalen Differenzierung der Menschen, aus denen sie besteht.  Dies führt sowohl zu einer erhöhten Effizienz des genannten Systems als Mittel der Anpassung an die Umwelt, als auch zu einer gesteigerten Abhängigkeit der Individuen dieses Kollektivs voneinander, d.h. zur Erhöhung seiner inneren Festigkeit. Auf dem gleichen Stamm wachsen im Weiteren alle anderen öffentlichen, sozialen Phänomene. Daher steht im Fokus unserer Aufmerksamkeit vor allem die Entwicklung der funktionalen Struktur.

DER HAUPTGRUND Es wäre richtig, die Untersuchung dieser Entwicklung mit ihren Ursachen zu beginnen. Wodurch ist sie bedingt?

         Die Antwort liegt im Prinzip auf der Hand. Es ist offensichtlich, dass die Entstehung der neuen Funktionen und im Weiteren der Funktionsschichten buchstäblich der Entwicklung von Bedürfnissen der Menschen folgt und diese vor allem durch die Entwicklung der Produktion bedingt ist (ich glaube, dass es sich nicht lohnt, auch deren Gründe zu erläutern). Die Entwicklung der Produktion verläuft zwiefach, einerseits quantitativ (hierbei wachsen die Arbeitsproduktivität und das produzierte Volumen) und andererseits qualitativ (hierbei entstehen immer neue Produktionsarten und es verläuft ihre Differenzierung). Diese beiden Entwicklungsrichtungen basieren vor allem auf der Entwicklung der Technik und der Technologien (was eben die Produktivität erhöht und die Produktion differenziert).

         Wie wird die Entstehung von neuen Funktionsschichten, die vertiefte Arbeitsteilung, durch diese unterschiedlichen Arten der Produktionsentwicklung hervorgerufen?

1.   Erstens kommt die technische Produktionsentwicklung unmittelbar in der Entstehung neuer Berufe und ganzer Funktionsgruppen zum Ausdruck. Neue Arbeitsmittel und Technologien erfordern oft direkt einen spezialisierten Service. So brachte die Handhabung der Metallschmelze Metallurgen und Schmiede, die Meisterung des Tonbrennens Töpfer hervor usw.

2.   Zweitens erzeugt die qualitative Produktionsentwicklung neue Bedürfnisse bei den Menschen und ruft neue funktionale Aktivitäten hervor, die diese Bedürfnisse befriedigen.

3.   Drittens erhöht die quantitative Entwicklung der Produktion die materiellen Ressourcen der Gesellschaft und fördert dadurch die Entstehung von neuen Schichten, die sich auf die Erfüllung dieser neuen Bedürfnisse spezialisieren, welche zuvor jeder zwangsläufig aus eigener Kraft befriedigen musste. Nun taucht die Möglichkeit auf, dafür besondere Schichten von Menschen einzusetzen und deren Lebensunterhalt zu sichern.            

4.   Viertens vergrößert die quantitative Entwicklung der Produktion die Gesellschaft numerisch und die qualitative Entwicklung steigert ihre Komplexität. Dadurch wird das ganze gesellschaftliche Leben komplizierter und das ruft den Bedarf an professioneller Führung hervor, d.h. an der Entstehung einer Schicht von dafür geeigneten Spezialisten. Hierbei offenbart sich schon eine indirekte Auswirkung der Produktionsentwicklung auf die funktionale Struktur der Gesellschaft: Die Letztere wird durch die Folgen der Ersteren bestimmt.

         Im Ganzen wird ersichtlich, dass die Entstehung von neuen Funktionen und im Weiteren von neuen Funktionsschichten mit der Produktionsentwicklung eng verbunden ist. Die Menschen verbessern sie als das wichtigste Mittel, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, aber so entwickeln sie auch die Gesellschaft, d.h. ihre funktionale Struktur.

DAS FUNDAMENT DES FUNDAMENTS Dabei ist die Gesellschaft mit der Produktion nicht nur in ihrer Entwicklung, sondern auch in ihrem Sein verbunden. Die Gesellschaft ist vor allem eine industrielle Kooperation (ihr Hauptziel ist die Produktion von lebenserhaltenden materiellen Gütern). Sie entsteht und existiert dementsprechend nur dort, wo Produktion entstanden ist und existiert. Alles hat mit der Bewältigung der Produktion begonnen.

         Natürlich vereinigten sich die Menschen auch vorher schon zu primitiven Kollektiven, aber erstens waren diese zahlenmäßig klein, zweitens hatten sie eine primitive funktionale Struktur, drittens waren sie instabil (ohne eine Basis, die die Produktion sichert; solche Gemeinschaften hingen völlig von ihrer natürlichen Umwelt ab, passten sich vor allem deren Anforderungen an und änderten sich wieder, nachdem sich diese geändert hatte); schließlich viertens hatten diese Gruppen eine geringe Fähigkeit von Entwicklung in Richtung Kooperation. Es gab weder nennenswerte Möglichkeiten für diese Entwicklung (u.a. Ressourcen) noch einen „Antrieb“, noch einen sich entwickelnden Basisbereich (d.h. die Produktion selbst). Daher wage ich nicht einmal, die vom Jagen und Sammeln lebenden primitiven menschlichen Gemeinschaften „Gesellschaften“ zu nennen, sondern ich neige dazu, in Bezug auf diese den allgemeineren Begriff „Sozium“ (soziales Gebilde) zu verwenden.

         Der Übergang zur Produktion änderte die Situation in allen vier Punkten. Die Bevölkerungszahl der Gemeinschaften begann zu wachsen, ihre funktionale Struktur wurde komplizierter und stabilisierte sich, und deren Entwicklung beschleunigte sich als Folge der Produktionsentwicklung. Wie geschah das? Welche Entwicklungsetappen hat die funktionale Struktur der Gesellschaft durchlaufen?

DIE EPOCHE DER LANDWIRTSCHAFT Zunächst sonderten sich zwei Hauptfunktionsschichten der Menschen ab. Zur ersten gehörten die Produzenten der wichtigsten materiellen Güter, vor allem der Lebensmittel. Diese Produzenten wurden zumeist durch die Ackerbauern vertreten. Antike und mittelalterliche Gesellschaften bildeten sich und existierten bis zur Neuzeit hauptsächlich auf der Grundlage des Ackerbaus. Weder die Wanderviehhaltung als eine völlig unabhängige wirtschaftliche Grundlage der menschlichen Existenz, noch viel weniger die Hirtenviehzucht, die stellweise den Ackerbau erheblich ergänzte, spielten eine solche Rolle und konnten dies auch nicht tun. Warum? Was ist so besonders am Ackerbau? Nun, die Sache ist die:

         Für die Bildung und die stabile Existenz einer Gesellschaft sind erforderlich:

a) eine ausreichende Bevölkerungszahl, b) ihre bedeutende Dichte und c) eine sesshafte Lebensweise der Menschen auf einem bestimmten zusammenhängenden Gebiet.

In dieser Hinsicht zeichnet sich der Ackerbau durch folgendes aus: 1) Er produziert die meisten Lebensmittel pro Flächeneinheit und darum sind einerseits eine deutliche Zunahme der Bevölkerung und andererseits ihre hohe Dichte auf einem begrenzten Gebiet möglich. Die Wanderviehhaltung ist weit weniger effizient und kann daher weder eine rasche Bevölkerungszunahme noch deren große Zahl und Dichte in den lokalen Regionen sichern. Im Gegenteil, sie verstreut die Menschen über große Flächen und erschwert dadurch nicht nur ihre Funktionsschichtung und einen stabilen Austausch von Aktivitäten, sondern auch eine einfache ständige Kommunikation. 2) Der Ackerbau erfordert eine sesshafte Lebensweise der Hersteller und sichert diese Lebensweise durch eine hohe Produktivität. Die Mobilität der Nomaden dagegen, die heute hier und morgen da sind, ist ein zusätzliches Hindernis für die Entstehung ihrer Gesellschaften.

         Darüber hinaus ist auch eine viel höhere Fähigkeit der technologischen Verbesserung des Ackerbaus erwähnenswert. Die Viehzucht ist dazu viel weniger geeignet, was verständlicherweise aus der Sicht der Entwicklung dieser Branchen wichtig ist, mit allen Konsequenzen für das Wachstum der Produktivität, der Bevölkerungszahl und -dichte, der funktionalen Differenzierung usw.

         Deshalb werden wir unten vorwiegend die Ackerbauern als die Hauptfunktionsschicht der primären Gesellschaften untersuchen und Produzenten anderer Art, insbesondere die Nomaden, außer Acht lassen: Außer Plünderungen und Eroberungen haben sich die Letzteren in der Geschichte kaum besonders hervorgetan und umso weniger auf dem Gebiet des sozialen Aufbaus. Der wichtigste Weg der menschlichen Entwicklung ist die Entwicklung der Ackerbaugesellschaften.

DIE ZWEITE SCHICHT Die zweite führende Funktionsschicht der primären Gesellschaften war von Anfang an (d.h. seit ihrer Herausbildung) die Schicht der Verwalter. Oft erfüllten sie auch die Funktion des Schutzes, aber das war nicht das Wichtigste: Ihre Hauptaufgabe war im Grunde genommen immer die Verwaltung.

        Warum erforderte diese Funktion eine spezialisierte Ausführung? Im Folgenden werde ich im Detail darauf eingehen, im Moment sage ich nur kurz: Zur Professionalisierung der Verwaltung führten das Wachstum der Bevölkerungszahl und der Komplexität von Gemeinschaften. Dies verstärkte den Bedarf an Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung . Im Ergebnis sonderten sich die Verwalter als eine besondere Funktionsschicht ab (und primitive soziale Gebilde verwandelten sich in Gesellschaften).

ANDERE SCHICHTEN Die primäre Gesellschaft bestand also im Laufe von Tausenden von Jahren hauptsächlich (d.h. in dem Sinne, dass das ganze Leben dieser Gesellschaft dadurch bestimmt wurde) aus zwei funktionalen Schichten: Den Produzenten (Ackerbauern) und den Verwaltern. Darüber hinaus gab es natürlich noch viele andere Schichten: Handwerker, Händler, Transportarbeiter (Schiffsführer, Gepäckträger, Schauerleute) usw. Aber sie standen alle hinter den Ackerbauern und den Verwaltern zahlenmäßig und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nach weit zurück. Der wichtigste „Gesichtsausdruck“ der Gesellschaft bis in die Neuzeit hinein war bäuerlich-bürokratisch. Andere funktionale Gruppen in dieser Epoche waren nur kleine Blatternarben auf deren Gesicht.

SONDERFÄLLE Aber manchmal gaben die dritten bis vierten Schichten sogar den Ton an. Hierbei sollte man sich daran erinnern, dass wir uns erst einmal nur mit der allgemeinen Theorie der Gesellschaft befassen. In deren Rahmen bildet die genannte Funktionsstruktur der Gesellschaft mit ihren beiden wichtigsten Mitgliedern die Basis, was ich auch feststelle. Aber die reale Evolution der Menschheit wird, wie schon erwähnt, nicht nur durch allgemeine theoretische Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Insbesondere der spezifische Einfluss der Umwelt (nämlich des allmählich entstehenden regionalen oder gar globalen Marktes mit seinen Handelswegen) hat wiederholt dazu geführt, dass sich an einigen Stellen (vor allem an der Meeresküste und entlang der Flüsse) ganze Gemeinschaften von Menschen auf den internationalen Handel und die damit verbundenen Berufe spezialisierten. Daher war auch die Struktur dieser Gemeinschaften keineswegs bäuerlich-bürokratisch. Aber, ich wiederhole, das sind nur Ausnahmen von der Regel, die eben durch die einzigartige Spezifität des Lebensraums dieser Gesellschaften verursacht wurden. Dies ist der Gegenstand der Theorie, die sich mit den Folgen der Einwirkung der besonderen Umwelt befasst. (Es geht jedoch nicht nur darum, weil die Entwicklung der Marktbeziehungen in bestimmten Gesellschaften durchweg durch deren Zivilisationsbesonderheiten beeinflusst wurde). In der allgemeinen Theorie der Gesellschaft müssen wir diese Fälle unberücksichtigt lassen.

DER ZEITRAUM Lassen Sie mich auch klarstellen, dass die Periodisierung der primären Epoche, die ich benutze, von der Entstehung der ersten Gesellschaften überhaupt bis inklusive der Neuzeit (also bis zur Entstehung der ersten Gesellschaften mit einer anderen funktionalen Struktur), natürlich relativ ist. Ich orientiere mich hier auf die Geschichte der Menschheit als Ganzes und nicht auf die Geschichte der einzelnen konkreten Gesellschaften. Jede hat in dieser Hinsicht ihren Zeitrahmen. Einige Gesellschaften entstanden in der Frühzeit (aufgrund der hohen Effizienz ihres Ackerbaus) und andere Tausende Jahre später (aufgrund der niedrigen Produktivität ihres Ackerbaus und ihrer Produktion überhaupt). Das Geburtsdatum dieser oder jener Gesellschaft ist also rein individuell festgelegt.

         Ebenso änderten die Gesellschaften, deren Produktion sich aufgrund von vielen Gegebenheiten (deren Untersuchung die Aufgabe der Artentheorie und der Theorie der äußeren Einflüsse ist) schneller entwickelte (oder die von Anfang an eine Hinwendung auf Handwerk und Handel hatten), ihre zuvor beschriebene bäuerlich-bürokratische Struktur zugunsten einer komplizierteren. Die ersten dieser strukturell neuen Gesellschaften entstanden zu Beginn der Neuzeit, und eben deswegen halte ich diesen Zeitpunkt für das Ende der Ackerbauepoche. Andere Gesellschaften, deren industrielle Entwicklung ins Stocken kam (aus bestimmten Gründen, die wir später behandeln werden), erreichten mit dieser primitiven Struktur als Basis ihrer Wirtschaft sogar die jüngste Zeit. China z.B. trennt sich erst heute davon, buchstäblich vor unseren Augen. Aber auch in Russland dominierte diese Struktur bis zur Mitte des vorigen (zwanzigsten) Jahrhunderts.

DIE INDUSTRIEEPOCHE Aber wir wollen unseren historischen Exkurs fortsetzen (und abschließen). Zu Beginn der Neuzeit brachte also die Entwicklung der Produktion und des damit verbundenen Handels in einigen fortgeschrittenen, vor allem westeuropäischen, Gesellschaften zusätzlich zu den Landwirten und Verwaltern massenhaft auch andere Berufe hervor, und zwar: Kaufleute, Seeleute, Kutscher, Schauerleute, Geldwechsler, Geldverleiher, schließlich Handwerker verschiedenster Sorten (einschließlich Bergleute, Geologen, Bauarbeiter etc.) Die Erstgenannten bedienten so oder so (jede Schicht auf ihre Art und Weise) den internationalen und regionalen Austausch von Produkten und die Letztgenannten produzierten (oder gewannen) unmittelbar Artikel zum Verkauf.

         Im Zuge derselben Entwicklung der Produktion vergrößerten sich und erstarkten alle diese Gruppen teilweise und teilweise veränderten sie ihre Art. So wurden Geldwechsler und Geldverleiher allmählich Bankiers, viele Kaufleute organisierten Manufakturen und wurden Industrielle und die Mehrheit der Handwerker ging bankrott und verwandelte sich in Lohnarbeiter verschiedener Berufe. Darüber hinaus tauchten im Zuge des industriellen, finanziellen und sozialen Umbruchs Ingenieure, Manager, Geschäftsleute, Wissenschaftler, Lehrer, Ärzte usw. auf.

         Zur gleichen Zeit schafften alle diese Neuerungen und Umwandlungen die ursprünglichen Schichten natürlich nicht vollständig ab. Auf deren Grund wuchsen einfach neue Triebe, aber die alten Funktionen existierten weiter samt den Leuten, die sie ausführten, und dehnten sich sogar aus. Einige Handwerker z.B. entgingen dem Ruin und betrieben weiterhin ihr Geschäft, vor allem in den Produktionsbereichen, die für die großen Industriellen uninteressant waren. Bis heute sind Kleingewerbetreibende geblieben, die sich hauptsächlich mit Reparatur und hauswirtschaftlichen Dienstleistungen befassen. Die eigentlichen Kaufleute waren auch nicht verschwunden; bei weitem nicht alle brachen ihrem ursprünglichen Beruf die Treue und wurden Fabrikbesitzer. Hierbei erfolgte jedoch eine weitere Differenzierung in Großhändler, Besitzer von Einzelhandelsgeschäften und Krämer. Ein starkes Wachstum und weitere Differenzierung gab es auch im Transportwesen, insbesondere mit dem Aufkommen der Eisenbahn, von Automobilen und  der Luftfahrt. Und so weiter.

         Im Ganzen kann diese Richtung der Funktionsentwicklung zusammenfassend als „industriell“ bezeichnet werden. Sie läuft auf die Herausbildung und Entwicklung der Produktion von materiellen Gütern hinaus, die mit dem Ackerbau nicht zusammenhängen. Alle genannten neuen Massenschichten sind überwiegend mit dieser Produktion und ihrer Bedienung (Rohstoffe, Handel, Transport, Lagerung etc.) verbunden.

         Gleichzeitig sind in dieser Etappe natürlich auch Ackerbauern und Verwalter erhalten geblieben; sie differenzierten sich nur intern und wandelten sich. Die Landwirte beispielsweise spezialisierten sich nach und nach vollständig auf bestimmte Arten der landwirtschaftlichen Produktion, einige auf den Anbau von Raps, andere von Gerste, wieder andere befassten sich mit der Tierhaltung und manche gar extra mit der Bodenbestellung. Die Verwalter spalteten sich ebenso stark nach Berufen, nach Verwaltungsobjekten, nach der Art von Verwaltungsfunktionen. Die Schutzfunktion trennte sich z.B. vollständig von der Verwaltung und wurde zur Sache einer besonderen Schicht von Funktionsträgern, des Militärs.

AUSNAHMEN UND PERIODISIERUNG Übrigens erwarben in dieser Epoche die Ausnahmen einen etwas anderen Charakter. Sie ähnelten denen, die es in der ersten Etappe gegeben hatte, d.h. denen, die durch äußere Bedingungen (plus zivilisatorische Besonderheiten) verursacht worden waren. Nun wurde der Einfluss des Weltmarktes und der wirtschaftlichen Realitäten in den Regionen allgemein bedeutend. Die funktionale Struktur der Industriegesellschaft wird vor allem nicht mehr durch ihre eigenständige Entwicklung, sondern durch ihren Platz in der globalen Arbeitsteilung bestimmt, also durch ihre Naturschätze, Rohstoffvorkommen, ihr geistiges Potenzial u.a.m.

Bezogen auf die ganze Menschheit dauerte diese Etappe von der Neuzeit ungefähr bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, wobei diese Zeitdauer in den einzelnen Gesellschaften eine riesengroße Streuung erfuhr. China tritt, wie gesagt, vor unseren Augen ins Industriezeitalter ein, Russland schlitterte etwa vor einem halben Jahrhundert mit einem Fuß hinein (man sollte den Beginn des Prozesses mit seiner entwickelten Form nicht verwechseln). Und einige bereiten sich darauf vor, in die „andere Welt", in einen neuen Zustand, also zu einer noch komplexeren und qualitativ anderen funktionalen Differenzierung überzugehen. Aber darüber reden wir viel später.

         Vorerst möchte ich Sie nur darauf aufmerksam machen, dass es sich bei allen o.g. Beschreibungen von Veränderungen der Gesellschaften nur um die Änderung ihrer funktionalen Struktur und nicht um deren soziale, wirtschaftliche, politische und sonstige Auswirkungen handelte. In diesem Vortrag setzte ich mir zum Ziel, von all dem zu abstrahieren. Mich interessierte nur das Fundament und dessen Entwicklung.

Nun ist es allerdings an der Zeit, uns auch für den Überbau zu interessieren. Damit werden wir uns im Weiteren tatsächlich befassen.

Vortrag drei. DER ÜBERBAU

EINE WEITERE AUSWIRKUNG Im vorigen Kapitel wurde festgestellt, dass die Funktionsschichten von Gemeinschaften u.a. durch Besonderheiten ihrer Elemente bestimmt werden. Die Bedeutung dieser Besonderheiten beschränkt sich jedoch nicht darauf. Sie haben auch andere, ebenso wichtige Auswirkungen. So führt die Eigenart der Menschen als Elemente der Gemeinschaften zu dem Umstand, dass über der Basisfunktionsstruktur dieser Gemeinschaften noch eine besondere soziale Struktur aufgebaut wird (bei Insekten und Zellen ist das nicht der Fall). Warum und wie kommt es dazu?

1. Die Besonderheit von Menschen

DIE GENOSSENSCHAFT ALS PROZESS Die Genossenschaft ist ein System von funktional spezialisierten Elementen. Aber sie ist nicht bloß eine Ansammlung dieser Elemente nach dem Prinzip „ein Paar von jeder Kreatur" und auch keine Auflistung erforderlicher Berufe. Die Genossenschaft ist de facto ein Prozess, sie existiert als solche nur dann, wenn ihre Mitglieder praktisch miteinander interagieren, indem sie ihre Aufgaben erfüllen. Eigentlich ist sie nicht so sehr ein System spezialisierter materieller Elemente (Zellen, Insekten, Menschen), sondern ein System von deren Aktionen: Was hier wirklich agiert, wird erst im Laufe der Umsetzung seines funktionalen Potentials, d.h. der Verwirklichung einer Aktion (sofern dieses realisiert wird), zu einem Systemelement; das System wird dadurch erst geschaffen.

         Daraus ergibt sich, dass die Art und Weise, wie diese konkreten Aktionen verwirklicht werden, von entscheidender Bedeutung ist. Die Menschen unterscheiden sich dramatisch von den Zellen und sozialen Insekten eben durch den Charakter dieses Prozesses (besonders hinsichtlich der uns interessierenden Folgen).

DAS WESEN DES UNTERSCHIEDS Der Unterschied besteht darin, dass die Aktionen der Zellen und der Insekten einen programmierten, „automatischen" (speziell bei Insekten einen reflektorisch-instinktiven) Charakter haben: Eine konkrete Einwirkung verursacht hierbei direkt eine konkrete Reaktion. Das menschliche Verhalten dagegen ist weitgehend willentlich (wenn es um funktionale Handlungen geht, sogar voll und ganz). Wegen einer viel stärkeren Entwicklung des Nervensystems hat der Mensch Intelligenz, Willen, Emotionen und ähnliche geistige Phänomene (deren Existenz natürlich von den zuständigen Strukturen des Gehirns gesichert wird). Diese Phänomene vermitteln den Zusammenhang von Einwirkung und Reaktion und steuern die Reaktionen in Hinsicht auf den Charakter der Einwirkungen, aber nicht in erster Linie, sondern vor allem in Hinsicht auf den aktuellen Zustand des Organismus selbst.

Die Aktionen eines Menschen sind viel komplizierter und unterscheiden sich daher grundsätzlich von den Aktionen eines Insekts (und, umso mehr, einer Zelle): Zu den Elementen menschlicher Handlungen gehören u.a. (ich zähle nur das Wichtigste auf und lasse das Unwichtige weg):

a)   die Zielsetzung, also das Erfassen eines im Moment dominanten Bedarfs und die Konzentration auf dessen Befriedigung (übrigens bedeutet Willensfreiheit die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Motiven, also Zielen zu wählen);

b)   die intelligente Suche nach den möglichen Wegen und Mitteln, das gesetzte Ziel zu erreichen; diese Suche besteht nicht einfach darin, bestimmte Varianten eine nach der anderen zu prüfen, sondern ist Modellieren; dabei nutzt der Mensch seine im Gedächtnis verankerte Lebenserfahrung und seine Kenntnisse;

c)   die Auswahl des besten der o.g. Wege und Mittel, also deren Vergleich untereinander nach verschiedenen Parametern und das Erkennen eines davon als des effizientesten vom Blickwinkel der Erreichbarkeit des Zieles und der Sparsamkeit aus gesehen usw. (Übrigens bedeutet Wahlfreiheit die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Wegen und Mitteln zu wählen, ein konkretes Ziel zu erreichen, - zum Unterschied zur Willensfreiheit, mit der sie oft verwechselt wird);

d)   die abschließende Willensanstrengung – der Befehl an konkrete Muskeln zu konkreten Kontraktionen (der äußerliche Ausdruck davon sind die konkreten Handlungen eines Menschen).

Bei all dem ist für uns nützlich, folgendes zu klären:

„UND WAS HABT IHR IN DEN RUCKSÄCKEN, JUNGS?“[8] Für den Anfang (und für die Perspektive) bedeutet dies, dass das Verhalten eines Menschen in großem Maße durch den Inhalt seines Gehirns bestimmt wird, also durch Vorstellungen und Kenntnisse, die er sich zeitlebens angeeignet hat (insbesondere in der Zeit der intensiven Herausbildung seiner Persönlichkeit). In gleichen Situationen verhalten sich Menschen mit verschiedenen Vorstellungen und Kenntnissen unterschiedlich und solche mit ähnlichen – ähnlich. Dabei sei folgendes angemerkt:

a)   Jeder von uns hat den Ursprung des Löwenanteils des o.g. Inhalts in erster Linie nicht seiner begrenzten individuellen, sondern vor allem der kollektiven Erfahrung der entsprechenden Gesellschaft, ja der ganzen Menschheit zu verdanken, der Erfahrung, die von Generation zu Generation durch Bildung und Erziehung angesammelt und weitergegeben wird.

b)   Dieser Inhalt schließt einerseits die naturwissenschaftlichen Kenntnisse ein (die im sozialen Sinne neutral sind) und andererseits die Vorstellungen darüber, wie man sich in einer bestimmten Gesellschaft verhalten sollte, was hierbei gut und was schlecht, was schön und was unschön ist usw.; bei den Aktionen, Einschätzungen, Beziehungen etc., die sich aus diesen Vorstellungen ergeben, verwandeln sich diese allmählich in Gewohnheiten, „automatische“ Reaktionen und die Vorstellungen selbst – in bestimmte utilitaristische, ethische und ästhetische Einstellungen (Überzeugungen) und Werte. Ich habe oben nicht von ungefähr die Erfahrungsübertragung der Generationen nicht nur mit Bildung, sondern auch mit Erziehung gleichgesetzt. Nicht nur die Kenntnisse, sondern auch viele, besonders sozial-psychische Bedürfnisse (Wertmotivationen) der Menschen, tragen einen nicht angeborenen, anzuerziehenden Charakter.

         Wir werden uns im Weiteren daran erinnern, wenn es um das Phänomen der Mentalität gehen wird. Vorerst formuliere ich die wichtigsten Schlussfolgerungen zum Thema dieses Vortrags.

DIE ZIELE UND DEREN QUELLEN Erstens: Alle Handlungen von Zellen und Insekten sind durch eingebaute Programme vorbestimmt, und das schließt die Zielsetzungen, die „Mechanismen“ und die Vorgehensweise der Wahl von Wegen und Mitteln aus, diese Ziele zu erreichen. Im Unterschied dazu wird das Verhalten eines Menschen hauptsächlich (mit Ausnahme einer Reihe der einfachsten Reflexe) durch die Ziele bestimmt, die er sich selbst setzt, also durch seine Bedürfnisse, seine Wertvorstellungen und den Charakter seiner Persönlichkeit. Die Zielsetzung hat als Voraussetzung eine entsprechende Psyche, das Selbstbewusstsein, das „Ego“ und speist sich aus diesen inneren Quellen.

JEDER IST SICH SELBST DER NÄCHSTE Daher zweitens: Die eingebauten Programme für Handlungen bei Zellen und Insekten setzen das Überleben der Gemeinschaften und nicht der Einzelwesen als Priorität dieser Handlungen; die Aufopferung im Interesse des Ganzen ist hierbei die Norm. Die Ziele der Menschen konzentrieren sich dagegen naturgemäß vor allem auf die Sicherung ihres individuellen Wohlergehens. Die Interessen der Gemeinschaft treten bei uns in den Hintergrund, im Vordergrund steht die persönliche Prosperität.

         Selbstverständlich kann eine entsprechende Erziehung bei einzelnen Individuen Wertvorstellungen herausbilden, die den Dienst an der Gesellschaft zum Hauptprinzip machen, aber das Potenzial einer solchen Erziehung ist sehr beschränkt: Einerseits dadurch, dass meistens nur genetisch veranlagte Altruisten suggestiver Beeinflussung zugänglich sind (und es gibt sowohl bei den Menschen, als auch bei den Tieren nur ganz wenige solcher Individuen, 3 – 5 %), andererseits weil das Ergebnis jeder Erziehung nicht nur und nicht in erster Linie davon abhängt, was engagierte Erzieher den zu Erziehenden beibringen, sondern vor allem davon, inwieweit dieser Inhalt den Realitäten des jeweiligen Lebens entspricht. Und diese Realitäten widerspiegeln und stimulieren leider oft (um nicht zu sagen immer) ein keineswegs altruistisches Benehmen.

         Im Ergebnis lässt sich die überwiegende Mehrheit der Menschen in ihren Handlungen nicht durch hohe Ideale leiten (selbst wenn die Gesellschaft sich bemüht, diese verstärkt zu propagieren, was gar nicht unbedingt der Fall ist), sondern durch primitive physiologische und sozial-psychische Bedürfnisse, die für das erfolgreiche persönliche Überleben wichtig sind. Das Benehmen eines durchschnittlichen Menschen ist vor allem darauf gerichtet, sein persönliches Wohlergehen zu sichern. Die Sorge eines Individuums für die Gesellschaft und die Ausführung seiner funktionalen Verpflichtungen sind nur in dem Maße vorhanden, in dem sie nötig sind, um das genannte Wohlergehen zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Um I. Kants Worte neu zu formulieren, die Gesellschaft wird durch die Masse ihrer Mitglieder nicht als das ZIEL, sondern als ein Mittel angesehen, ihre persönlichen egoistischen Ziele zu erreichen. Dabei geht es nicht um eine Metapher, sondern um eine durchaus buchstäbliche Beschreibung der Situation.

DIE ORDNUNG BEI DEN INSEKTEN UND ZELLEN Die o.g. Besonderheiten des menschlichen Verhaltens führen dazu, dass die Ordnung in menschlichen Gemeinschaften einen grundsätzlich anderen Charakter trägt als bei Insekten und Zellen (obwohl auch sie einander in dieser Hinsicht nicht in allen Punkten ähnlich sind). Bei den Insekten und Zellen ist alles programmiert und „automatisiert“, begonnen bei der ursprünglichen Verteilung der Rollen (d.h. die Zuteilung von bestimmten „Berufen“ an einzelne Zellen) bis zu deren Ausführung (die Erfüllung von naturbedingten Pflichten durch die Einzelwesen). Daher wird auch die Ordnung in ihren Gemeinschaften „im Selbststeuerflug“ realisiert, allein durch die Tatsache, dass jedes Zahnrad dieses Mechanismus „automatisch“ einen bestimmten Platz einnimmt und sich so dreht, wie es soll; niemand von außen zwingt es dazu; alles wird durch seinen eigenen Aufbau bestimmt, der entweder angeboren ist oder den sich „das Zahnrad“ im Laufe der Spezialisierung angeeignet hat.

Das heißt andererseits, dass die Herstellung von Ordnung in diesen Gemeinschaften nicht als eine besondere Funktion gesehen wird und daher keine Sache von Spezialisten ist. Die Ordnung ist hier schon auf dem Niveau der einfachen Elemente in die Systeme eingebaut und existiert nicht als etwas Separates bzw. als etwas, was diesen gegen ihren Willen (den es natürlich gar nicht gibt) aufgezwungen wird. Das ist offensichtlich so bei den Gemeinschaften von Ameisen, Bienen und Protozoen. Im Falle hochentwickelter Organismen ist die Sache komplizierter. Sie bestehen aus Milliarden von Zellen und es ist erforderlich, das Handeln von zahlreichen unterschiedlichen Organen zu koordinieren. Außerdem verfügen sie über ein entwickeltes Großhirn („Steuermechanismus“). Aber auch in diesem Falle steuert das Hirn nicht so sehr das innere Funktionieren des Systems, sondern vielmehr sein äußeres Verhalten. Das innere Zusammenwirken von Zellen wird zumeist ebenfalls ganz von selbst realisiert, eben weil jede Zelle, einschließlich der Neuronen des Hirns selbst, „automatisch“, ohne eine nennenswerte Einwirkung des Bewusstseins und des Willens, ihre Sache tut.

Nun, und natürlich versucht kein normales („gesundes“) Mitglied solcher Gemeinschaften (Krebszellen sind ein Sonderfall), die Decke an sich zu ziehen; im Prinzip kann es gar nicht anders.

DIE ORDNUNG BEI DEN MENSCHEN Bei den Menschen ist das anders. Wir sind viel losere Schrauben. Wir sind nicht biologisch programmiert, weder bei der Erlangung einer speziellen Funktion, noch bei deren Umsetzung. Dementsprechend gibt es in den menschlichen Gemeinschaften auch keine integrierte Ordnung, die „automatisch“ realisiert wird. Ohne Ordnung geht es aber nicht, denn dann gibt es auch keine Gesellschaft.

         Deshalb muss diese notwendige Ordnung, die sich jedoch aus dem internen Aufbau der Elemente nicht ergibt, auf eine andere Art und Weise herbeigeführt werden. Wie? Hier ist nur ein Verfahren möglich, das durch Folgendes gekennzeichnet ist:

a)   Genauso wie das menschliche Verhalten überhaupt wird die Ordnung durch den Willen der Menschen bestimmt, die sie festlegen und ausführen, daher kann sie eine unterschiedliche Erscheinungsform haben - wenn sie nur überhaupt eine Ordnung ist.

b)   Das Verfahren muss sich auf besondere Funktionsträger stützen, die sich eben auf die Aufrechterhaltung der Ordnung oder, mit anderen Worten, auf die Verwaltung der Gesellschaft spezialisieren; hierbei wird also zwangsläufig eine entsprechende Funktionsschicht gebildet und mit einigen Instrumenten des Ordnungszwangs ausgestattet (weil man ohne Zwang des Öfteren nicht auskommen kann).

c)   Es muss gewisse „Spielregeln“ geben, die für die Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft obligatorisch sind und die durch die genannten Verwalter mit ihren Instrumenten verwirklicht werden; diese „Spielregeln“ werden entweder durch die gesamte Gesellschaft oder durch den Teil festgelegt, der dazu bevollmächtigt wird oder sich dieses Recht anmaßt.

DER CHARAKTER DES ÜBERBAUS Da das Verhalten der Menschen nicht programmiert ist, unterscheiden sich menschliche Gesellschaften von den Gemeinschaften der Insekten und der einfachen Organismen durch folgendes:

(1) Sie erfordern eine spezielle Verwaltungsfunktion und eine besondere Schicht von Menschen, die diese ausführen. Das ist eine sehr eigenartige Erweiterung der Funktionsstruktur, weil die Verwalter sich aufgrund ihrer Tätigkeit nicht gleichberechtigt mit allen in der einträchtigen Familie der sonstigen Funktionsträger positionieren, sondern vielmehr über ihnen, als ihre Leiter. Ähnlich (2) sieht auch die über der Gesellschaft stehende und deren Funktionieren regelnde Ordnung aus, die durch Verwalter überwacht wird, d.h. die Einhaltung ihrer „Spielregeln“, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass (3) die Einführung dieser Ordnung selbst keine „automatische“ Erscheinung, sondern sozusagen, ein „Akt des guten Willens“ von den Mitgliedern der Gesellschaft ist. Das ist nicht ursprünglich in den „Mechanismus“ der Gesellschaft eingebaut, sondern wird über deren Grundstrukturen als notwendige Ergänzung dazu aufgebaut.

Gleichzeitig trägt der o.g. Überbau in seiner allgemeinen Form noch einen normalen, funktionalen Charakter. Es gibt hierbei nach wie vor nur eine besondere Funktion, also Menschen, die diese Funktion ausführen und sonst nichts weiter. Genauso ist die von ihnen gesicherte abstrakte Ordnung die öffentliche Ordnung überhaupt, ohne dass dabei funktionale Rahmen überschritten werden. Etwas Neues wird in diese traditionelle Konstellation nicht durch die Tatsache gebracht, dass das menschliche Verhalten nicht programmiert ist, sondern durch die sich daraus ergebende egoistische Orientierung, d.h. die Zielrichtung eines jeden von uns, vor allem sein persönliches Wohlbefinden zu erlangen.

2. Der Stammbaum der Sonderordnung

DIE GESELLSCHAFT ALS MITTEL Dort, wo es Ziele gibt, geht es natürlich unvermeidlich auch um die Mittel und Wege, sie zu erreichen. Bei der Gesellschaft ist das auch der Fall. Die Kooperation der Menschen, die diese schafft, ist, wie oben erwähnt, der wichtigste Weg ihres Kampfes für den artgemäßen und individuellen Wohlstand. Die sich im Rahmen dieser Kooperation entwickelnde Spezialisierung der menschlichen Arbeit sorgt für einen konstanten und steilen Anstieg der Produktivität und Effizienz und damit für die entsprechende Erhöhung der von den Mitgliedern dieser Genossenschaft produzierten und verbrauchten Güter. Ich verstehe darunter natürlich vor allem die materiellen Güter in ihrer ganzen Vielfalt, aber nicht nur diese, sondern schlechthin alles, was unsere Bedürfnisse – gleich welcher Art - befriedigt und dabei ein „Produkt" der Gesellschaft ist, z.B. Sicherheit, Ruhm, Ehre und ähnliche Werte. Daher liegt die Verbesserung des genannten Mittels (der Art und Weise, sich an die Umwelt anzupassen) im Interesse jedes einzelnen Menschen.

DIE BEDEUTUNG DER VERTEILUNG Zugleich ist dies nur ganz allgemein der Fall, wenn man die Gesellschaft aus einer sehr großen Höhe betrachtet. Allerdings, wenn man sich nähert, treten auch andere Details hervor. Genauer gesagt wird sichtbar, dass das persönliche Wohlbefinden der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft nicht nur und nicht so sehr durch das Gesamtvolumen der produzierten Güter bestimmt wird, sondern vielmehr durch die Art und Weise ihrer Verteilung. Nur bei der egalitären (oder fairen, je nach dem Beitrag) Verteilung erhält jeder umso mehr, je größer der „Gesamtkuchen“ ist (bzw. entsprechend der Wichtigkeit der ausgeführten Funktion und der Quantität und Qualität der Arbeit). In allen anderen Fällen hängt die Größe des Kuchenstücks, das eine konkrete Person erhält, viel mehr von ihrem Platz im bestehenden Verteilungssystem ab (d.h. davon, wie dieses System Wasser auf seine Mühlen leitet), als von der Gesamtgröße des Kuchens (bzw. vom persönlichen Beitrag bei dessen Ausbacken).

Daher ist ein durchschnittlicher Mensch (um sein Wohlbefinden zu sichern) natürlich weniger darum besorgt, die gesellschaftliche Kooperation zu verbessern und das Volumen der gemeinsam produzierten Güter zu steigern, sondern vielmehr ein warmes Plätzchen im System der Verteilung zu erlangen. Mehr noch, er strebt aktiv danach, dieses System selbst an seinen privaten Bedarf anzupassen. Letzten Endes läuft es (ähnlich wie bei Hobbes) auf einen Bürgerkrieg aller gegen alle für das persönliche „Glück" hinaus, d.h. für eine solche Aufteilung des gesellschaftlichen Reichtums, die eben dieser konkreten Person den größtmöglichen Nutzen bringt. Leider herrscht in den menschlichen Gemeinschaften nicht nur die Zusammenarbeit (wie bei den Insekten und Zellen im Körper), sondern auch ein „rein menschlicher" Kampf gegeneinander für den besten Platz an den Fleischtöpfen, wobei versucht wird, sich auf Kosten aller anderen so viele Früchte der allgemeinen Kooperation wie möglich unter den Nagel zu reißen.

EIN MANN ALLEIN KANN DAS FELD NICHT BEHAUPTEN Aber wenn jeder gegen jeden kämpft, hat keiner Aussicht auf Erfolg (wenn man eine stabile Fixierung der gewünschten Privilegien anstrebt). Eine beliebige (und umso mehr ungerechte) Ordnung kann nur mit Gewalt etabliert werden. Aber um in der Lage zu sein, einer Gemeinschaft das nur für eine Person vorteilhafte Verteilungssystem aufzuzwingen, reicht es nicht aus, selbst am kräftigsten von allen zu sein; man muss stärker als die ganze Gemeinschaft sein. Wenn sie allerdings groß genug ist, geht das über die Kräfte einer einzelnen Person.

Also ist es notwendig, Komplizen zu suchen, um dieses Ziel zu erreichen, d.h. sich so oder so zu gruppieren, um vereinzelte Kräfte zu einem Faustschlag zusammenzufassen. Nur ein starker (vor allem im physischen Sinne) Teil der Gesellschaft, der eine besondere Gruppe bildet, ist in der Lage, den berechtigten Widerstand aller anderen Mitglieder dieser Gesellschaft zu brechen und ihnen eine Raubordnung der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums aufzuzwingen. Mit anderen Worten kann die Gewaltdominanz in der Gesellschaft als eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung der ungerechten Ordnung keinen individuellen, sondern nur einen Gruppencharakter haben. Dabei ist eine Vorgruppierung notwendig. Wie nun kommt diese zustande?

„VERUNTREUUNG" Wie kommt es dazu, dass Gruppen gebildet werden, die sich zum Ziel setzen, die Gesellschaft zu unterwerfen und auszubeuten? Formal gibt es zwei Möglichkeiten, eine, sozusagen, natürliche und eine künstliche.

         Im ersten Fall ist gemeint, dass die Gruppierung ohne Rücksicht auf das genannte Ziel, aus eigentlich anderen Gründen stattfindet, unabhängig vom Ziel und noch bevor dieses Ziel formuliert wird (also Gruppen, die nicht per se auf Raub aus sind). Ich meine damit Fälle, wenn Gruppen im Voraus gebildet werden und sich erst später das o.g. Ziel setzen.

         Zum Beispiel erschienen die Ärzte in der Gesellschaft nicht, um gemeinsam die Patienten (und, mehr noch, alle Nicht-Ärzte) zu berauben; es gab definitiv einen anderen Grund für die Herausbildung dieser Funktionsschicht. Darüber hinaus sind diese Spezialisten nicht nur aufgetaucht, sondern sie existieren überhaupt als Gruppe, ohne ein gemeinsames Ziel zu haben, das sie zu einer zusammenhängenden Gruppierung vereinigen würde. Jeder Arzt meistert seine Kunst und heilt für sich allein, getrennt von seinen Kollegen. Sie gehören zu einer besonderen Gruppe nur aus dem Grunde, dass sie alle dasselbe tun (sie sagen zu uns „Nicht einatmen!" und gehen in einen Nebenraum, um dort Tee zu trinken).

         Also, ich wiederhole, diese Berufsgruppe wird unabhängig von dem Ziel gebildet, die Gesellschaft zu unterwerfen und auszuplündern. Wenn sie allerdings da ist, was kann dann ihre Vertreter daran hindern, von dem „Ideal" inspiriert zu werden und zueinander zu sagen: „Wir sind von einem Blut, du und ich"[9], ihre Skalpelle zu enthüllen und zusammen für die wunderschöne neue Welt zu kämpfen, in der die öffentliche Ordnung ausschließlich die Mediziner und Chiropraktiker begünstigt (nennen wir dieses Regime „Hippokratie“[10])?

         Natürlich ist das ein scherzhaftes Beispiel. Hierbei ist das Prinzip, also die Klärung der Tatsache wichtig, dass Menschen eigentlich aus vielen verschiedenen Gründen und dabei in der Regel ganz natürlich in Gruppen geteilt werden, also überhaupt nicht, um gemeinsam irgendwelche Ziele zu erreichen (als ein Gruppenbildungsfaktor und -merkmal). Und eben das schafft zunächst den Boden für die weitere Konsolidierung der Mitglieder dieser Gruppen (und für die Abgrenzung von den anderen Gruppen), wenn eine solche Konsolidierung (und Abgrenzung) plötzlich gefragt oder wünschenswert wird (insbesondere, um nun bestimmte Ziele zu erreichen, die für alle Mitglieder dieser Gruppe von Interesse sind). Gruppen werden in gesellschaftlichen Prozessen nicht entsprechend den gesetzten Zielen geschaffen, sondern in dem Material gefunden, das bereits gebildet vorgefunden und angeboten wird.

DER „ALGORITHMUS" DES PROZESSES Der „Algorithmus" hierbei ist im Grunde so:

        Zuerst wird auf eine natürliche Art und Weise (d.h. aus bestimmten individuellen Gründen) eine Gruppe von Menschen gebildet, die eine spezifische Ausrichtung, z.B. eine besondere Funktionsstellung in der Gesellschaft, hat. Dabei träumt jedes einzelne der Mitglieder (die im Übrigen normale Menschen sind) davon, alle anderen zu verdrängen und sich dann richtig auszustrecken.

         Dieser normale Mensch überlegt sich mit Muße, wie er am besten seinen sehnlichsten Wunsch realisieren könnte, und kommt früher oder später zu dem Schluss, dass der beste Weg dazu darin besteht, eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung zu etablieren, bei der er bevorzugt wird. Aber was bedeutet das? Was beinhaltet eine solche Anpassung der Ordnung an eine konkrete Person? Eine ausschließliche Orientierung auf ihre individuellen Besonderheiten? Keinesfalls. Sie machen ja nur einen kleinen und bei weitem nicht den wichtigsten Teil ihres Wesens aus.

         Jeder Mensch ist nicht nur ein konkreter Wassily Iwanowitsch mit seinen persönlichen Interessen und Marotten. In weit größerem Maße ist er, in Bezug auf die ihm eigenen Bedürfnisse und Besonderheiten a) ein Mensch überhaupt, b) das Mitglied einer konkreten Gesellschaft, c) das Mitglied einer Gruppe innerhalb dieser Gesellschaft (und sogar vieler Gruppen, die aus verschiedenen Gründen gebildet werden), d) das Mitglied einer bestimmten Untergruppe der genannten Gruppe usw., - genauso wie jedes biologische Einzelwesen nicht nur und nicht in erster Linie einzigartig als solches, sondern ein Vertreter einer Art, Gattung, Familie, Klasse etc. ist.

Daher ist jede Ordnung, die (hypothetisch) auf einen konkreten Menschen abgestimmt ist, unweigerlich mehrschichtig. Vor allem sollte sie für diese Person als einem Menschen überhaupt von Vorteil sein und damit den Interessen aller Menschen entsprechen; dann, in einer etwas konkreteren Hinsicht, sollte die o.g. Ordnung auf diese Person als Mitglied einer konkreten Gesellschaft abgestimmt sein und in dieser Hinsicht den Interessen aller ihrer Mitglieder entsprechen; weiterhin sollte die o.g. Ordnung für Wassily Iwanowitsch als Mitglied einer bestimmten Gruppe von Vorteil sein und dementsprechend den Balsam auf die Seelen aller Mitglieder dieser Gruppe gießen; und dann natürlich muss sich das Gleiche auf Untergruppen, Unteruntergruppen usw. beziehen. Nur auf der letzten „Treppenstufe“, in einer relativ begrenzten Anzahl von Fällen, ist die genannte Ordnung ausschließlich für Wassily Iwanowitsch von Vorteil, und sonst für niemand. Jeder Mensch stellt sich die ihm geeignet erscheinende Ordnung genau in dieser „mehrstöckigen“ Form vor. Anders ist es ihm nicht möglich.

Aber das heißt dann, dass der Kampf jedes einzelnen Individuums für „seine" Ordnung objektiv ein Kampf nicht nur (und nicht so sehr) für seinen persönlichen Vorteil, sondern auch für die Interessen seiner Untergruppe, Gruppe und sogar der Gesellschaft als Ganzes ist (wenn damit der Kampf nicht für eine Sonderordnung, sondern gegen das Chaos und die Anarchie überhaupt gemeint ist). In der Praxis lässt sich leicht herausfinden, dass für bestimmte, immer allgemeinere Bestandteile (Normen) der Ordnung folgende Personen solidarisch eintreten:

a)   alle (wohlgemerkt: adäquate) Mitglieder der Untergruppe des Individuums,

b)   alle Mitglieder seiner Gruppe

c)   alle Mitglieder der jeweiligen Gesellschaft,

d)   alle Mitglieder einer bestimmten Gruppe der Gesellschaften und schließlich

e)   alle Menschen überhaupt (auch wenn die globale Ordnung bisher äußerst amorph ist).

         Allerdings ist für uns nur die Gruppensolidarität wichtig, weil uns, ich erinnere Sie daran, nur der Kampf für eine besondere gesellschaftliche Raubordnung interessiert, der auf den Niveaus „b", „c" und „d" fehlt und auf dem Niveau „a" erfolglos ist. Genauer gesagt, erscheint diese Solidarität „automatisch", objektiv, sobald die Individuen beginnen, für ihre eigenen Vorteile zu kämpfen, unabhängig davon, ob die Mitglieder einer Gruppe die Gemeinsamkeit ihrer Interessen erkennen. Auch wenn sie völlig getrennt, jeder für sich handeln, treffen ihre Bemühungen in starkem Maße immer noch ins Schwarze, also sie sind in diesem Fall darauf gerichtet, eine Ordnung zu schaffen, die für sie als Mitglieder einer besonderen Gruppe (und nicht als einzigartige Einzelpersonen) von Vorteil ist. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit eines Triumphes der genannten Ordnung umso höher, desto stärker diese Gruppe ist. (Im gleichen Maße, wie die Mitglieder der Gruppe nur ihre egoistischen Interessen verfolgen, „löschen“ sich ihre Handlungen gegenseitig aus und haben ein Null-Ergebnis; alle Versuche, die gesellschaftliche Ordnung zu individualisieren, werden auf natürliche Art und Weise eliminiert).

         Schließlich kommt es manchmal auch vor (als Maximalprogramm), dass die Mitglieder einer Gruppe die Gemeinsamkeit ihrer Interessen erkennen und sich organisieren, um diese zu sichern, was natürlich das Leistungspotenzial der Gruppe drastisch steigert und ihre Erfolgschancen erhöht. (Um in marxistischer Sprache zu sprechen, es findet dabei nichts anderes statt, als eine Umwandlung der Gruppe in sich in eine Gruppe für sich).

         Dies ist das Wesen von Prozessen

a)   der natürlichen Bildung von Gruppen,

b)   ihrer Teilnahme am Kampf um die Gruppenprivilegien und

c)   der endgültigen Etablierung der für die Sieger profitablen gesellschaftlichen Ordnung.

„DIE BANDITENVARIANTE“ Gleichzeitig könnte man versuchen, sich ein Schema vorzustellen, bei dem Gruppen nicht auf eine natürliche Art und Weise, sondern direkt und nur zu dem konkreten Zweck entstehen, ähnlich wie kriminelle Banden geschaffen werden. Ich meine damit, dass zunächst einander völlig fremde Leute, die zu keiner natürlichen Gruppe gehören, irgendwie zusammenkommen, sich verschwören, organisieren und eine „Palastrevolution“ veranstalten, die schließlich gekrönt wird mit der Etablierung der ihnen vorteilhaften gesellschaftlichen Ordnung.

         Erstens, obwohl Probieren über Studieren geht, kann man sich ein solches Verfahren in der Praxis kaum vorstellen. Es fällt einem sehr schwer, sich Leute zu denken, die keiner bestimmten Gemeinschaft angehören (wenn das überhaupt möglich ist). Selbst bei der Bildung von echten Banden finden sich deren Mitglieder fast nie zufällig zusammen (in dem genannten absoluten Sinne), sondern auf der Grundlage einer vorläufigen Identität ihrer Schicksale, Positionen, Charaktere, Werte u.a.m.

         Zweitens ist eine einfache Verschwörung nur bei einer begrenzten Anzahl von Personen möglich und somit nur in kleinen Gruppen wirksam. Aber selbst um über eine kleinere Gesellschaft Gewalt auszuüben, ist eine viel größere Gruppe notwendig, deren Bildung durch keine persönlichen Absprachen im Rahmen einer „Freimaurer"-Verschwörung gesichert werden kann. Hier braucht man schwerwiegendere Gründe.

         Da das eigentliche Ziel unserer „Bande" die Etablierung einer (wenn auch räuberischen) Ordnung ist, verwandelt schließlich drittens die Umsetzung dieses Zieles die ursprünglichen „Banditen" in diejenigen, die die Gesellschaft tatsächlich verwalten und vor den Forderungen anderer Räuber schützen (von denen gibt es immer mehr als genug). Sie führen also hierbei „per definitionem" die genannten gesellschaftlichen Funktionen aus, erlangen eine bestimmte öffentliche Position und verwandeln sich in eine besondere funktionale Gruppe. In diesem Zusammenhang wird die von ihnen unterstützte gesellschaftliche Ordnung zwangsläufig nicht auf die Interessen eines konkreten Wanja, Josja oder Achmed als Mitglieder dieser „Bande" (außerhalb ihrer Beziehung zur Gesellschaft) ausgerichtet, sondern eben auf ihren Vorteil als Verwalter und Krieger überhaupt. Die natürliche Gruppierung bestimmt die Situation, wenn nicht von Anfang an, dann post factum.

         Daher soll aus theoretischer Sicht nur die natürliche Variante behandelt werden.

3. Allgemeine Merkmale der besonderen Ordnungen

WIE DER HERRE, SO'S GESCHERRE[11] Ich betone einige wichtige Aspekte, die oben nur nebenbei angeschnitten worden sind. Erstens ist die für eine bestimmte Gruppe profitable Ordnung (die von ihr dementsprechend befürwortet wird) zwangsläufig eine bestimmte Ordnung mit ihren besonderen Spielregeln, Institutionen und ihrer Art sich zu bilden. Verschiedene Gruppen sichern auf unterschiedliche Weise den privilegierten Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum.

         Woher kommen diese Ordnungsunterschiede? Was bedingt sie? Vor allem (was ihren Inhalt anbetrifft) sind das die ursprünglichen Unterschiede zwischen den Gruppen selbst, die diese Ordnungen unterstützen. Die vorhandenen formgebenden Umstände spielen eine nebensächliche Rolle.

DAMIT ES EINE PFARREI GIBT, BRAUCHT MAN KEINE POPADJA, SONDERN EINEN POPEN[12] Umgekehrt sollen die Gruppen eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung gewährleisten. Die Gruppierung von Menschen erfolgt ja aus ganz verschiedenen Gründen (z.B. nach Geschlecht, Alter, aus ethnischen, konfessionellen, funktionalen Gründen), und bei weitem nicht jede Gruppe ist aufgrund ihrer qualitativen Natur imstande, diese Ordnung zu schaffen. Von denen, die dazu imstande sind, sind außerdem nicht alle ihrem Potential nach gleichwertig. Aber wir werden später genauer darauf eingehen.

DER VERALLGEMEINERUNGSCHARAKTER DER ORDNUNG Ich betone noch einmal den Verallgemeinerungscharakter der Ordnung, also die Tatsache, dass in ihr nur die Interessen von Personen widerspiegelt werden, die ihnen als Mitgliedern einer Gruppe und nicht als Individuen eigen sind. Wie zuvor angemerkt, erfolgt das (gemäß dem o.g. „Algorithmus“) bei einer natürlichen Bildung von Gruppen von selbst, nämlich durch das Addieren von gleichgerichteten sowie das „Tilgen“ von unterschiedlich gerichteten Handlungen. Allerdings haben wir es mit diesem Ergebnis auch in den Fällen zu tun, die teilweise der "Banditenvariante“ ähnlich sind, sowie immer dann, wenn der Grad der Bewusstheit und der Organisation des Kampfes einer Gruppe für eine bestimmte Ordnung recht hoch ist.

         Eine bewusste Integration und Koordinierung der Bemühungen ist nur in dem Maße möglich, in dem ihr Ziel gleich und für alle Teilnehmer des „Projekts" profitabel ist (wenn auch in unterschiedlichem Maße: die Ungleichheit ist hier kein Widerspruch). In unserem Falle ist das Ziel eine bestimmte Gesellschaftsordnung. Es ist einfach technisch nicht möglich, in ihren Regeln die Wünsche derjenigen Mitglieder dieser „Bande" zu berücksichtigen, die Privilegien ausschließlich für sich selbst beanspruchen, weil diese Ansprüche sich gegenseitig negieren. Die Ordnung kann hier auch nicht auf ein Individuum abgestimmt sein. Was würde sonst die anderen dazu motivieren, sich zu vereinigen und für diese Person zu kämpfen? Wer würde für die anderen die Kastanien aus dem Feuer holen? Daher kann das vereinigende Ideal nur einen verallgemeinerten Charakter tragen, also es kann die Interessen aller „Verschwörer" nur in dem Maße berücksichtigen, wie sie die Interessen der anderen Teilnehmer der „Verschwörung" nicht gefährden.

„DIE KRAFTSCHRANKE" Drittens: Die minimal erforderliche Größe der Gruppe wird von der Stärke bestimmt, die erforderlich ist, um den Rest der Gemeinschaft zu unterdrücken.

         Es wurde bereits gesagt, dass eine Gruppe stärker als der Rest der Gesellschaft sein muss, um eine für sie vorteilhafte Gesellschaftsordnung zu schaffen. Aber was heißt „stärker“? Das wird durch verschiedene Faktoren bestimmt, u.a. durch die Gruppengröße. Dabei muss eine Gruppe desto größer sein, (a) je größer die zu erobernde Gesellschaft ist, (b) je unwichtiger andere Kraftfaktoren sind und (c) je weniger diese anderen Faktoren einer Gruppe zur Verfügung stehen. Im Ganzen darf die Gruppengröße, unter Berücksichtigung der genannten Faktoren, nicht kleiner als der Grenzwert sein, bei dem die Gruppenstärke die Stärke des Rests der Gesellschaft nicht mehr übersteigt. Eben diese „Kraftschranke" (oder, genauer gesagt, die Notwendigkeit ihrer Überwindung) definiert die unter bestimmten Bedingungen minimal erforderliche Gruppengröße.

DIE GRUPPENGRÖSSE UND DIE VERALLGEMEINERUNG Man könnte hinzufügen, dass manchmal auch der Verallgemeinerungsgrad einer entsprechenden Ordnung von der erforderlichen Gruppengröße abhängt. Dies geschieht, wenn eine stabile Einhaltung der genannten „Schranke" nicht durch das natürliche Wachstum der Gruppe unter Beibehaltung ihrer früheren Homogenität, sondern durch eine zwangsweise Einbeziehung von „fremden“ Menschen gesichert wird. Das ist notwendig, wenn die Gesellschaft schneller als die Gruppe wächst (oder anderweitig erstarkt).

         Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären. Man kennt aus der Geschichte  viele Situationen, in der eine Gruppe, die in der Gesellschaft herrscht, durch eine ganze Reihe von Merkmalen bestimmt wird, z.B. einerseits funktional (als Verwalter und Krieger), andererseits sozial (als der Erbadel) und drittens ethnisch (als Vertreter der bodenständigen Bevölkerung). Stellen wir uns nun vor, dass aus irgendeinem Grund (z.B. im Zusammenhang mit der Eroberung der benachbarten Territorien und Völker) die Anzahl der Untertanen dieser Gruppe plötzlich ansteigt. Dabei bleibt die Größe der Gruppe selbst nahezu unverändert (weil deren natürliches Wachstum nicht explosionsartig sein kann). Das erschwert die gewaltsame Aufrechterhaltung der Ordnung und schafft ein akutes Problem, nämlich entweder den gemeinen Mann der eigenen Nationalität oder eben adlige Ausländer in die „Elite" aufzunehmen. Der Ausbau der Gruppe aufgrund der Aufnahme von Nicht-Verwaltern und Nicht-Kriegern kommt natürlich wegen der Sinnlosigkeit einer solchen Operation nicht in Frage: das Problem besteht ja eben darin, dass es an Leuten fehlt, die genau diese Funktion, die Stützung einer beliebigen gewalttätigen Ordnung, ausführen. In der Regel wird in einer solchen Situation die zweite Option gewählt (die Bürokratie aller Zeiten schätzt den Status viel mehr als die ethnische Zugehörigkeit), aber für uns ist es wichtig, dass die herrschende Gruppe im Ergebnis so oder so ihre Gestalt zugunsten einer weniger konkreten Form ändert, welche Option auch immer gewählt wird: Eines der Merkmale, die sie früher charakterisierte, wird zwangsläufig beseitigt. Gleichzeitig ändert sich (ebenso zugunsten der Verallgemeinerung) auch der Charakter der durch sie geschützten Ordnung, wenigstens in Bezug auf die Prinzipien der Bildung des entsprechenden Staatsapparats (die Auswahl des Personals nach bestimmten Merkmalen ist ja eines dieser Prinzipien).

4. Die Bereiche der Ordnung

DIE VERTEILUNG DES REICHTUMS Gehen wir nun auf die strukturellen Aspekte ein, die allen Sonderordnungen eigen sind. Ich beginne mit den (natürlich nur den wichtigsten) grundlegenden Bereichen.

         Erinnern wir uns zuerst, warum in der Gesellschaft das geschieht, was von mir beschrieben wird. Das ursprüngliche Ziel der Schaffung einer beliebigen Sonderordnung besteht darin, eine systematische, ungerechte (d.h. privilegierte) Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu gewährleisten. Daher muss eben diese Verteilung selbst der erste grundlegende Bereich sein. Vor allem sie wird auf eine bestimmte Weise geregelt.

         Dabei hängt (wie bereits erwähnt) die Art und Weise der genannten Verteilung mit dem Charakter der Begünstigten zusammen (allerdings nicht nur damit, aber das ist hierbei unwichtig). Sie kann daher ganz verschieden sein, vom primitivsten Raub bis zu den viel anspruchsvolleren „vierhundert relativ ehrlichen Methoden, Geld zu entwenden"[13]. Die Verfahrensweise und der „Algorithmus" des Raubs hängen von der Natur der Räuber ab. In einigen Fällen kommen sie mit Feuer und Schwert, berauben ihre „Nächsten" und schütteln sie regelrecht aus der Hose. In anderen Fällen trudeln sie mit der Geldbörse eines Geldverleihers oder mit dem Kapital des Arbeitgebers ein und stöbern in den Taschen der Umstehenden mittels der cleveren marktwirtschaftlichen Methoden der Umverteilung des Reichtums.

         Dementsprechend wird bei der ersten Variante in den Ordnungsregeln ausdrücklich ein bevorzugter Zugang der dominierenden Gruppe zu den „Kornkästen der Heimat" festgelegt, d.h. deren Mitgliedern wird das Recht eingeräumt, die Mitglieder der anderen Gruppen auszubeuten. Bei der zweiten Variante schützen diese Ordnungsregeln bereits viel abstraktere und unpersönlichere Freiheiten der Marktwirtschaft, die Institution des Privateigentums usw. Daher sieht die letztere (angeblich rein ökonomische) Ordnung viel ansehnlicher als die erstere (offenkundig gewalttätige) Ordnung aus. Die „marktwirtschaftliche“ Ordnung ähnelt äußerlich gar nicht einem Raubsystem, -  obwohl sie genauso wie eine offenkundige Raubordnung funktioniert. (Ich möchte hinzufügen, dass in bestimmten schwierigen Übergangszeiten beide o.g. Optionen mehr oder weniger friedlich koexistieren und sogar kooperieren können; ein anschauliches Beispiel dafür ist die Situation im heutigen Russland).

DIE BEHAUPTUNG DER DOMINANTEN POSITION Jedoch geht es nicht nur um die Verteilung des Reichtums. Damit jede ungerechte Gesellschaftsordnung nachhaltig existieren kann, müssen deren Anhänger ebenso nachhaltig dominieren, zur Not mit Gewalt. Wodurch wird das gesichert? Dadurch, dass die Gesellschaftsgruppen nicht gleichermaßen solche Kraftfaktoren besitzen wie die Kopfstärke, Bewaffnung, Kampf- und Verwaltungsschulung, Bereitschaft zu gemeinsamen Aktionen (d.h. Organisationsgrad, Diszipliniertheit und Geschlossenheit) sowie die ihnen zur Verfügung stehenden wirtschaftlichen Ressourcen, ihre Kenntnisse und den Zugang zu technischen und sonstigen Mitteln der Massenbeeinflussung von Menschen. (Dabei muss man nicht unbedingt in jeder Hinsicht besser als die Konkurrenten sein, um in der Gesellschaft zu dominieren, es reicht, „in der Gesamtwertung“ zu gewinnen).

         Daher ist die zweite grundlegende und regelungspflichtige Sphäre des gesellschaftlichen Lebens die Verteilung der o.g. Kraftfaktoren. Dabei ist sie hier nur gemäß der Reihenfolge der Behandlung sowie in dem Sinne die „zweite", dass ein Mittel, das Ziel zu erreichen, in Bezug auf das Ziel selbst sekundär ist. Wenn man allerdings die Bedeutung dieser Sphäre als Kriterium nimmt, dann sollte sie zur wichtigsten erklärt werden. Ohne eine Ordnung, die die kraftmäßige Überlegenheit einer Gruppe sichert, kann sie nicht stabil dominieren, und ohne dies würde unweigerlich das ganze System der ungerechten Verteilung des Reichtums zusammenbrechen.

         Was stellt denn diese „Ordnung“ dar, die die Machtverteilung zugunsten bestimmter Gruppen regelt? Sinngemäß kann sie natürlich grob darauf reduziert werden, so viele wie möglich der o.g. (und nicht genannten) Kraftfaktoren zusammenzuraffen (bis hin zu deren vollständiger Monopolisierung), ausgehend von deren Präsenz und deren Gewicht in dieser oder jener Epoche. Der Form nach kann diese Ordnung sowohl einfach als auch komplex sein, abhängig einerseits wiederum vom Charakter der Gruppen, die die jeweilige Ordnung herstellen, aber andererseits auch von der Natur und vom Entwicklungsgrad der Machtinstrumente selbst (sowie von den Bedingungen, unter denen sich das abspielt).

         Lassen Sie mich das an einem einfachen Beispiel erklären. Zu allen Zeiten waren und sind Waffen und Streitkräfte die wichtigsten Kraftfaktoren. Deshalb ist es klar, dass in der Frühgeschichte eben oft bewaffnete Personen (Fürsten und ihr Kriegsgefolge, Dienstadel u.a.) als eine dominante Gesellschaftsgruppe auftraten. Ihre Dominanz wurde ganz von selbst, durch ihren unverletzlichen Berufsstatus gewährleistet. Daher wurde die ganze Regelung unserer „zweiten" Sphäre lediglich auf die Sicherung einer klaren internen Organisation und Kampfschulung der Mitglieder dieser Gruppe sowie auf die Begrenzung des Zugangs des gemeinen Mannes zu den Waffen reduziert (Waffenführungsverbot usw.)

         Später wurde allerdings die aus Rekruten bestehende Berufsarmee zur Hauptstreitmacht. Eine zentrale Bedeutung gewann dabei die Monopolisierung der Befugnis, das Offizierskorps und die Generalität zu bilden. Dieses Recht rissen sich denn auch allerlei Zaren, Kaiser, Generalsekretäre und sonstige Oberbefehlshaber, Führer und „Väter der Völker"[14] unter den Nagel. Wenn schließlich diese Befugnis mit dem Sieg der Demokratie (oder sogar bei deren rein dekorativer Einführung, die gerade durch die o.g. besonderen Bedingungen nötig wurde) an die gewählten Gremien (oder einzelnen Beamten wie den Präsidenten) delegiert wurde, erwies sich die Gewährleistung (durch die Verabschiedung entsprechender Gesetze) einer solchen Wahlordnung als das Wichtigste, bei der sich alle Karten (oder zumindest alle Trümpfe) in den Händen der Mitglieder einer bestimmen Gruppe befanden.

       Ich möchte betonen, dass dies nicht nur bei der Kontrolle der Streitkräfte der Fall ist. Jeder einzelne Kraftfaktor (a) gemäß seiner eigenen Entwicklung, (b) entsprechend dem Charakter der Gruppe, die sich das Recht darauf anmaßt, (c) unter konkreten Bedingungen dieser oder jener Gesellschaft und sogar (d) unter äußeren Bedingungen der Existenz dieser Gesellschaft (die durch die umgebenden sozialen Gebilde beeinflusst wird), - jeder dieser Faktoren erfordert unter den o.g. besonderen Umständen ein unkonventionelles Herangehen, also eine besondere Ordnung in der entsprechenden Sphäre. Dabei wird jedoch bei all diesen Ordnungen dasselbe Ziel verfolgt: Die Kraftfaktoren durch eine Gruppe zu monopolisieren und damit deren stabile kraftmäßige Vorherrschaft in der Gesellschaft zu sichern.

DIE STÄRKE UND DIE MACHT Die Grundlage jeder Gesellschaftsordnung ist also vor allem die Stärke. Nur die kraftmäßige Vorherrschaft ermöglicht einer bestimmten Gruppe, alle anderen Mitglieder der Gesellschaft ihrem Willen nachhaltig zu unterwerfen und sie zu zwingen, nachteilige „Spieleregeln“ zu erfüllen.  Die Fähigkeit, andere zu zwingen, im Widerspruch zu deren eigenen Interessen zu handeln, heißt Macht.

Daraus folgt: (1) Die kraftmäßige Dominanz (oder, um mit Mao Zedong zu sprechen, „das Gewehr“) garantiert die Macht, (2) Der Kampf um ihren Erhalt, also für die Einführung und Umsetzung einer entsprechenden Ordnung bei der Verteilung der Kraftfaktoren, heißt Machtkampf, (3) Die genannte Ordnung selbst ist ein bestimmtes Machtsystem und (4) Die bei dieser Ordnung erklärten Rechte der dominanten Gruppe oder bestimmter einzelner Mitglieder davon, ihren Willen durchzusetzen, heißen Machtbefugnisse.

DIE MACHT UND DEREN BEFUGNISSE Der letzte Punkt erfordert jedoch weitere Erläuterungen. Machtbesitz wird oft zu direkt mit den formal festgelegten Rechten und Befugnissen gleichgestellt. Das ist ein Fehler. Nicht die Befugnisse selbst sichern die Macht, sofern sie nicht durch eine reale Stärke der jeweiligen Machtinhaber bekräftigt werden. Die formale Seite der Dinge (die beispielsweise in der Verfassung und anderen Gesetzen, ob geschrieben oder nicht, widerspiegelt wird), hat natürlich auch eine bestimmte Bedeutung, aber das Wichtigste ist die wirkliche Verteilung von Kraftfaktoren. Kein Gesetz kann die objektive Gegebenheit aufheben, dass Soldaten - ausgehend von der Natur ihres Berufs - gemeinschaftlich, bewaffnet und kriegerisch sind und Bauern einzeln, unbewaffnet und als schlechte Krieger auftreten.

Ich wiederhole: Die oberste Priorität bei der Machtfrage haben nicht die verkündeten Rechte und Befugnisse („Freiheiten") bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, sondern die Tatsache, dass diese Gruppen wirklich die wichtigsten Kraftfaktoren besitzen, also die tatsächliche Fähigkeit, dem Rest der Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen – egal ob man auf die Gesetze pfeift oder sich auf sie beruft. So z.B. waren bei den späten Merowingern (7. Jh.) die fränkischen Könige mit all ihren formalen Rechten nur ein Aushängeschild bei den Hausmeiern, die bei Hof und im ganzen Lande geschaltet und gewaltet haben. Oder, aus aktuellem Anlass: Die vorübergehende Übertragung des Präsidentenrechts von Putin an Medwedew vor kurzem, „Silowiki“[15] zu ernennen und zu entlassen, hat dem Letzteren nicht etwa die reale Macht gegeben. Um das zu erreichen, müssten zusätzlich Putins Schützlinge auf den jeweiligen Positionen durch die ihrem Führer persönlich treu ergebenen Mitglieder des Teams von Medwedew ersetzt werden. Und dafür hatte Medwedew weder die Zeit, noch die Entschlossenheit, noch die Unterstützung der Gesellschaft und des Staatsapparats.

Somit bieten die Machtbefugnisse zum einen die Möglichkeit, nicht alle, sondern nur einige Kraftfaktoren an sich zu ziehen. Sie genügen nicht notwendigerweise, um kraftmäßig zu dominieren. Zum anderen bieten sie nur die Möglichkeit, diese Faktoren an sich zu reißen. Um die Macht tatsächlich zu ergreifen, muss man außerdem in der Lage sein (und es auch schaffen), die Gelegenheit zu nutzen (solange die Befugnisse nicht zurückgenommen werden).

5. Andere Aspekte der Sonderordnungen

WEGE ZUR AUFRECHTERHALTUNG DER ORDNUNG Die beiden genannten Hauptbereiche der Gesellschaftsordnung sind genau die Bereiche, die geregelt werden. Es macht jedoch Sinn zu verstehen, wie das geschieht und wie diese oder jene Sonderordnung praktisch aufrechterhalten wird. Dabei werden folgende Teilfragen gestellt: Auf welche Weise? In welcher Form? Mit welchen Mitteln?

         An und für sich gibt es auf die erste Frage nur zwei Antworten, und dementsprechend werden zwei Herangehensweisen realisiert. Die erste ist die uns bereits bekannte Gewalt, über die oben schon genügend gesagt worden ist. Die zweite Art ist die Überzeugung, also eine entsprechende Erziehung von Menschen, denen die Vorstellung der „Heiligkeit“ der Herrscher und der Natürlichkeit der bestehenden Ordnung eingeschärft wird. Man trichtert ihnen Ideologien als „unbestreitbare“ Wahrheiten ein.

         Wenn das Verhalten von Menschen weitgehend durch den Inhalt ihrer Köpfe bestimmt wird, kommt man ja gar nicht umhin, die Gelegenheit zu nutzen und sich zu bemühen, diese Gefäße mit dem für die Herrscher wünschenswerten Inhalt zu füllen. Für die „Elite“ ist es ja viel angenehmer und effizienter, wenn die Untergebenen schuften und die Produkte ihrer Arbeit nicht zwangsweise abgeben, sondern freiwillig und mit freudigem Lächeln im Gesicht oder wenn sie sich zumindest damit abfinden, ausgebeutet zu werden, weil dieses Übel eben unvermeidlich und unausrottbar ist.

         Daher ist es nicht verwunderlich, dass die zweite Methode, neben der Gewalt, in der Weltgeschichte recht oft verwendet wird, und dabei desto häufiger, je stärker sich die technischen Mittel der Massenbeeinflussung von Menschen entwickeln.

NORMEN Wie diese beiden Methoden der Aufrechterhaltung der Ordnung werden auch ihre „Spielregeln“ in Rechts- und Moralnormen unterteilt. Dabei spielen die Rechtsnormen die Hauptrolle in diesem „Stück“; darauf vor allem werde ich kurz eingehen.

         Das Recht (d.h. die allen gut bekannten Gesetze, Vorschriften, Verordnungen, Stellenbeschreibungen und andere Verlautbarungen der Machtorgane) regelt das Verhalten der Menschen. Einerseits ist es wichtig, um die anhaltende Dominanz und die Privilegien der herrschenden Gruppe zu sichern und andererseits, um das reibungslose Funktionieren und die Existenz der Gesellschaft als Ganzes zu garantieren. Das Recht regelt den genannten Bereich, und die Ordnung wirkt eben in diesem Bereich: Darüber hinaus ist alles die Privatangelegenheit der Mitglieder der Gesellschaft, die entweder durch die Moral geregelt wird oder ganz und gar ungeregelt bleibt. Man sollte allerdings nicht glauben, dass die Moral nur unbedeutende Handlungen regelt: Natürlich greift sie auch auf das Wirkungsgebiet des Rechts über, einmal helfend, ein anderes Mal hemmend.

         Wegen der oben beschriebenen Bedeutung der Rechtsnormen kommt ihnen erstens ein Zwangscharakter zu, sie legen fest, was man tun darf, was nicht und was man tun soll, mit Schwerpunkt auf dem Letzteren. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Verbindlichkeit eines bestimmten Verhaltens zu sichern, und deswegen regeln sie (trotz ihrer Bezeichnung als „Recht“) insbesondere die Pflichten (was man nicht darf und was man soll). Die Abschweifung zu den Rechten (was man darf) ist hierbei nur dadurch bedingt, dass die Verpflichtungen der Einen oft die Rechte der Anderen sind, sowie dadurch, dass es bestimmte Ausnahmen von der Regel gibt.

         Zweitens (aus dem gleichen Grund) wird die Einhaltung der Rechtsnormen strikt mit Gewalt gesichert. Das Verbindliche ist eben deswegen verbindlich, weil es unter allen Umständen durchgesetzt wird, und der einzige zuverlässige Garant dafür ist Zwang. Genauer gesagt: Wenn bestimmte Anordnungen nicht erfüllt werden, wird das durch die speziell für diesen Zweck geschaffenen Straforgane mit aller Strenge des Gesetzes bestraft. Und hier gehen wir schon zum Thema „Mittel zur Einhaltung der Ordnung“ über.

MITTEL UND WERKZEUGE ZUR EINHALTUNG DER ORDNUNG Die Herstellung der Ordnung in der menschlichen Gesellschaft wird, wie oben erwähnt, durch eine spezielle Funktionsabteilung verwirklicht, deren Mitglieder mit Stolz den Namen „Verwalter“ tragen. Allerdings ist diese Gruppe (genauso wenig wie die Gruppe von Ärzten, die aus Urologen, Anästhesisten, Psychologen etc. besteht) keineswegs homogen. Die zunehmende Komplexität der von ihr gelösten Aufgaben (die durch die Entwicklung der Gesellschaft verursacht wird) erfordert einerseits, dass sie in Unterabteilungen aufgespalten wird, die sich auf die Verwaltung von bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens spezialisieren. Andererseits erfordert diese Komplexität, dass die Produktivität der Verwaltungsarbeit gesteigert wird, was vorrangig durch die Ausrüstung dieser Funktionäre mit entsprechenden Werkzeugen gesichert wird.

Außerdem ist es wichtig hinzuzufügen, dass sowohl diese speziellen Abteilungen, als auch alle Verwalter überhaupt (im Gegensatz zu Kinderärzten, Zahnärzten, Logopäden etc. sowie zu den Ärzten im Allgemeinen) keine vereinzelten, für sich existierenden Mengen von Fachleuten darstellen. Es handelt sich um klar und deutlich strukturierte, hierarchisch organisierte Gruppen – „Apparate“. Das ergibt sich aus ihrer Funktion. Erstens kann die Verwaltung als Prozess der Aufrechterhaltung von Ordnung nicht ohne Ordnung bei den Verwaltern selbst realisiert werden (ihre Organisierung ist also a priori erforderlich). Die Verwaltung kann inhaltlich darauf reduziert werden, Entscheidungen zu treffen, zu befehlen und die Erfüllung der Befehle durchzusetzen (wobei die Behörden in herrschende und untergebene geteilt werden). Deswegen muss die Verwaltung zweitens in ihrer Organisation Hierarchieprinzipien widerspiegeln (hierbei ist also eine hierarchische, „pyramidale“ Organisation oder, um den jetzt in Russland beliebten Ausdruck zu gebrauchen, die „Machtvertikale“ nötig). Daher wird jede Verwaltungsabteilung, die eine konkrete Managementaufgabe löst (sei es die Verwaltung der Gesellschaft als Ganzes oder einiger ihrer Teile) natürlicherweise immer als ein hierarchisch strukturierter Apparat aufgebaut.

So gibt es also folgende Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung: In konkreten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens spezialisierte Verwaltungsapparate und in der Gesellschaft als Ganzes einen Einheitsapparat; als Instrument dieser Apparate dient die Infrastruktur, die bei der Realisierung ihrer Funktionen verwendet wird.

DER STAAT Die angeführte allgemeine Regel gilt natürlich auch im Falle der ungerechten Gesellschaftsordnungen. Diese unterscheiden sich von anderen nur dadurch, dass für ihre Aufrechterhaltung eine größere Gewalt erforderlich ist, die nicht zu rechtfertigen ist (jede Verwaltung impliziert Gewalt; der Unterschied besteht allerdings in ihren Zielen und ihrem Umfang). Das heißt, dass eine hypertrophe Entwicklung der jeweiligen Apparate (mit ihren Instrumenten) erforderlich ist, die bei hypothetischen gerechten Gesellschaftsordnungen entweder gar nicht oder in einem viel geringeren Maße nötig ist (hinsichtlich der Zahlen, der Instrumente, etc.) So braucht man bei ungerechten Gesellschaftsordnungen (verglichen mit den gerechten) viel mehr innere Truppen, Straforgane aller Art, U-Haftanstalten und Gefängnisse; die Haftbedingungen und die Gerichtspraxis müssen härter sein usw. Andernfalls kann eine effektive Unterdrückung der Gesellschaft nicht gesichert werden.

Allerdings sind auch ungerechte Gesellschaftsordnungen in dieser Hinsicht nicht immer gleich; sie unterscheiden sich nach dem Grad ihrer Ungerechtigkeit und danach, inwieweit diese Ungerechtigkeit auffällig ist. Es ist klar, dass je anständiger die Gesellschaftsordnung an sich ist, je besser ihre ausbeuterische Natur verschleiert werden kann und je leichter diese ideologisch zu rechtfertigen ist, desto weniger Gewalt benötigt wird, um sie zu bewahren.

Für uns ist allerdings das Wichtigste, dass der Verwaltungsapparat in ungerechten Gesellschaftsordnungen gesetzmäßig eine besondere Qualität erhält. Er ist nicht nur ein Verwaltungs-, sondern auch ein Gewaltapparat (und zuweilen viel stärker das Letztere). Dieser spezifische Apparat hat einen besonderen Namen, „der Staat“ (in der Umgangssprache wird der Begriff natürlich auch als Synonym für das Wort „Land“ verwendet, aber in der Gesellschaftskunde wird so hauptsächlich ein besonderer, im oben genannten Sinne, Verwaltungsapparat bezeichnet).

DER SCHLUSSTRICH Am Ende dieses Kapitels bleibt folgendes festzustellen und hervorzuheben: Die Herausbildung von ungerechten Gesellschaftsordnungen bedeutet nicht mehr die Herausbildung von funktionalen Beziehungen der Menschen. Die Menschen werden nicht nach Funktionen, sondern als Herren und Untergebene, Ausbeuter und Ausgebeutete, Unterdrücker und Unterdrückte unterteilt. Ihr Zusammenwirken hat keinen Funktionscharakter mehr; es existiert keine Zusammenarbeit mehr, sondern Gewalt, die ein Teil der Gesellschaft gegenüber dem anderen ausübt. Hierbei handelt es sich um soziale Beziehungen und Interaktionen, und die beteiligten Parteien sind soziale Gruppen.

         Das heißt, dass in ungerechten Gesellschaftsordnungen neben der funktionalen Teilung der Gesellschaft (und über ihr) auch eine soziale entsteht.

Vortrag vier. DIE KLASSEN UND IHRE VERWANDTEN

1. Die Klassen und ihre Geschwister

        Oben wurden vor allem die Notwendigkeit und die allgemeinen Eigenschaften der Gesellschaftsordnungen behandelt, die durch bestimmte Gruppen zu deren Gunsten etabliert werden. Lassen Sie uns nun auf diese Gruppen selbst eingehen.

WAS SIND KLASSEN? Zunächst einmal: Was ist ihnen allen eigen, was sind ihre gemeinsamen charakteristischen Merkmale? Wie oben dargelegt, gibt es im Großen und Ganzen nur zwei davon. Diese Gruppen müssen:

1)   Stark genug sein, um die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten,

2)   in der Lage sein, eine (a) bestimmte (b) für sie vorteilhafte und (c) realisierbare Gesellschaftsordnung zu ermöglichen.

         Zum ersten Punkt scheint alles mehr oder weniger klar zu sein; der zweite erfordert eine Erklärung, und zwar:

Ø  „Ermöglichen“ bedeutet nicht „aufzwingen“ (das ist bereits im ersten Punkt berücksichtigt); gemeint ist die Fähigkeit, sich eine Vorstellung, eine Idee von der gewünschten Ordnung zu bilden. Schließlich ist bei weitem nicht jede Gruppe in der Lage, sich hierbei überhaupt etwas einfallen zu lassen: erstens objektiv (ihrer Natur nach, die sich mit dem gesellschaftlichen Sein kaum kreuzt), und zweitens subjektiv (nach ihren intellektuellen Fähigkeiten).

Ø  „Bestimmt“ in Bezug auf die Ordnung bedeutet einerseits, dass sie eindeutig, in jedem Detail stimmig ist, eine klare Form hat usw. (davon hängt die Realisierbarkeit der Ordnung stark ab), und andererseits (und das ist noch wichtiger) – dass sie besonders konkret, originell ist, dass sie sich grundlegend von anderen Arten der sozialen Ordnung unterscheidet.

Ø  „Vorteilhaft“ in Bezug auf die genannte Ordnung bedeutet, dass eine privilegierte Position eben der Gruppe gesichert wird, die diese Ordnung lanciert hat und für sie kämpft. Denn es kommt vor, dass eine „neue“ Ordnung, die durch eine bestimmte Gruppe etabliert wird, in der Tat entweder gar nicht neu, sondern nur leicht abgeändert ist (dadurch wird die Position der Anhänger der alten Ordnung nur gestärkt), oder, wenn sie auch neu ist, scheint es dieser Gruppe nur, dass sie ihren Interessen entspricht.

Ø  Schließlich bedeutet die Realisierbarkeit der Ordnung, dass sie in der Tat eingeführt werden kann, und das ist, außer der o.g. „klaren Form“, durch die Fähigkeit (einschließlich der subjektiven Bereitschaft) der Gesellschaft bedingt, im Rahmen der gegebenen „Spielregeln“ zu funktionieren. Ohne dies kann man sich Ordnungen ausdenken, die entweder durch die Gesellschaft wegen ihres Entwicklungsniveaus (Unreife oder Überreife) abgelehnt werden oder grundsätzlich wegen ihres Utopismus nicht realisierbar sind.

         In Anbetracht dieser Erklärungen stelle ich fest: Ich bezeichne als „Klassen“ Gruppen mit den beiden genannten Merkmalen. Die Klasse ist eine ihrer natürlichen Bestimmtheit nach besondere Gruppe von Mitgliedern der Gesellschaft, die dank ihrer Gruppenidentität im Hinblick auf die politische und wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft (also auf die Art und Weise der Verteilung von Macht und Reichtum) im Wesentlichen gleiche Interessen haben und zudem über genügend Kraft verfügen, diese Struktur einzuführen und aufrechtzuerhalten.

„UNTERKLASSEN“ Ich möchte gleich darauf aufmerksam machen, dass es erstens zwei Merkmale gibt, gemäß derer Klassen definiert werden. Zweitens haben sie außerdem an und für sich einen zusammengesetzten Charakter und dadurch entsteht ein ziemlich buntes Bild. In der Praxis gibt es durchweg gesellschaftliche Gruppen, die nach einigen Parametern Klassen ähnlich sind und nach anderen diesen nicht gerecht werden, und zwar in unterschiedlichem Maße. Logisch gibt es hierbei folgende Optionen.

         Was das erste Merkmal betrifft, kann es drei Arten von Gruppen geben:

a)   solche, die dieses Merkmal in vollem Umfang haben

b)   solche, die es gar nicht haben und

c)   solche, die stark genug sind, um die Macht zu ergreifen (oder, genauer gesagt, die alten Herrscher zu stürzen und das von ihnen etablierte Verwaltungsregime zu zerstören), aber nicht in der Lage sind, es auf lange Sicht zu erhalten (eine umgekehrte Option ist natürlich unrealistisch: Diejenigen, die imstande sind, die Macht zu erhalten, sind sicherlich auch in der Lage, diese zu ergreifen). Dabei ist nicht der Fall gemeint, wenn die genannte Unfähigkeit durch die „Kinderkrankheit“ des Wachstums bedingt ist. Eine Klasse, die wegen ihrer historischen Unterentwicklung schwach ist, ist immer noch, zumindest potenziell, eine Klasse, wobei diejenige Gruppe, die aufgrund der immanenten Mängel auch im „erwachsenen“ Zustand die für sie nötige Ordnung nicht stabil aufrechterhalten kann, überhaupt nicht in der Lage ist, sich als Klasse zu realisieren; sie hat im Prinzip kein Recht, als solche bezeichnet zu werden.

         Was das zweite Merkmal betrifft, ist die Streuung noch größer. Hierbei sind folgende Gruppen möglich (aus Sparsamkeitsgründen stelle ich sie wiederum in einer etwas verallgemeinerten Form dar):

a)   solche, die überhaupt nicht in der Lage sind, irgendeine Ordnung zu ermöglichen;

b)   solche, die imstande sind, eine Ordnung zu ermöglichen, aber in keiner ausreichend klaren Form;

c)   solche, die eine gewisse Ordnung ermöglichen, aber nicht diejenige, die sie selbst wirklich brauchen;

d)   solche, die eine bestimmte und für sie vorteilhafte Ordnung errichten könnten, die allerdings nicht realisierbar ist, aus welchen Gründen auch immer;

e)   solche, die allen Anforderungen gerecht werden.

         Dieser Satz von Optionen ermöglicht verschiedene Kombinationen. Zum Beispiel die, dass bei einer Gruppe entsprechend Punkt b) alles in Ordnung ist, aber was Punkt a) betrifft, sie nicht imstande ist, die Macht zu erhalten oder, umgekehrt, mit Punkt a) alles in Ordnung ist, es aber mit Punkt b) Probleme gibt. Und so weiter, quer durch die ganze Liste. (Ich möchte daran erinnern, dass es sich um rein logische Möglichkeiten handelt, in der Praxis werden bei weitem nicht alle davon realisiert).

         Das Vorhandensein von Gruppen, die aus diesem oder jenem Grund das Niveau einer Klasse nicht erreichen, wirft die Frage auf, wie sie zu benennen wären, und dabei sollte es im Idealfall einen besonderen Namen für jede dieser auf ihre eigene Art und Weise minderwertige Gruppe geben. Aber wir brauchen dieses Ideal nicht zu erreichen: Ich werde diese Gruppen nur verallgemeinert „Unterklassen“ nennen.

„DER STRENGE DANTE DAS SONETT NICHT HASSTE“[16] Zugleich können die Unterklassen aller Art ohne weiteres sowohl miteinander, als auch mit den echten Klassen zu Familien vereinigt werden, und zwar auf der Grundlage dessen, dass sie (wenn auch in unterschiedlichem Maße) einzelne Klassenmerkmale besitzen. Mit anderen Worten sind alle (sowohl Klassen, als auch Unterklassen) miteinander mehr oder weniger verwandt und das ist ein ganz wichtiger praktischer Umstand.

         Wenn die Mitglieder der genannten Familie (nennen wir sie die Familie der „Klassoide“) Verwandte sind, bedeutet das, dass sie sich im gesellschaftlichen Leben ähnlich verhalten, einige in vielerlei Hinsicht, andere zumindest teilweise. Es heißt u.a., dass alle von ihnen so oder so am Klassenkampf für bestimmte Ordnungen teilnehmen. Nicht jedem Klassoid ist natürlich beschieden zu siegen (den Unterklassen ist das beispielsweise nicht beschert), aber jeder von ihnen spielt in diesem Stück seine Rolle, trägt zum Endergebnis bei und ist dadurch „für die Mutter-Geschichte wertvoll“[17]. Das Wichtigste ist bekanntlich nicht der Sieg, sondern eben die Teilnahme[18].

         Somit werden gesellschaftliche Prozesse nicht nur durch grundlegende Klassenkonstellationen, sondern auch durch den Einfluss der bedeutendsten Unterklassen bestimmt. Es handelt sich nicht um einen Nachteil, sondern um einen besonderen Umstand. Daher werde ich unten neben dem Begriff „Klassenstruktur“ (und das sogar häufiger) den allgemeineren (und damit umfassenderen) Begriff „Klassoid-Struktur der Gesellschaft“ verwenden.

2. Die Klassen und ihre Eltern

WELCHE GRUPPEN KÖNNEN KLASSEN WERDEN? Als nächstes möchte ich unterstreichen, dass die vorgeschlagene Klassendefinition außer der beiden o.g. Punkte nichts anderes beinhaltet. Das bedeutet, dass eine Gruppe, die als „Klasse“ fungiert, in jeder anderen Hinsicht beliebig sein kann. Ihre anderen Züge (ohne die sie natürlich nicht auskommen kann) haben hierbei keine prinzipielle Bedeutung und können von Fall zu Fall variieren. Oder, mit anderen Worten ausgedrückt, Klassen können aus natürlichen Gruppen gebildet werden, die nach verschiedenen Merkmalen aufgebaut sind: In einem Fall beispielsweise auf der Grundlage der ethnischen Gemeinsamkeit, im anderen aus einer bestimmten Funktionsschicht, im dritten aus den Trägern einer Konfession usw. Die natürlichen Gruppen, auf deren Basis die Klassen entstehen, können sehr verschiedenartig sein. Sie müssen nur den beiden o.g. allgemeinen Anforderungen entsprechen und dann sind sie Klassen. In Wirklichkeit gibt es jedoch nur eine begrenzte Anzahl von Gruppen, die diesen Anforderungen gerecht werden. Dazu gehören keine so nebensächlichen Vereinigungen wie die der Bierliebhaber, Fußballfans, Rothaarigen etc. Es handelt sich nur um die für die jeweilige Gesellschaft besonders bedeutenden Gruppen, die in ihrer Struktur tief verwurzelt sind und einen unmittelbaren Einfluss auf die Gesellschaftsordnung ausüben (was ich bereits oben im Abschnitt über den „Popen und die Popadja“ angedeutet habe). Aber auch in der „Oberliga“ haben die Gruppen unterschiedliche Chancen, Klassen zu werden, unter ihnen entsteht Konkurrenz, und es siegt selbstverständlich der Stärkste.

WELCHE GRUPPEN KOMMEN IN FRAGE? Aber was bedeutet es, der Stärkste in diesem Bereich zu sein? Nach welchen Parametern messen verschiedene Gruppen ihre Kräfte? Lassen Sie uns versuchen, dies zu klären.

         Demaskieren wir also endlich die Liste der Anwärter. Das sind die bereits erwähnten Geschlechts- (oder, wenn es beliebt, Gender-) und Altersgruppen sowie ethnische, konfessionelle und funktionale Gruppen. Warum gerade diese?

Ø  Diese Gruppen bzw. Gruppenarten sind einerseits groß genug (anders als z.B. Verwandtenkreise oder Clans) und andererseits klein genug (im Gegensatz zu beispielsweise den Rassen), d.h. sie entsprechen mehr oder weniger der gesellschaftlichen Skala.

Ø  Die genannten Gruppen waren Teile aller Gesellschaften vom Altertum bis heute; bis zur Neuzeit gab es praktisch keine anderen Gruppen. In den letzten 500 Jahren dienten auch andere Gruppen immer öfter als Basis für die Bildung von Klassen, aber es würde nicht schaden, zunächst zu klären, wie es sich damit in den vorangegangenen 5000 Jahren verhielt.

Ø  Schließlich sollte separat gesagt werden, warum in dieser Liste die Vermögensgruppen, d.h. Reiche und Arme, nicht enthalten sind: Ich werde zur passenden Zeit gesondert darauf eingehen.

DER TEUFELSKREIS Also zum Beispiel hier und jetzt. Meine Vernachlässigung der Vermögensgruppen ist einfach zu erklären: Sie sind keine natürlichen Gruppen, sondern rein soziale, sekundäre Phänomene. Die gesellschaftlich bedeutsame Vermögensschichtung ist eine Folge der ungerechten Verteilung des Reichtums der Gesellschaft, d.h. eine Folge des Funktionierens einer entsprechenden Ordnung und nicht ihre Ursache bzw. etwas, was ihr vorausgeht. Ansonsten handelt es sich um einen Teufelskreis. Ich erkläre das so:

         In der normalen Logik sind die natürlichen Basisgruppen die erstens per se (also vor der Einführung einer für sie günstigen Ordnung und aus von ihr unabhängigen Gründen) gebildeten und zweitens gesellschaftlich bedeutsamen Schichten. Wie passen in diese Bezugsbasis Arme und Reiche hinein?

         Zunächst erhebt sich die Frage, wie sie als gesellschaftlich bedeutsame Schichten entstehen können. Es ist wichtig, dass es sich dabei nicht um einen zufälligen Prozess handeln kann.

1)   Erstens, wenn angenommen wird, dass die Vermögensgruppen eine Basis für die Klassenbildung darstellen, dann sollten die unmittelbaren Ursachen der Entstehung der genannten Gruppen die initialen (d.h. einen Schritt weiter entfernten) Ursachen für die Entstehung der Klassen sein. Wenn die finalen Ursachen der Klassenbildung auf Zufälligkeiten zurückgeführt werden können, heißt das im Grunde, dass die Klassenbildung selbst für zufällig erklärt werden kann, und das ist Unsinn.

2)   Zweitens beruft sich die Theorie überhaupt nicht auf Zufälligkeiten, sondern nur auf Gesetzmäßigkeiten.

3)   Drittens können sich in Wirklichkeit nur einzelne Leute, aber auf keinen Fall ganze soziale Schichten bei Gelegenheit bereichern oder verarmen. (Ich betone deutlichkeitshalber, dass nur eine solche Bereicherung oder Verarmung wirklich zufällig ist, die z.B. durch die Hebung eines Schatzes oder durch einen Brand verursacht wird, die also in keiner Weise mit der Struktur der Gesellschaft zusammenhängt. Ich möchte auch daran erinnern, dass uns eben die Vermögensschichtung der Gesellschaft als Ganzes - und nicht deren Bereicherung oder Verarmung, ob zufällig oder nicht - interessiert). Folglich kann eine bedeutsame Vermögensschichtung nur gesetzmäßig sein.

         Was heißt das nun? Es heißt, dass sie sich stabil, zielgerichtet, geordnet vollziehen muss, also sie muss durch eine bestimmte Art und Weise der Verteilung des in der Gesellschaft erzeugten Reichtums bedingt sein. Und dabei durch eine ungerechte Verteilung: Ihr Ergebnis ist ja die Bereicherung der einen und die Verarmung der anderen.

         Doch wie kommt die besagte Ordnung überhaupt auf den Plan? Wer führt sie ein und wer überwacht sie (wegen ihrer Ungerechtigkeit)? Um welche Klasse handelt es sich? Bei einer reinen Betrachtung des Vermögens sollten es doch gerade die Reichen sein und nicht irgendwelche Fremden, die erst nach der Einführung dieser Ordnung erscheinen.

         Der behandelte Prozess kann also nicht zufällig sein und seine Gesetzmäßigkeit setzt voraus, dass er bezüglich der Einführung einer ungerechten Ordnung der Vermögensverteilung und damit bezüglich der Klassenbildung sekundär ist.

ANDERE GEOMETRISCHE FIGUREN, DIE IN KEINEM ZUSAMMENHANG MIT DER UNBEFLECKTEN EMPFÄNGNIS STEHEN Außerdem bedeutet die Zufälligkeit der Vermögensschichtung, dass ihre beiden „Ströme“ (d.h. die Bereicherung der einen und die Verarmung der anderen) autonom, wegen eigener Ursachen, verlaufen und nicht etwa als ein einheitlicher antagonistischer Prozess, bei dem die Bereicherung der einen auf Kosten der Ausplünderung (und damit der Verarmung) der anderen erfolgt. Aber wenn diese Prozesse voneinander unabhängig sind, was haben dann deren Protagonisten miteinander zu tun? Auf welcher Grundlage soll dann die Notwendigkeit entstehen, ein zusätzliches Verfahren der ungerechten Verteilung von Gemeingütern, der Verwandlung der vermögenden Leute in eine herrschende Klasse usw. einzuführen? Die Reichen würden sich sowieso, auch ohne Beraubung der Armen, bestens weiter bereichern. Sollte es diese überhaupt nicht geben, was würde das die Reichen kümmern (und umgekehrt, wohlgemerkt)?

         Wenn jedoch der Reichtum der einen auf Kosten der Ausplünderung der anderen wächst, dann sind es nicht zwei voneinander unabhängige und damit in Bezug aufeinander zufällige Prozesse, sondern es ist ein einheitlicher gesetzmäßiger Prozess, der im Rahmen einer bestimmten ungerechten Ordnung verläuft - mit all den oben beschriebenen Folgen.

         Schließlich möchte ich auf eine weitere Schwierigkeit hinweisen. Alle natürlichen Gruppen unterscheiden sich ihrem Wesen nach. Einige von ihnen sind Verwalter, andere Slawen und wieder andere Atheisten. Dabei bestimmen gerade die besonderen Merkmale dieser Gruppen den Charakter der für sie vorteilhaften Ordnungen. Und was sind die besonderen Eigenschaften der Reichen und der Armen an sich (und nicht der reichen Jünger Krishnas, der armen Bankiers oder gar der jüdischen Bettler)? Leider Gottes laufen sie auf die einfache Tautologie hinaus: Die besondere Eigenschaft der abstrakten Reichen (d.h. der Reichen überhaupt) besteht lediglich darin, dass sie reich, und der abstrakten Armen, dass sie arm sind. Jeder Versuch, unter diesen Gruppen eine Grundlage für die Klassenbildung zu finden, führt nur dazu, dass man bei den besagten „besonderen Eigenschaften“ landet. Wichtig ist nicht die Tatsache, dass ein Bauer arm ist, sondern dass er Bauer ist, nicht die Tatsache, dass ein Araber reich ist, sondern dass er Araber ist.

         Lassen wir nun dieses Thema vorübergehend ruhen; wir werden später darauf zurückkommen müssen.

3. Wessen Basis ist stärker?

OHNE METAPHER Lassen Sie uns nun zu unserer Suche nach dem stärksten Langstreckenläufer zurückkehren. Ich möchte klarstellen, dass „stark“ im aktuellen Kontext nicht etwa „eine echte Kraft besitzend“ bedeutet. Es ist nur eine Metapher. Es handelt sich natürlich nicht darum, dass die Geschlechts- und Altersgruppen (z.B. Männer in ihren besten Jahren) in einer Gesellschaft real mit ethnischen Gemeinschaften (z.B. mit Polen) oder funktionellen Schichten (z.B. mit Verwaltern) um die Macht kämpfen. Das ist absurd. Das können nur Gruppen gleicher Art: Männer mit Frauen (Geschlecht), Kinder mit älteren Menschen (Alter), Polen mit Tschechen (Ethnien), Muslime mit Christen (Konfession), Verwalter mit Händlern (Funktion) usw. Gruppen verschiedener Art nehmen es miteinander nicht physisch auf, sondern bezüglich ihrer Nützlichkeit für die Menschen, deren erklärtes Ziel es ist, persönliches Wohlbefinden auf Kosten anderer zu erreichen. Eine natürliche Gruppierung, die in dieser Hinsicht die meisten Fähigkeiten und Präferenzen hat, gewinnt logischerweise das Rennen, d.h. wird zur Grundlage für die Bildung einer Klasse.

         Deshalb müssen wir nun feststellen, welche von den o.g. Gruppenarten im obigen Sinne nützlicher sind, sprich welche von ihnen ein größeres Potenzial haben, das o.g. „lichte“ Ziel zu erreichen. Wie kann man das herausfinden?

EGAL, WAS MAN TUT, ES FÜHRT ZU NICHTS GUTEM Das Hauptziel der Umwandlung einer natürlichen Gruppe in eine Klasse ist also die Ausbeutung des Restes der Gesellschaft durch diese Gruppe. Man kann sich jedoch ein solches Ziel nur dann setzen, wenn die o.g. Gruppe nicht die ganze Gesellschaft darstellt, sondern nur ein Teil davon ist. Man kann nur jemand anders, aber nicht sich selbst ausbeuten. Wie werden unsere Gruppen dieser Bedingung gerecht?

         Es ist kein Problem bei Alters- und Funktionsschichten: Es gibt viele davon, und sie alle sind eben Teile der Gesellschaft. Befriedigend sieht es auch bei Geschlechtsgruppen aus: Natürlich gibt es hier nur zwei riesige Gruppen (Männer und Frauen), aber jede von ihnen ist auch nur ein Teil der Gesellschaft. Dafür ergeben sich in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten bei ethnischen und vor allem bei konfessionellen Gruppen.

1)   Zum einen ist in diesen Fällen die Ausbeutung nur in multi-, aber nicht in monoethnischen oder monokonfessionellen Gesellschaften möglich. Dabei sind die Multiethnizität und (in noch geringerem Maße) die Multikonfessionalität lediglich für Kaiserreiche, aber nicht für alle (und wohl eher nicht für die meisten) Gesellschaften charakteristisch. Die Klassenbildung auf dieser Grundlage geschieht also bei weitem nicht überall.

2)   Zweitens ist die ethnische und noch mehr die konfessionelle Abgrenzung ihrer Natur nach instabil. Ethnische Unterschiede werden (beim Zusammenleben von Ethnien und einem aktiven kulturellen und genetischen Austausch zwischen ihnen, was im Rahmen einer Gesellschaft fast unumgänglich ist) in der Regel innerhalb von einem bis zwei Jahrhunderten ausgelöscht. Konfessionelle Unterschiede haben dagegen überhaupt keine (objektive) dauerhafte Grundlage: Um die Konfession zu ändern, ist nur der subjektive Wunsch oder, genauer gesagt, die vorsätzliche Entscheidung eines Gläubigen nötig. Nichts hindert die Mitglieder einer Gesellschaft, die aus religiösen Gründen diskriminiert werden, sich ausnahmslos zur staatlichen Religion zu bekennen (das wurde bekanntlich nirgends verboten, sondern im Gegenteil stark gefördert und sogar erzwungen), und damit nun zur „herrschenden Klasse“ zu gehören.

         Somit sind in dieser Hinsicht die Potenziale der beiden letztgenannten Gruppenarten in den multi-ethnischen und multi-konfessionellen Gesellschaften instabil und stehen den Potenzialen der Alters- und Funktionsschichten im Rang nachgeordnet; in mono-ethnischen oder mono-konfessionellen Gesellschaften sind sie gleich Null.

MAN WÜRDE SCHON GERNE INS PARADIES GELANGEN, ABER WEGEN DER SÜNDEN GEHT ES NICHT[19] Ein anderer Aspekt, der die Ausbeutung im Rahmen einer bestimmtem Gruppenart ermöglicht, ist der Charakter dieser Gruppen an sich. Bei weitem nicht alle von ihnen können tatsächlich einander ausbeuten.

         Das auffälligste Beispiel dafür sind die Altersschichten. Die schwächsten unter ihnen (im normalen physischen Sinne) sind natürlich Kinder und ältere Menschen, und die stärksten sind Menschen mittleren Alters. Anscheinend können nach diesem Kräfteverhältnis nur die Ersteren durch die Letzteren ausgebeutet werden. Allerdings sind die tatsächlichen Beziehungen von Altersgruppen in Wirklichkeit genau umgekehrt aufgebaut: Die Ersteren leben auf Kosten der Arbeit der Letzteren. Und das nicht nur, weil bei den Kindern und bei den älteren Menschen nichts zu holen ist (dabei können sie natürlich nicht ausgebeutet, bräuchten dafür nicht ernährt zu werden), sondern weil die Gesetze der biologischen Reproduktion der Spezies „Homo sapiens“ in diesem Bereich gegenüber den Gesetzen des sozialen Seins dominieren.

         Etwa das Gleiche ist, mit einigen Nuancen, auch für die Beziehungen zwischen Männern und Frauen charakteristisch. Der Hauptunterschied hierbei liegt natürlich in der Tatsache, dass man, im Gegensatz zu den Kindern und den älteren Menschen, nicht behaupten kann, dass bei den die Frauen nichts zu holen wäre. Deshalb haben Männer als eine stärkere Gruppe Frauen im Laufe von Tausenden von Jahren stellenweise in gewissem Maße ausgebeutet (mancherorts wird es bis heute praktiziert). Allerdings ist erstens die Effizienz dieser Ausbeutung im Vergleich zur Ausbeutung der Männer recht bescheiden: Die meisten Reichtümer in der Gesellschaft werden immerhin von den Männern erzeugt. Zweitens bedingt die o.g. Reproduktion der Spezies (die unser Verhalten bestimmt), verbunden mit einer größeren Arbeitseffizienz der Männer, dass diese die Frauen (und Kinder) unterhalten, und nicht umgekehrt. Auch hier sind die kraftmäßig Dominierenden nicht so sehr die Ausbeuter, sondern vielmehr die Ausgebeuteten (soweit in dieser biologischen Situation solche sozialen Termini überhaupt gelten können). Und schließlich drittens: Die Frauen sind oft für die Männer nicht so sehr die Quelle des Reichtums, sondern der Reichtum an sich, und es wird für dessen Verteilung gekämpft. Wenn es hierbei um die Ausbeutung geht, dann gar nicht im politökonomischen Sinne. Die Teilung nach Geschlechtern macht somit vor allem die politische, soziale, kulturelle usw. Diskriminierung der schwächeren Gruppe (Frauen), aber nicht deren Ausbeutung möglich (wir sollten Diskriminierung nicht mit Ausbeutung verwechseln). Daher können Klassen auf dieser Grundlage nicht entstehen.

         Dafür passen ethnische, konfessionelle und funktionelle Gruppen bequem in dieses Prokrustesbett. Jede Ethnie ist durchaus in der Lage, durch die Ausplünderung einer anderen Ethnie zu leben; kein Gott verbietet den Vertretern einer Konfession die Vertreter einer anderen Konfession auszuplündern (solange es diese noch nicht geschafft hat, das Glaubensbekenntnis zu ändern, um das zu vermeiden); schließlich kann eine bestimmte Funktionsschicht ohne weiteres alle anderen Funktionsschichten ausbeuten. Der liebe Gott muss ihr nur genügend Kraft für diese „fromme“ Sache verleihen.

         Diese Überlegungen beziehen sich darauf, welche Gruppen imstande sind, die anderen auszubeuten. Es ist erkennbar, dass es das bei Alters- und Geschlechtsgruppen aus einem bestimmten Grund nicht der Fall ist (weswegen ich über diese nicht mehr sprechen werde); bei ethnischen und konfessionellen Gruppen ist das aus einem anderen Grund nur bedingt möglich.

DAS SÜSSE WORT „GEWINN“[20] Gehen wir nun dazu über, die Effizienz der Ausbeutung zu vergleichen, die die drei verbliebenen Gruppen erzielen können. Es ist ja klar, dass die Gruppierungen bevorzugt werden, die größere Vorteile mit sich bringen.

         Wie bereits erwähnt, kann die Effizienz (sprich die Rentabilität) der Ausbeutung nach zwei Parametern gemessen werden. Erstens nach ihrer „Produktivität“, also nach dem Volumen der Güter, die durch eine bestimmte Gruppe von Ausbeutern der Gesellschaft entnommen werden. Zweitens nach der „Aufwandsintensität“ der Ausbeutung, also nach dem Kraftaufwand, der erforderlich ist, um ihr die genannte „Marge“ zu entreißen. Kurz gesagt, die Buchführung hierbei ist einfach: Einkommen minus Ausgaben gleich Gewinn; genau darauf orientiert sich jedes Mitglied einer bestimmten Gruppe, wenn es das Team wählt, wo es mehr Vergnügen bei allen o.g. Spielen hat. Dabei kümmert sich dieses Mitglied natürlich keineswegs um das Gesamteinkommen der ganzen Gruppe, um atemberaubende Bruttozahlen der Eisen- und Stahlproduktion[21], sondern darum, wie viel von „Brot und Spielen“ ihm persönlich zuteilwerden

         Aber wodurch wird bestimmt, wieviel von den „Freuden des Lebens“ auf einen Ausbeuter entfällt? Das wird natürlich vor allem durch seinen Platz in der jeweiligen Gruppe bestimmt. Die „Beute“ wird ja nicht gleichmäßig und fair geteilt. Aber das bezieht sich nicht mehr auf die Effizienz der Ausbeutung, wo es nur um rein „wirtschaftliche“ Aspekte geht, und zwar um die o.g. „Produktivität“ und „Aufwandsintensität“. Befassen wir uns also eingehender mit der Ersteren.

DAS SÜSSESTE WORT „NUTZFAKTOR“ Das Volumen dessen, was an einen konkreten Ausbeuter geht, ist ceteris paribus direkt proportional zum Volumen dessen, was der Gesellschaft entnommen wird, und umgekehrt proportional zur Anzahl der Mitglieder der Ausbeutergruppe. Daher besteht das lebenswichtige Interesse jedes Ausbeuters darin, einerseits mehr zu entnehmen und andererseits die Anzahl der „Mitstreiter“ zu reduzieren. Eben danach streben alle.

         Und hier stellt sich - erstens - heraus, dass bei weitem nicht alle verbliebenen Gruppenarten a) bei „Redundanz“ ohne weiteres reduziert werden können (das bezieht sich z.B. auf Ethnien) oder, noch schlimmer, b) überhaupt imstande sind, sich in einem zahlenmäßigen Rahmen zu halten; wie oben erwähnt, leiden darunter die konfessionellen Gruppen, die für alle Willigen offen sind. Wie soll denn bei einer solchen Lage der gewünschte Nutzfaktor der Ausbeutung erzielt werden?

         Aber es kommt noch besser (hier geben mit Sicherheit nur konfessionelle Gruppen das Rennen auf). Das Hauptproblem bei der Lösung des genannten Problems ist - zweitens - das Vorhandensein einer „Kraftbarriere“, die keineswegs überschritten werden darf. Anderenfalls hat man das Nachsehen anstatt reicher zu werden. Die genannte „Barriere“ ist ein sehr ernstes Hindernis. Wie kann man den Nutzfaktor der Ausbeutung erhöhen, ohne sie zu überschreiten? Praktisch gar nicht. Der einzige Weg besteht darin, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, aber die hängt von den Wünschen und Bemühungen der Ausbeuter kaum ab. Alle anderen eventuellen „Manöver“ stoßen unweigerlich auf die genannte „Barriere“. So viel man auch experimentiert, z.B. mit der Vergrößerung der Zahl der Ausgebeuteten oder mit der Erhöhung der Steuern, alles erfordert eine parallele Stärkung der Ausbeuter, also wenn man alles andere gleichsetzt, die Erhöhung ihrer Anzahl. Daher erweist sich in dieser Situation als die beste diejenige zahlenmäßig kleine Gruppe, die in der Lage ist, an sich mehr zu erreichen, die also ursprünglich eine niedrigere „Kraftbarriere“ hat (in Bezug auf ihre Anzahl). Bei wem ist sie denn niedriger?

NICHT AUF DAS WIEVIEL KOMMT ES AN, SONDERN AUF DAS WIE Natürlich bei einer Gruppe, bei der es nicht auf das Wieviel, sondern auf das Wie ankommt. Es gewinnt nicht derjenige Feldherr, der mehr Infanterie zur Verfügung hat, sondern derjenige, der ein paar schwere Maschinengewehre verwendet. Kurz gesagt: Es gewinnt die Gruppe, deren Kraftüberlegenheit mehr als bei den anderen Gruppen (oder Gruppenarten) nicht durch Zahlen, sondern durch andere Kraftfaktoren bestimmt wird. Dabei geht es nicht um zufällige und vorübergehende Gründe, sondern um deren Natur (sowie um die der konkurrierenden Gruppen), also um eine natürliche, immanente Gruppenungleichheit in dieser Hinsicht. Wer sieht hier besser aus: Ethnien oder funktionelle Schichten? (Ich habe konfessionelle Gruppen aus den o.g. Gründen aus der Behandlung bereits ausgeschlossen, um Energie zu sparen).

         Gibt es etwas in der Natur von bestimmten Ethnien (mit Ausnahme ihrer größeren Kopfstärke), was ihnen eine stabile Kraftüberlegenheit gegenüber den anderen Ethnien einräumen würde? In nennenswertem Maße eindeutig nicht. Alles, was die einen können, können im Prinzip auch die anderen, insbesondere wenn es um materielle Faktoren geht. Natürlich gab es in der Geschichte ab und zu bestimmte Ausbrüche der Angriffslust von bestimmten Stämmen und Nationalitäten, aber erstens wurden sie gar nicht durch besondere genetische oder kulturelle Codes dieser Ethnien verursacht, sondern gewöhnlich nur durch ihren Druck auf den Lebensraum (also eben durch ihre übermäßige Kopfstärke), und zweitens endeten diese Aufschwünge immer zwangsläufig mit Rückschlägen, im Zuge der Umsiedlung von Kriegern dorthin, wo sie ausreichend Platz hatten, und ihre Spuren wurden vom Staub der Zeiten bedeckt.

         Gleichzeitig haben diesbezüglich verschiedene Funktionsschichten wesentliche Unterschiede. Das Repertoire und das Potenzial von Mitteln und Hebeln, die ihnen beim Machtkampf zur Verfügung stehen, werden eben durch ihre Funktionsstellung bestimmt. Somit hat jede Funktionsschicht einerseits ihre eigenen Mittel und Hebel, andererseits haben die einen mehr und die anderen weniger davon. Und das alles ist absolut objektiv, eben von Natur aus. Daraus ergibt sich, dass die relative Kopfstärke von verschiedenen Gruppen dieser Art, die nötig ist, um die „Kraftbarriere“ zu überwinden, sehr variabel ist; in einigen Fällen ist sie sehr gering.

         Die Verwalter und die Krieger sind überall stabil den Bauern und den Handwerkern kräftemäßig überlegen, und das ist nicht durch ihre (Verwalter und Krieger) überwiegende Kopfstärke bedingt (sie kann sogar relativ klein sein), sondern durch ihr Monopol auf andere wichtige Kraftfaktoren, die ihnen eigen sind oder die ihnen aufgrund ihrer Tätigkeit zur Verfügung stehen. Der zahlenmäßige Unterschied von Ausgebeuteten und Ausbeutern kann also bei der funktionellen Gruppierung viel größer als bei der ethnischen sein, folglich ist hier die Effizienz der Ausbeutung bzw. die Attraktivität dieser Art der Gruppierung für alle höher, die sich nach persönlichem Wohlbefinden auf Kosten anderer sehnen (und ihre Zahl ist Legion).

WESSEN AUFWAND IST GERINGER? Allerdings bezieht sich das auf die Kopfstärke der Ausbeuter. Und wie steht es mit dem Aufwand? Um das herauszufinden, muss man klären, was damit gemeint ist und wie dieser Aufwand sich darstellt.

1)   Der Aufwand ist hier natürlich vor allem mit der Etablierung und Aufrechterhaltung einer ungerechten Gesellschaftsordnung verbunden, also erstens mit dem Kraftaufwand, der hierfür nötig ist und der für verschiedene Gruppen unterschiedlich ist: Den einen „Vergewaltigern“ fällt es leichter als den anderen, der Gesellschaft ihre Herrschaft aufzuzwingen, weil sich der Widerstand der „Vergewaltigten“ in seiner Heftigkeit unterscheidet.

2)   Zweitens ergibt sich der Aufwand aus der fachkundigen Erarbeitung der Ordnung, mit einem klaren Verständnis davon, wie sie sein sollte, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass es einer Gruppe leichter als der anderen fällt, ihre Vorteile in dieser Hinsicht zu definieren, sondern auch in dem Sinne, dass es immer problematischer sein wird, plumpe und schlecht formulierte Pläne durchzuführen als klare und gut durchdachte.

3)   Schließlich besteht der Aufwand aus der Einführung und Aufrechterhaltung der Ordnung - vom rein technischen Standpunkt aus betrachtet. Auch hier sind die erforderlichen Organisationsanstrengungen, der Ressourcenaufwand u. ä. bei verschiedenen Gruppen unterschiedlich, je nach ihrer Position, ihren Fähigkeiten, ihrem Organisationsgrad usw.

Wer ist dabei hoch zu Ross und wer ist leider nur das Pferd? Hinsichtlich des ersten Punktes zeigen sich natürlich die funktionellen Gruppen von ihrer besten Seite. Ein einheimischer Räuber wird immerhin nicht so sehr abgelehnt wie ein fremder Eindringling. Hinsichtlich Punkt zwei und drei haben diejenigen Priorität, die im Leben der Gesellschaft stärker verwurzelt sind, die direkt an ihrem Funktionieren beteiligt sind; diejenigen, die solche Interessen haben, die in einer bestimmten Gesellschaftsordnung stärker zum Ausdruck kommen; schließlich diejenigen, die an sich so oder so die Ordnung in der Gesellschaft einführen und aufrechterhalten (womit sich bekanntlich Verwalter und „Silowiki“ befassen). In allen diesen Punkten haben funktionelle Gruppen den Ethnien gegenüber natürlich auch einen riesigen Vorsprung.

         Funktionelle Gruppen erreichen also als erste die Ziellinie (und zwar weit vor den zweiten und dritten „Läufern“). Eben sie waren die Basis, auf der in der primären Epoche (als, lassen Sie mich daran erinnern, nur die zuvor genannten Gruppenarten miteinander konkurrierten) die frühen Klassen und Unterklassen (d.h. die ersten Klassoide) gebildet wurden.

„DER MOHR HAT SEINE SCHULDIGKEIT GETAN…“ Am Ende möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich im Grunde rein logisch zu diesem Schluss gekommen bin. Es bleibt die Frage: Wozu? Es ist ja ohnehin leicht zu erkennen, dass sich die primäre Klassenbildung in der realen Geschichte auf der Basis der funktionellen Gruppen abgespielt hat. Ich könnte mir sparen, so scheint es, all die o.g. komplexen mentalen Konstrukte zusammen zu puzzeln, könnte den Stier bei den Hörnern packen und unverzüglich historische Fakten darlegen. Wenn man jedoch eine Theorie entwirft, ist es notwendig, sich vor allem der Logik zu bedienen. Man sollte nicht einfach Fakten präsentieren und diese dann im Nachhinein (a posteriori) erklären, sondern man sollte danach streben, ein Anfangsverständnis dieser Fakten (a priori) zu erreichen. Hierbei muss man etwas vorhersagen, indem man sich auf bestimmte Ursachen und Gesetzmäßigkeiten stützt, die in Bezug auf die genannten Fakten grundsätzlicher Natur sind. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen versucht, genau das zu tun.

Vortrag fünf. DIE ENTWICKLUNG DER KLASSOID-STRUKTUR DER GESELLSCHAFT

ANHALTSPUNKTE Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich zwei (für die Zwecke dieses Vortrags) wesentliche Schlüsse.

1)   Erstens, dass die Bildung von Klassen in der Anfangsperiode (d.h. von der Entstehung der ersten Gesellschaften bis zur Neuzeit) auf der Basis von funktionalen Gruppen erfolgte. Dies deutet darauf hin, dass die Klassoide in dieser Zeit unter den für die genannte Epoche charakteristischen funktionalen Schichten gesucht werden sollten.

2)   Zweitens, dass die funktionale Struktur das Fundament der Gesellschaft ist, so dass (a) alle anderen bedeutenden gesellschaftlichen Erscheinungen (dazu gehört natürlich auch die Klassoid-Struktur) auf irgendeine Weise mit der Natur dieses Fundaments korrelieren müssen und (b) alle entscheidenden Metamorphosen der Gesellschaft einzig und alleine auf der Basis von (bzw. infolge von) Änderungen ihrer funktionalen Struktur erfolgen können. Mit anderen Worten folgt die Klassoid- (einschließlich Klassen-) Entwicklung der funktionalen Entwicklung und spiegelt diese auf die eine oder andere Art wider. (Es gibt hierbei natürlich, wie immer bei solchen Prozessen, auch eine gewisse Rückkopplung). Das gibt uns Anhaltspunkte für die Erforschung von späteren (bezogen auf die primäre Epoche) Wechselfällen der Geschichte.

ÜBER DIE PERIODISIERUNG Genauso leicht ist auch das Problem der Periodisierung zu lösen. Wenn die Entwicklung der Klassoid-Struktur der funktionalen Entwicklung folgt, muss sie die gleichen Etappen wie diese durchlaufen. Ich habe bis jetzt in der Geschichte der Menschheit zwei Etappen festgestellt, in denen sich die funktionale Struktur der Gesellschaft entwickelte, und habe sie nach der Produktionsart benannt, die in der entsprechenden Epoche vorherrschend war: Die Landwirtschaftsepoche (oder, anders gesagt, die Periode, in der die Produktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen vorherrschte) und die Epoche der Industrieproduktion (also die Periode der vorherrschenden Produktion von Industrieerzeugnissen). Die Entwicklungsstufen der Klassoid-Struktur müssen formal (jedenfalls zeitlich) mit diesen Perioden zusammenfallen (und das ist tatsächlich der Fall).

Allerdings sind Klassoide keine funktionellen Schichten. Daher unterscheiden sich auch die Entwicklungsstufen der Klassoid-Struktur von den Entwicklungsstufen der funktionalen Struktur. Die Erstgenannten haben andere Merkmale und sollten auch anders (nicht als landwirtschaftliche und industrielle Entwicklungsstufen) bezeichnet werden. Was deren Wesen ist und wie sie richtig genannt werden sollten, werden wir im Laufe der konkreten Behandlung klären, die ich nun beginne.

1. Die erste Stufe

ANWÄRTER DER ERSTEN PERIODE Die erste Periode der Entwicklung von Klassen und „Unterklassen“ entspricht nach allen oben genannten Voraussetzungen der Landwirtschaftsepoche. Das ist die primitivste Periode, sowohl im Hinblick auf die Entwicklung der funktionalen Struktur der Gesellschaft, als auch in vielerlei anderer Hinsicht. Die Gesellschaft gliedert sich hierbei im Wesentlichen in zwei Teile: Bauern und Verwalter. Alle anderen funktionalen Schichten stecken noch in den Anfängen und sind zahlenmäßig sehr klein. Nur in einzigartigen Gesellschaften mit besonderen Existenzbedingungen weisen sie eine bedeutende Entwicklung und Massenhaftigkeit auf. Aber das ist, wie bereits erwähnt, kein Gegenstand der allgemeinen Theorie, nach der sich in dieser Epoche nur Bauern und Verwalter entwickeln.

In der Anfangsphase gibt es also nur zwei potenzielle Klassoide. Jeder davon stellt eine im Wesentlichen innerlich einheitliche Funktionsschicht dar (das gilt insbesondere für die Bauern). Es sind nicht etwa einige verschiedene wie in den späteren Epochen, geschweige denn, dass es sich bei ihnen um etwas Überfunktionales handelt, wie wiederum in späterer Zeit. Der Grund dafür, ich wiederhole das, ist die Primitivität der funktionalen Struktur der frühen Gesellschaften.

DIE BASIS DES PRIMITIVISMUS Und worin hat diese Primitivität ihre Ursache? Natürlich ergab sie sich aus der Primitivität der anfänglichen Produktion. Die Produktion war bereits entstanden und verursachte die Bildung der Gesellschaft. Es erfolgte eine gewisse funktionale Differenzierung von Menschen, bei der Verwaltungsspezialisten eine separate Position einnahmen. Die Produktion konnte jedoch damals darüber hinaus nichts mehr hervorbringen: Das Niveau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung war noch äußerst niedrig. Die Klassoide konnten nur auf der Grundlage der beiden o.g. funktionalen Schichten existieren und fielen sogar direkt mit ihnen zusammen (im Weiteren trennten sich die funktionalen und die Klassoid-Strukturen, wie wir sehen werden).

DER CHARAKTER DER PRODUKTION Ich habe allerdings bisher nur auf das mangelnde Potenzial der anfänglichen Produktion hingewiesen, also auf deren Unfähigkeit, eine nennenswerte gesellschaftliche Arbeitsteilung zu sichern. Es handelt sich hierbei um eine besondere quantitative Bewertung ihrer Primitivität. Aber was sind die qualitativen Eigenschaften dieser Produktion?

Die Primitivität der ursprünglichen Produktion kam darin zum Ausdruck, dass sie erstens, wie ich sagte, vor allem landwirtschaftlich geprägt war und zweitens (und das ist für uns am wichtigsten) im Rahmen der Naturalwirtschaft ausgeführt wurde. All die wenigen lebensnotwendigen Produkte in dieser Epoche produzierten die Bauern praktisch allein. Das Handwerk steckte noch in den Kinderschuhen und spielte eine nebensächliche Rolle; außerdem befriedigte es nicht die Bedürfnisse der Bauern, sondern vor allem die der Verwalter. Man kann also schlussfolgern, dass die zuvor beschriebene zweiteilige Klassoid-Struktur der primären Gesellschaften letztlich nichts anderes als den nicht spezialisierten Charakter der Produktion dieser Epoche (Naturalwirtschaft) widerspiegelte. Die Produktion war damals eben deswegen nicht in der Lage, eine entwickelte gesellschaftliche Arbeitsteilung zu erzeugen, weil sie selbst in dieser Hinsicht nicht spezialisiert, sondern homogen war.

DIE TRÄUME DER BAUERN Es gibt also zwei hypothetische Bewerber für eine Klasse mit einem speziellen (in diesem Fall funktionalen) Status und den sich daraus ergebenden besonderen Interessen in Bezug auf die Gesellschaftsordnung. Worin bestehen diese Interessen?

Ich beginne mit den Bauern. Worin liegt ihr wirtschaftliches Interesse, also wie sollte nach ihrer Meinung (die sich aus ihrem Sein in der Naturalwirtschaft ergibt) die optimale Wirtschaftsordnung sein? Natürlich sollte sie am besten folgendermaßen aussehen: Erstens sollten die Bauern Alleinherren in ihrer Wirtschaft sein, keiner sollte ihnen etwas zu sagen haben und niemand sollte sie stören dürfen, und zweitens sollten die Bauern alles, was sie produzieren, selbst verbrauchen können, ohne es mit jemandem teilen zu müssen. Es wäre natürlich nicht schlecht, irgendjemand an einem anderen Ort auszuplündern, wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu böte, aber nur gelegentlich, weil man sonst leider aufhören müsste, Bauer zu sein, wenn man jemanden regelmäßig berauben wollte: Man müsste lernen zu kämpfen und sich von der landwirtschaftlichen Tätigkeit in der heißesten Phase des Jahres abwenden, eben dann, wenn „ein Tag das ganze Jahr füttert“[22] usw. Das wirtschaftliche Interesse der Bauern (solange sie wirklich Bauern sind) besteht also darin, dass niemand sie an ihrem Geschäft als Landwirte hindert und dass niemand ihnen die Produkte ihrer Arbeit wegnimmt. Ihr Ideal besteht darin, allein zu sein mit ihrer Arbeit und den Früchten dieser Arbeit auf ihren Höfen, oder wenn es - im schlimmsten Fall - gar nicht anders geht, in Siedlungen mit einem überschaubaren Umfang, wo alle Probleme entweder entsprechend der Tradition oder auf einer Gemeinde-Versammlung mühelos gelöst werden. Und tasten Sie bitte diese Harmonie nur ja nicht an! Darüber hinaus ist den Bauern alles egal, denn in ihrem Leben gibt es eben kein „darüber“.

Und welches sind ihre politischen Interessen, die über die oben beschriebenen Lösungen von gemeindebezogenen Problemen im Rahmen und mit den Mitteln der primitiven direkten Demokratie hinausgehen? Diese bestehen darin, dass die Bauern im Idealfall überhaupt keine anderen Machthaber brauchen. Das Allerbeste wäre, wenn es niemand gäbe, der sich einmischt, raubt, herumkommandiert. Als selbstständige Hersteller von allem, was sie brauchen (und zwar nur davon, ohne Ausrichtung auf einen nennenswerten Austausch von Produkten), also als Menschen, die in ihrem Lebensunterhalt nur von der Natur und ihrer persönlichen Arbeit, höchstens noch von den nächsten Nachbarn abhängen, brauchen die Bauern keine Verwaltung außerhalb der Gemeinde, keine politische Macht. Sie sind von Natur aus Anarchisten. Die politische Lehre des Anarchismus ist in erster Linie die Widerspiegelung von bäuerlichen Ansichten bezüglich des Staates, der Macht außerhalb der Gemeinde: Wozu braucht man ihn überhaupt? Und selbstverständlich hatte der Anarchismus als politische Strömung in der Praxis nur eine Bedeutung in bäuerlich geprägten Ländern (in Europa waren das Russland, Italien und Spanien).

DAS KLEINERE ÜBEL Jedoch ist das nur ein Ideal, das leider nicht erreichbar ist. Die harte Realität korrigiert, wie immer, die süßen Träume der „Idioten“. Es wäre gut für die Bauern, nur mit ihrem Stück Land und sonst mit nichts und keinem zu tun zu haben, aber außer der natürlichen Umgebung gibt es leider noch die soziale. Es stellt sich heraus, dass es immer jemand gibt, der raubt, verwüstet, bei der Arbeit stört usw. Und diese Bastarde kommen nicht etwa einzeln, es erscheinen ganze Banden von ihnen und sie sind durch die Einwohner einer separaten Siedlung (oder sogar einer ganzen Gruppe von Siedlungen) nicht zu bewältigen. In diesem Zusammenhang macht sich für die Bauern ein gewisser Außenschutz erforderlich, eine bestimmte Ordnung, die jemand von außen sichert, sei sie auch unvollkommen, wenn sie zumindest akzeptabel ist.

Es fragt sich: Warum von außen? Warum können die Bauern diese Sache nicht selber übernehmen? Die Antwort lautet: Weil sie dafür weder Kraft, noch Geschlossenheit, noch Ressourcen, noch Fertigkeiten haben. Sie können sich einfach nicht schützen, ohne aufzuhören, Bauern zu sein. Entweder ein Säbel in der Hand oder ein Pflug. Und das Phänomen „Kosakentum“ widerlegt das nicht. Saporoska Sitsch war ein Sammelort von Kriegern, nicht von Bauern; das gleiche gilt für die Banden von Stenka Rasin. In allen anderen Fällen, in denen die Kosaken wirklich ihr landwirtschaftliches Wesen pflegten, existierten sie mit Sicherheit nicht einsam und allein, sondern beim Staat, als sein besonderer Dienststand. Ohne Unterstützung des Zaren, der ihnen die Wehrpflicht und den Grenzdienst auferlegt hatte, wären die Kosaken samt ihrem Stück Land schnell durch einen der zahlreichen umherschweifenden Räuber gefressen worden.

Deshalb lässt sich die lebensnaheste Version der bäuerlichen politischen Interessen darin zusammenfassen, einen Gönner zu finden, der die Bauern gegen eine mäßige Gebühr schützt. Mit anderen Worten: Es ist der Traum von einem „guten Zaren“.

DIE TRÄUME DER VERWALTER IM ALLGEMEINEN Das sind die Interessen der Bauernschaft, die durch ihre Position in der Gesellschaft und bei der Produktion bestimmt werden. Über die Interessen der Verwalter schreibe ich hier nur kurz und ganz allgemein, weil sie der Gegenstand eines extra Vortrags sind. Eben diese Schicht bestimmte, wie wir bald sehen werden, die Gesellschaftsordnung der zu behandelnden Epoche. Daher werden wir über den konkreten Inhalt ihrer Interessen dann im Detail reden, wenn wir die Gesellschaftsordnung dieser Epoche behandeln.

Vorerst stelle ich nur ihre abstrakte „Normalität“ fest. Ich meine damit den gleichen „Gentleman-Set", der jeder Gruppe eigen ist. Wie alle normalen Menschen, sind die Verwalter natürlich in erster Linie daran interessiert, das Sozialprodukt zu ihren Gunsten neu zu verteilen. Dabei werden die wichtigsten Produzenten dieses Produkts, die Bauern - und bei Gelegenheit auch alle anderen - beraubt. Es wird vor allem Kraft (und folglich eine besondere Ordnung der Verteilung ihrer Faktoren) benötigt, um eine stabile Dominanz der Verwalter zu gewährleisten. Eben für diese Ordnung kämpfen sie (gegen die Bauern, wen sonst?), eben diese Ordnung versuchen sie zu etablieren. Aber gelingt es ihnen? Das hängt vom Kräfteverhältnis dieser Klassoide ab.

DAS KRÄFTEVERHÄLTNIS Dieses Kräfteverhältnis ist natürlich voll und ganz eines zugunsten der Verwalter. Die Bauern als Gruppe sind viel schwächer als sie, wenn auch viel zahlreicher. Worin besteht die Schwäche der Bauern und die Stärke der Verwalter? Ich werde die wichtigsten Punkte aufzählen, die ausreichend sind, um eine garantierte Vorherrschaft zu gewährleisten.

Erstens haben die im Rahmen der Naturalwirtschaft arbeitenden Bauern eben wegen dieser Art des Wirtschaftens nichts miteinander zu tun; sie existieren abgesondert und sind zu einer dauerhaften, umfassenden, weit über ihre Haushalte hinausgehenden Vereinigung unfähig. Ihre ganze Lebensweise verhindert das. Jeder Bauer lebt und stirbt für sich allein, und darum fällt es leicht, sie einzeln zu vernichten.

Natürlich übertreibe ich ein wenig, um ein theoretisches Ideal zu schaffen: In der wirklichen Geschichte wirtschafteten die Bauern bei weitem nicht in allen Gesellschaften allein auf ihren Höfen. Viel häufiger ließen sie sich zusammen nieder, bildeten Siedlungen, in denen entsprechende, manchmal sogar recht zahlreiche Gruppen entstanden. Das ändert jedoch das Bild nicht grundlegend. Auch in diesen Fällen gab es keine wirkliche Verbindung zwischen den Gemeinschaften, und der größte Teil der Bauernschaft blieb abgesondert.

Die Verwalter dagegen sind schon durch den Charakter ihres Berufes vereint. Ihre Aufgabe ist es, die Gesellschaft zu ordnen. Das erfordert von ihnen, wie oben erwähnt, sowohl (a) einen gewissen Organisationsgrad, d.h. Eigenschaften wie z.B. Vollzugsdisziplin, die Gewohnheit, sich unterzuordnen und Befehle zu geben, usw. und (b) eine Organisation, d.h. einen hierarchisch strukturierten Apparat. Somit stellen sie immer eine geballte Faust dar.

Zweitens sind die Bauern schlechte Krieger: Sie haben keine militärischen Fertigkeiten, die ja bei ihren wirtschaftlichen Aktivitäten einfach nutzlos sind und nicht geübt werden. Die Bauern haben weder Zeit noch Möglichkeit, diese Fertigkeiten zu entwickeln. Die Verwalter dagegen übernehmen häufig auch die Funktion des Schutzes vor externen Bedrohungen (manchmal ist das sogar ihre Hauptfunktion). Auch bei ihren eigenen beruflichen Aktivitäten müssen sie zwangsläufig Gewalt anwenden. Wie sollte man ohne Zwang verwalten? Gewaltorgane sind erforderlich, um in jeder Gesellschaft die Ordnung herzustellen und aufrechtzuerhalten. Daher gibt es unter den Verwaltern fast immer Gewalteinheiten oder die Verwalter sind zugleich Sicherheitskräfte (vor allem in den frühen Stadien) und können sich ohne weiteres militärische Fertigkeiten aneignen und diese ausüben.

Drittens ist außer den o.g. Fertigkeiten natürlich auch der tatsächliche Besitz von Waffen wichtig. Offensichtlich ist ein Bewaffneter stärker als ein Unbewaffneter. Auch in dieser Hinsicht ziehen die Bauern den Kürzeren. Ihre natürlichen Arbeitswerkzeuge können schlecht als Instrumente des Krieges und des Mordes dienen. Dagegen sieht es bei den Verwaltern, die durch die Art ihrer Beschäftigung Verteidiger und Hüter der Ordnung sind, auch hier bestens aus. Waffen sind ja gerade ihre Arbeitswerkzeuge.

Außerdem ist viertens wesentlich, wer über welche Ressourcen verfügt. Die Bauern haben in ihrem Gepäck nur das, was sie produzieren und was ihnen versehentlich noch nicht weggenommen worden ist. Mit solchem Gepäck kann man keine großen Sprünge machen. Für schwere Kämpfe und längere militärische Aktionen reicht das nicht aus. Die Verwalter dagegen verfügen in der Tat über alle gemeinsamen Ressourcen der Gesellschaft: Sie sind ja ehedem beauftragt worden, die gemeinsamen Angelegenheiten zu verwalten. Ganz zu schweigen davon, dass die Verwalter als Sicherheitskräfte auch an anderen Orten durch Raub etwas „verdienen" könnten, wenn sie Muße dafür haben.

Schließlich ist fünftens die Tatsache an sich wichtig, dass die Herstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung der Beruf der Verwalter ist. Das spielt einerseits als Rechtfertigung ihres Machtanspruchs eine Rolle (nämlich des Anspruchs darauf, dass alle sich ihren Anweisungen und ihrem Willen unterordnen), und andererseits als eine weitere Fertigkeit, die sie besitzen, diesmal eine rein administrative. Für die Bauern liegen all diese Dinge außerhalb ihres Verständnisses und ihres Könnens. Sie sind lediglich dazu in der Lage, die durch die Verwalter hergestellte Ordnung zu verwünschen, ohne etwas Besseres vorschlagen zu können.

Kurzum, die Verwalter sind in jeder Hinsicht stärker als die Landwirte. Daher ist die Vorherrschaft der Verwalter in den Gesellschaften mit der beschriebenen Klassoid-Struktur (einschließlich Sowjetrussland) selbstverständlich. Letztlich können nur die Verwalter einerseits zumindest eine gewisse Ordnung überhaupt herstellen (und das tun sie auch mit Gewalt). Andererseits etablieren sie eben die Ordnung, die (a) ihre Macht und (b) die Verteilung des hauptsächlich durch die Bauern produzierten gesellschaftlichen Reichtums zu ihren Gunsten sichert.

DER JÄGER UND DER HASE: WAS IST EINE KLASSE UND WAS EINE „UNTERKLASSE“? Daher sind in der Anfangsepoche unter zwei Anwärtern nur die Verwalter eine Klasse. Nur sie entsprechen in allen Merkmalen deren Definition, während die Bauern die Definition einer Klasse deutlich verfehlen.

Erstens sind sie nicht in der Lage, die Macht in der Gesellschaft mit Gewalt zu erhalten. Die Bauern sind höchstens imstande, sich in einem Aufstand zu erheben und bestimmte Verwalter zu stürzen. Das passierte auch dann und wann in der Geschichte, vor allem in den Regionen mit kollektivistischer Mentalität, z.B. in China, wo die Bauern (kraft dieses Kollektivismus) am ehesten in der Lage waren, sich im großen Stil zusammenzuschließen. Aber alle diese siegreichen Bauernaufstände endeten natürlich nur damit, dass im Ergebnis deren Führer und ihre engsten Mitkämpfer zu neuen Verwaltern wurden und wieder eine Ordnung etablierten, die die Verwalter begünstigte. Im Höchstfalle war diese Ordnung am Anfang ein wenig weicher als die vorherige.

Zweitens taugt die Ordnung, die die Bauern benötigen würden, an sich nichts. Ihre politischen Interessen sind unerfüllbar, und zwar nicht nur diejenigen, die ihr Ideal sind, sondern sogar die Minimalvarianten. Eine anarchische Struktur der Gesellschaft ist pure Utopie in einer recht komplexen Gesellschaft, die ein zentralisiertes Ordnungssystem erfordert, weil die Ordnung diesen Anforderungen widerspricht, und in einer primitiv-landwirtschaftlichen Gesellschaft, weil diese den vorliegenden Realitäten widerspricht. Eine mehr oder weniger bedeutende selbstverwaltende Bauerngemeinschaft kann erstens überhaupt nicht stabil funktionieren, weil nämlich die Bauern aufgrund ihrer unvermeidlichen Gestaltlosigkeit zu einer effektiven Selbstverwaltung nicht fähig sind. Zweitens wäre eine solche Gemeinschaft zu schwach, um im Laufe einer längeren Zeit den externen feindlichen Angriffen zu widerstehen.

Aber auch das Konzept des „guten Zaren" ist nicht viel besser, weil es gute Zaren eben einfach nicht gibt. Alle Zaren können ihre Macht nur insoweit ausüben, als sie von den Bojaren und vom Adel unterstützt werden (Sie können sich doch nicht auf die schwachen, ausgeplünderten Bauern stützen!). Daher sind die Zaren gezwungen, die erste Regel zu befolgen, nämlich nichts zu tun, was den Interessen ihrer „Stützen“ drastisch widerspricht. Wäre der Zar an sich auch ein äußerst guter Mann, es gibt keine Alternative: Entweder muss er den Plünderungen, der Gewalt und der Korruption der Vertreter seiner Klasse mit Nachsicht begegnen oder er wird gestürzt. In dieser Lage überleben nur die „bösen Zaren", d.h. die, die „böse“ agieren, egal, ob sie sich als „gut“ positionieren und sich angeblich um ihre Untertanen kümmern (wobei die Zaren verständlicherweise in der Regel auch sonst keine Leute sind, die schrecklich leiden, wenn sie jemandem etwas Böses angetan haben).

         Im Hinblick auf die o.g. Mängel sind die Bauern keine Klasse, sondern nur eine „Unterklasse“.

DER ALLMÄHLICHE CHARAKTER DER MACHTERGREIFUNG Aber zurück zur gesellschaftlichen Machtergreifung durch die Verwalter. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um einen plötzlichen Akt. Wenn die Sache vom Standpunkt der allgemeinen Theorie aus behandelt wird, die fremde Eroberungen als Gegenstand der Theorie der Wechselwirkungen von sozialen Gebilden ausschließt (allerdings ist es auch bei Eroberungen komplizierter, als es bei flüchtiger Betrachtung scheint), erfolgt die natürliche (und umso mehr die primäre, die älteste) Wandlung der Verwalter von bloßen Funktionsträgern, die einfach die Verwaltungsfunktion in der Gesellschaft ausführen, zu herrschenden Machthabern über einen längeren Zeitraum und allmählich, unmerklich, in kleinen Schritten. Erstens geschieht das im Anschluss an die genauso allmähliche und unauffällige Entwicklung der Verwalter selbst, dadurch, dass sie immer mehr Kraft, Ressourcen und Vollmachten ansammeln. Zweitens findet das im Anschluss an ihre Verwandlung aus einer Klasse an sich in eine Klasse für sich statt, d.h. einerseits im Anschluss an die Erkenntnis (a) der Besonderheiten ihrer Position in der Gesellschaft, (b) der Möglichkeiten, ihre egoistischen Interessen zu befriedigen, die sich daraus ergeben, und (c) der Gemeinsamkeit ihrer Gruppeninteressen. Andererseits wird diese Erkenntnis durch den Zusammenhalt der Verwalter im Kampf um die Realisierung der genannten Möglichkeiten gefestigt. Und schließlich drittens geschieht die o.g. Verwandlung im Anschluss an die gleichzeitige, genauso allmähliche Umformung der regierten Gesellschaft selbst, die sich daran gewöhnt, nach den neuen Regeln zu leben, wobei die die Verwalter begünstigende Ordnung nach und nach für natürlich und legitim gehalten wird. Dies erfolgt insbesondere bei einem Generationenwechsel.

Mit anderen Worten, die oben genannte Machtergreifung ist kein politischer Umsturz, ist keine Revolution, sondern eine Evolution, eine schleichende (objektive und subjektive) Entartung sowohl der Verwalter selbst, als auch der von ihnen verwalteten Gesellschaft und deren Ordnung. Eines Tages erwacht die Bevölkerung und begreift, dass sie tatsächlich unter der Faust ihrer „Diener“, sprich, jetzt ihrer Führer, lebt. Im Ergebnis erhält diese Klasse einen ganz neuen Charakter: Sie ist nun nicht nur in der Lage, die Macht zu ergreifen, sondern ist in Wirklichkeit zur herrschenden Klasse geworden, die das Herrschaftspotenzial realisiert hat.

BÜROKRATEN UND BEAMTE Es gibt also zwei Zustände, in denen sich die Klasse (oder, in einem anderen Koordinatensystem, die Funktionsschicht) der Verwalter befinden kann (und das war in der Geschichte tatsächlich so). Das sind (1) die Verwalter ohne Macht (es spielt hierbei keine Rolle, aus welchem ​​Grund, ob sie diese noch nicht erlangt oder als Folge einer demokratischen Revolution bereits verloren haben) und (2) regierende Verwalter. Die Ersteren nenne ich „Beamte“ und die Letzteren „Bürokraten“. Nach ihrer funktionalen Rolle sind beide natürlich Verwalter, nach ihrem sozialen Status eine Klasse (und zwar ein und dieselbe). Der Unterschied zwischen ihnen liegt nur in ihrer Beziehung zur Macht und ihrer entsprechenden Position in der Gesellschaft – entweder als ihre Diener oder als ihre Herren. Und sicher ist dieser Unterschied genauso verschwommen wie die natürliche historische Transformation der Ersteren in die Letzteren: Es lassen sich hierbei nur die Punkte des Prozesses ihrer Verwandlung aus einer Larve (Diener) in einen Schmetterling (Herren) klar definieren, die nicht zur Übergangszeit gehören. Im Rahmen dieser Übergangszeit hingegen muss man relative Begriffe, wie z.B. „eher ja als nein", „vielmehr" usw. verwenden.

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN DEN ETAPPEN Die Machtergreifung in der Gesellschaft durch die Verwalter bedeutet nicht nur ihre Verwandlung von Beamten in Bürokraten, sondern auch eine besondere Organisierung dieser Gesellschaft, d.h. die Etablierung einer bestimmten (bürokratischen) Ordnung. Sie leitet sich natürlich direkt aus der Klassoid- und, weiter, aus der funktionalen Struktur dieser Gesellschaft ab. Die Letztere bestimmt hierbei die Erstere, und diese wiederum bleibt nichts schuldig und bestimmt durch das Verhältnis von Klassoiden, wer im Moment der Herr ist und damit den Charakter der entsprechenden Gesellschaftsordnung.

         Diese Abhängigkeit bedeutet einerseits, dass jeder Entwicklungsstufe der funktionalen Struktur eine eigene Entwicklungsstufe der Klassoid-Struktur und dieser wiederum eine entsprechende Stufe der Gesellschaftsordnung entspricht. Die bürokratische Gesellschaftsordnung ist lediglich die erste Stufe dieser Leiter.

         Andererseits betone ich, dass es sich um eine Abhängigkeit von in ihrem Wesen verschiedenen Objekten handelt: Die Funktionsstruktur unterscheidet sich von beidem, von der Klassoid-Struktur und von der Gesellschaftsordnung. Daher unterscheiden sie sich auch in ihren Entwicklungsstufen.

Man sollte hinzufügen, dass diese Stufen überdies nicht notwendigerweise zeitlich zusammenfallen. Die Machtübernahme in der Gesellschaft durch einen der Klassoide z.B. findet immer mit einer gewissen Zeitverzögerung nach der Herausbildung der Klassoid-Struktur statt. Damit jemand die Gesellschaftsordnung gewaltsam zu seinen Gunsten ändern kann, ist es zunächst notwendig, dass dieser Jemand nicht wie Phönix aus der Asche neu ersteht, sondern bis zum gewünschten Zustand reift, und sich dazu, so weit wie möglich, in eine Klasse für sich verwandelt. Die o.g. Verwalter müssen auch, wie zuvor erwähnt, zumindest eine Zeit lang als einfache Beamte gewisse Härten überstehen.

DER BEGRIFF EINER FORMATION (GESELLSCHAFTSORDNUNG) Wir haben es also mit einer weiteren, besonderen Entwicklungsstufe der Gesellschaft zu tun, wo es nicht um funktionale oder Klassoid-Strukturen, sondern um spezielle Typen von Ordnungen geht. Diese Entwicklungsstufen der Gesellschaft, die mit der Vorherrschaft von besonderen Klassen zusammenhängen, werden Formationen und die Entwicklung der Gesellschaft von einer Ordnung zur anderen wird Formationsentwicklung genannt. Wir behandeln zunächst die primäre Entwicklungsetappe mit der Vorherrschaft der Bürokratie mit den ihr eigenen Interessen und ihrem Willen. Man sollte also hierbei von einer „bürokratischen Formation“ reden. (Ich erkläre noch einmal: Ich behandelte oben die erste Entwicklungsstufe der funktionalen Struktur der Gesellschaft und nannte diese „landwirtschaftlich“; dann ging es um die entsprechende Entwicklungsstufe der Klassoid-Struktur, und ich nannte diese die „Etappe der Naturalwirtschaft“; nun rede ich von der ersten Entwicklungsstufe der Gesellschaftsordnung und nenne diese Ordnung nach ihrem Demiurg „bürokratisch“ und diese Etappe ihrer Entwicklung - die „bürokratische Formation“).

2. Die zweite Etappe im Allgemeinen

DIE FUNKTIONALE STRUKTUR DER NEUEN EPOCHE Setzen wir aber nun unseren historischen Exkurs fort. Zuerst frischen wir unser Wissen von der Konstellation der funktionellen Gruppen in der postlandwirtschaftlichen Periode auf. Wer steht dabei im Blickfeld? Von den neuen und bedeutenden Schichten sind das, soweit ich mich erinnern kann, vor allem Industriearbeiter verschiedener Richtungen, angefangen mit den direkten Produzenten der Industriegüter bis hin zu verschiedenen Ingenieuren, Technikern, Produktionsmanagern usw. (in der Zeit der entwickelten Industrie). Dann finden sich auch in der Infrastruktur Tätige, d.h. diverse Beschäftigte in der Zirkulation der oben genannten Industrie- und landwirtschaftlichen Erzeugnisse: Transportarbeiter, Straßenbauer, Vermarkter, Lagerarbeiter etc. sowie Mitarbeiter der Finanzsphäre, die die im Zusammenhang mit der Entstehung eines entwickelten Austausches auftretenden Zahlungsströme regeln.

Von den alten Schichten bevölkern in dieser Zeit nach wie vor die schon dagewesenen Agrarbeschäftigten (Landwirte und Viehzüchter) und Verwalter des gesellschaftlichen Lebens (nicht der Produktion) die Welt. Jetzt sind sie jedoch sehr differenziert, also hochspezialisiert auf einzelne Arten der landwirtschaftlichen und der Verwaltungstätigkeit.

Schließlich erscheinen hier in embryonaler Form, von den unbedeutenden neuen Schichten (hinsichtlich der Anzahl und der Qualität), Fachleute in den Bereichen der Bildung, Medizin, Wissenschaft, Kultur, der persönlichen Dienstleistungen usw.

DIE BASIS UND IHR CHARAKTER Wo ist all diese „Pracht“ hergekommen? Natürlich ist sie aufgrund einer viel weiter fortgeschrittenen, d.h. hocheffektiven und komplexen Produktion entstanden (verglichen mit der vorangegangenen landwirtschaftlichen Periode). Diese Entwicklung ist es, die jene „Lebensfeier“ bezüglich der vorhandenen Ressourcen und der technischen Differenzierung ermöglichte. Die oben beschriebene funktionale Arbeitsteilung ergibt sich weniger aus dem gesellschaftlichen Sein, sondern vielmehr aus der direkten Produktion. Vor allem in der Produktion findet die Schichtung statt und die Spezialisierung auf Hunderte und Tausende von verschiedenen Berufen (das bedeutet eine immer engere Kooperation). Die Mehrheit der wichtigsten Funktionsschichten dieser Epoche sind die Arbeitnehmer aus verschiedenen Sektoren und Teilsektoren der Industrie und, in geringerem Maße, aus der sie nachahmenden Landwirtschaft.

         Es ist also offensichtlich, dass hierbei alles auf der Produktion basiert. Sie hat erstens einen dominierend industriellen und zweitens einen stark differenzierten, d.h. komplexen und hoch spezialisierten Charakter. Das findet seinen direkten Ausdruck in der enormen Mannigfaltigkeit funktioneller und Berufsgruppen (im Vergleich zur Vorperiode) und erzeugt indirekt eine begleitende erhöhte soziale Schichtung, die nicht produktionsbezogen ist. Und was ergibt sich daraus im Bereich des sozialen Aufbaus?

DER BEDARF AN ÜBERFUNKTIONALITÄT Die erste für uns wichtige offensichtliche Folge der gesteigerten gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist die relative Verminderung von Funktionsschichten (im Vergleich zur Größe der gesamten Gesellschaft). Dort, wo sich nur die riesengroße homogene Masse der Bauern träge im Wind der Geschichte bewegte, wuseln nun Tausende von unterschiedlichen Gruppen und Grüppchen herum. Der Gesellschaftsfluss teilte sich im funktionalen Sinne in eine Vielzahl von getrennten Bächen, und jeder davon ist für sich genommen (wegen seiner offenbaren relativen Begrenztheit und Schwäche) nicht mehr in der Lage, einen Anspruch auf die Vorherrschaft in der Gesellschaft zu erheben, d.h. darauf, die Rolle einer Klasse oder zumindest einer Unterklasse zu spielen.

         Mit anderen Worten bedeutet das, dass die Funktionalität und die „Klassoidizität“ in dieser Epoche der totalen Spezialisierung und des allgemeinen Auseinanderklaffens nicht mehr so eng verflochten waren wie in der naiven Zeit der primären Gesellschaft, als diese nur aus zwei Teilen bestanden hatte. Die Funktionsschichten fielen mit den Klassoiden nicht mehr zusammen. Daraus ergibt sich, dass die Menschen, die das Niveau der Klassoide erreicht hatten, sich aus anderen, nicht funktionalen Gründen gruppierten. Das erforderte eine gewisse überfunktionale Gemeinsamkeit von Interessen, eine überfunktionale Vereinigung.

         Dies bezieht sich insbesondere auf neue Schichten, die im professionellen Sinne am stärksten fragmentiert sind; allerdings ist das bei allen Gruppen der Fall, die keine besonderen Einheiten von Verwaltern sind. Nur die Letzteren leiden praktisch gar nicht an ihrer beruflichen Schichtung. Trotz einer Differenzierung nach den Arten ihrer Verwaltungsarbeit sind sie so oder so gezwungen, sich im Rahmen der von ihnen verwalteten Gesellschaft zu einem einheitlichen Apparat mit all seinen innewohnenden „Reizen“ in Form der Leitung durch Einzelne, hierarchischer Unterordnung usw. zu strukturieren. Bei den Nicht-Verwaltern jedoch wird ihre Streuung über einzelne Sektoren und Berufe durch nichts kompensiert. Sie müssen die Gründe für ihre soziale Konsolidierung (mit dem Ziel, für die Einführung der ihnen gemäßen Ordnung zu kämpfen) anderweitig finden, nicht in ihrer gemeinsamen Funktionsstellung, sondern in anderen Gemeinsamkeiten und Interessen, die ganze Blöcke von Fachgruppen vereinen. Was könnte hierin zum Ausdruck kommen und was kommt tatsächlich zum Ausdruck?

DIE TOTALE WECHSELSEITIGE ABHÄNGIGKEIT Den Ausweg aus der Sackgasse weist den Menschen wiederum die intensive Arbeitsteilung, die sie vorher erst dahin gebracht hatte, genauer gesagt, der durch sie erzeugte hohe Spezialisierungsgrad unter den Produzenten. Er wird unvermeidlich durch eine vitale Abhängigkeit der hoch Spezialisierten voneinander begleitet. Natürlich verursacht ihre Konzentration auf die Herstellung eines bestimmten Produkts (z.B. Nägel oder Seife) einen enormen Anstieg der Arbeitsproduktivität in diesem Bereich (und das ist die notwendige Bedingung für die Existenz der entsprechenden Produktion). Allerdings hat das auch eine negative Folge: Keiner dieser Teilproduzenten kann sich erstens durch seiner Hände Arbeit mit allen lebensnotwendigen Produkten versorgen. Jeder produziert nur eines davon und kann die anderen Produkte jeweils nur von anderen Tätigen erhalten, die genauso wie er hoch spezialisiert sind und fremde Produkte benötigen.

Zweitens gibt es eine ähnliche Abhängigkeit bei der mehrstufigen Herstellung von komplexen Produkten, also in dem Fall, wenn die Herstellung des Endprodukts in eine Anzahl von Zwischenoperationen aufgeteilt wird, von denen jede von bestimmten Spezialisten ausgeführt wird. Alle Tätigen der späteren Phasen des Prozesses benötigen die Produkte der Produzenten der vorhergehenden Stufen als ihren Rohstoff, als Ausgangsmaterial, während die Hersteller der vorhergehenden Stufen die Produkte der Unternehmer der späteren Phasen als Verbraucher ihrer Zwischenprodukte benötigen.  

Somit können die o.g. besonderen Schichten in beiden Fällen ohne einander nicht existieren; sie können genauso wenig existieren, ohne die Produkte ihrer Arbeit auszutauschen. Einerseits benötigen sie also die Anwesenheit ihrer Kooperationspartner, andererseits ist es wichtig, dass nicht nur das gesamte Spektrum von Produkten ihrer Arbeit hergestellt wird und gefragt ist, sondern auch, dass diese frei ausgetauscht werden können. Welchen Sinn würde die Herstellung all der lebenswichtigen Erzeugnisse haben, wenn der Austausch zwischen den einzelnen Herstellern unmöglich wäre, aus welchen Gründen auch immer? Sie würden zwar ihre Seife oder ihr Erz, aber kein Brot und keine Nägel haben. Daher haben spezialisierte Hersteller ein klares Interesse am ungestörten Funktionieren des Warenaustausches.

Der aber wird insbesondere durch die zuvor erwähnten Mitarbeiter der Infrastruktur gesichert: Transport- und Lagerarbeiter, Händler aller Art usw. Allerdings ist die technische Begleitung des Prozesses nur eine Seite der Medaille. Nicht weniger wichtig ist die soziale Begleitung: Rechtliche Fragen, Schutz usw. Um es einfach auszudrücken: Die Gesellschaftsordnung sollte den Austausch nicht verhindern.

DAS WIRTSCHAFTLICHE INTERESSE IM ALLGEMEINEN Das ist jedoch nichts anderes als ein wirtschaftspolitisches Interesse. Neben dem allgemeinen Interesse aller arbeitenden Menschen, Herren ihres eigenen Unternehmens zu sein, keiner Gewalt, Plünderungen usw. ausgesetzt zu sein, brauchen die spezialisierten Hersteller entsprechend dem Charakter ihres Lebens eine Gesellschaftsordnung, die den Austausch ihrer Arbeitsergebnisse nicht erschwert, sondern erleichtert. Daran sind natürlich auch die Beschäftigten der o.g. Austausch-Infrastruktur interessiert. Es handelt sich dabei nicht um eine pure Laune, sondern um eine Lebensnotwendigkeit: Die Existenz der einen hängt davon genauso ab wie die der anderen. Was aber wollen sie denn eigentlich?

DIE ART DES AUSTAUSCHES Um das zu verstehen, ist es notwendig, die Art des Austausches dieser Epoche zu klären. Er kann in verschiedenen Arten auftreten; erstens geordnet oder spontan, zweitens je nach seinem Entwicklungsgrad, der dem Entwicklungsgrad der Produktion entspricht. Auf verschiedenen Entwicklungsstufen der Produktion erlangt der Austausch ihrer Produkte bestimmte Besonderheiten und einen bestimmten Organisationsgrad bzw. eine bestimmte Spontaneität.

         In den frühesten Stadien, als die spezialisierte Produktion noch in den Anfängen und die wichtigste Form ihrer Organisation die „planmäßige" Maßarbeit war, hatte auch der Austausch größtenteils einen primitiven Charakter, indem die Produkte direkt von Hand zu Hand ausgetauscht wurden. Allerdings machten die Weiterentwicklung der Spezialisierung (d.h. eine größere Bandbreite der Arbeits- und Produktarten) und der Übergang zu einer mehr oder weniger massenhaften Produktion diese einfachste Organisation des Austausches unmöglich. Wodurch konnte sie abgelöst werden und wodurch wurde sie tatsächlich abgelöst? Durch eine andere, komplexere Organisationsform? Natürlich nicht.

         Einerseits aus rein historischen Gründen nicht. Die Produktion der hier behandelten Epoche entwickelte sich und funktionierte vor allem spontan im Ergebnis der Tätigkeit vieler voneinander und niemand sonst abhängiger privater Produzenten. Keiner verwaltete diese Prozesse. Deshalb konnte keine Organisation des Produktaustausches entstehen. Mit anderen Worten, es gab niemanden, der die Warenverteilung unter den Produzenten kontrollierte. Die Bürokratie, die sich zu dieser Zeit auf die Verwaltung von öffentlichen Angelegenheiten spezialisierte, war natürlich vor allem daran interessiert, die gesellschaftlichen Reichtümer zu ihren Gunsten zu verteilen, aber keineswegs daran, wie sie unter den Herstellern verteilt wurden. Dies war der Bürokratie fast überall ganz egal (und wo das nicht der Fall war, ging die Produktion ganz zugrunde).

         Andererseits war eine wirksame (nicht räuberische) zentrale Produktverteilung unter den Herstellern der genannten Epoche rein technisch unmöglich. Auch heute noch, bei (a) einem unvergleichlich höheren Niveau der Vergesellschaftung der Produktion, (b) einer deutlich besseren wissenschaftlichen Durchdringung des Problems und (c) einer unvergleichlich stärker fortgeschrittenen kulturellen, intellektuellen und technologischen Ausstattung der Verwaltung, stellt das eine sehr komplexe und in vielerlei Hinsicht praktisch unlösbare Aufgabe dar, ganz zu schweigen von den Realitäten und dem Potenzial der deutlich weniger entwickelten Produktion und Verwaltung in früheren Zeiten.

         Daher war von den beiden möglichen Formen des Produktaustausches die natürliche Regulierung das einzig Akzeptable für die spezialisierten Produzenten in dieser Epoche. Mit anderen Worten heißt das „Marktregulierung“. Der Markt (An- und Verkauf) behauptete sich auch überall als führender Mechanismus der Verteilung des Reichtums zwischen denen, die ihn produzierten (jedoch natürlich nicht zwischen ihnen und der Bürokratie).

         Dabei werden die Produkte für den Verkauf hergestellt und sind somit Waren und deren Hersteller Warenproduzenten. Vermittler, die den Umsatz dieser Waren auf dem Markt erleichtern, indem sie diese an einem Ort kaufen und an einem anderen Ort verkaufen, sind Händler. Und, ich wiederhole, all diese (und einige andere) Schichten sind größtenteils gleichermaßen daran interessiert, dass die marktwirtschaftlichen Beziehungen frei funktionieren, also dass fremde Produkte frei gekauft und eigene Produkte frei verkauft werden können (egal, wie diese Produkte zu ihren „eigenen“ geworden sind, d.h. ob sie diese selber produziert oder erworben haben).

DIE KONKRETHEIT DES WIRTSCHAFTLICHEN INTERESSES Die günstigste und zugleich lebenswichtige Gesellschaftsordnung für die hoch spezialisierten Produzenten der behandelten Epoche ist also die Ordnung, die den freien An- und Verkauf sichert. Alles andere hängt auf irgendeine Weise damit zusammen. Was sind die wichtigsten Normen dieser Gesellschaftsordnung?

Für den An- und Verkauf ist es erstens erforderlich, dass kein Dritter sich willkürlich in die Beziehungen des Verkäufers und des Käufers einmischt. Er darf ihnen weder das Austauschverhältnis (den Preis) diktieren noch Anweisungen geben, wer was an- und verkauft (und folglich auch herstellt); er darf also über ihre Waren und überhaupt über ihre Mittel und ihre Arbeit nicht verfügen. Die Möglichkeit der Einmischung in das Geschäft durch Außenseiter, die ihren Willen diktieren, negiert den An- und Verkauf sowohl als Prozess (das ist dann nur die Verteilung durch einen Dritten), als auch im Hinblick auf die Gewährleistung seines Ergebnisses (derjenige, der in der Lage ist, die Art des Geschäfts zu bestimmen, ist auch in der Lage, das Spiel jederzeit neu zu spielen). Also, ich wiederhole, die erste wesentliche Voraussetzung hierbei ist, Fremde vom Geschäft fernzuhalten, und das bedeutet nichts anderes als die Unantastbarkeit des Privateigentums.

Zweitens ist auch die Gleichberechtigung von beiden Geschäftsparteien, Käufern und Verkäufern, selbst obligatorisch. Keine von ihnen darf Privilegien oder Präferenzen haben, die es ermöglichen würden, den Kontrahenten zu einem für ihn nachteiligen Austausch zu zwingen. In diesem Fall wäre das wiederum kein An- und Verkauf, sondern ein gewöhnlicher Raub. Daraus ergibt sich die Forderung nach Gleichheit von Rechten und Freiheiten, die den Bürgern die Möglichkeit gibt, über sich selbst und ihr Eigentum zu verfügen.

Kurzum, der Akt des An- und Verkaufs erfordert Freiheit in jeder Hinsicht. Man kann ihn (sinnvoll) besteuern, Zölle und sonstige Abgaben erheben, man kann verbieten, in den Kirchen und auf den Plätzen zu handeln; man darf jedoch in keiner Weise die Freiwilligkeit des Geschäfts unterbinden und dessen Gleichwertigkeit (nämlich die Befriedigung von beiden Parteien) verletzen. Andernfalls geht der Markt einfach zugrunde. Der unmittelbare An- und Verkauf sollte ausschließlich die Sache der gleichberechtigten Parteien, des Verkäufers und des Käufers, sein.

DAS POLITISCHE INTERESSE Und was ist notwendig, um alle Interventionen und Ungleichheiten zu beseitigen? Letzten Endes müssen natürlich rechtliche Normen eingeführt werden, die jedem Beteiligten Privilegien und Willkür verwehren, und deren strikte Einhaltung durch die Errichtung einer geeigneten Ordnung gewährleistet wird. Zuvor jedoch müssen diejenigen, die an einer solchen Ordnung interessiert sind (in diesem Fall die marktorientierten Gruppen), die Macht in der Gesellschaft ergreifen und sie aufrechterhalten. Es ist klar, dass ohne Machtergreifung selbst die genannten Normen nicht eingeführt und ohne Machterhaltung diese nicht erfüllt werden können, sogar wenn sie rein formal existieren sollten.

Nun, was braucht man, um die Macht zu ergreifen? Eine ausreichend große Kraft. Was braucht man, um die Macht zu erhalten? Die Fähigkeit, solch ein Verfahren der Verteilung von Kraftfaktoren zu entwickeln und zu realisieren, das die Dominanz der machtinteressierten Gruppen in der Gesellschaft gewährleistet. Ich gehe unten auf das Kraftpotenzial der Warenhersteller und anderer Marktteilnehmer ein. Vorerst konzentriere ich mich auf ihre Fähigkeit, eine für sie profitable politische Ordnung zu „produzieren". Oder, genauer gesagt, auf die Frage, ob es eine solche Ordnung überhaupt gibt. Denn es ist nicht so sehr die subjektive Fähigkeit wichtig, etwas zu „erfinden" (notfalls sagt es einem jemand anderer vor), sondern die tatsächliche Möglichkeit der Existenz einer bestimmten Ordnung an sich (erinnern wir uns nur an die Bauern mit ihrem utopischen Anarchismus). Kann es also eine Ordnung geben, in der den Bürokraten die Macht weggenommen und „unseren" Schichten gegeben wird? Ja, die kann es geben.

Wenn wir über das Problem sprechen, der Bürokratie ihre Macht zu nehmen, wird dies in der Regel durch eine beliebige Art der demokratischen Bildung von Organen der öffentlichen Verwaltung gelöst. Was gehört hierbei zum Standardsatz (ohne ins Details zu gehen)?

1)   Erstens die Wählbarkeit und Absetzbarkeit (die obligatorische Rotation) aller Verwalter, begonnen bei einer bestimmten Beamtenebene.

2)   Zweitens die sogenannte Gewaltenteilung, d.h. die Trennung von gesetzgebender, ausführender und richterlicher Staatsgewalt (die eigentlich bereits durch ihre allgemeine Wählbarkeit gewährleistet wird).

3)   Drittens eine solche Verteilung der Zuständigkeiten auf den Stufen des Verwaltungsapparates, dass keiner seine Vollmachten überschreitet, also dass Probleme, die auf lokaler Ebene gelöst werden können, eben dort gelöst werden, ohne übermäßige Konzentration der ganzen Macht und aller Ressourcen bei der höchsten Verwaltung.

Wenn diese Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden, verlieren die Verwalter ihre Macht (und verwandeln sich dadurch von den „Herren Bürokraten“ in die durch die Wähler kontrollierten Beamten).

Wenn wir jedoch über die Aneignung dieser der Bürokratie verlorengehenden Macht durch eine der potenziellen Klassen sprechen, kann das durch zweierlei erreicht werden. Zum einen durch besondere Formen der Demokratie, die diese oder jene machthungrige Gruppen begünstigen, z.B. durch die Einführung des Wahlzensus, bei dem nur Personen mit einem hohen Einkommen das Recht haben, die Verwalter zu wählen (Vermögenszensus), was in der Tat den Reichen die Macht gibt. Zum anderen durch die Fähigkeit bestimmter Gruppen (unter bestimmten Umständen), den Wahlprozess zu beeinflussen, ihre Rechte effizient auszuüben, zu wählen und gewählt zu werden usw. Wenn hierbei alle wichtigen Vorteile (zu denen z.B. wiederum der Reichtum gehört) auf der Seite „unserer" Gruppe sind, ist es nicht einmal nötig, die Gesetzgebung den „Besonderheiten“ dieser Gruppe anzupassen.

Man kann also verkünden, um (beinahe) mit Lenin zu sprechen: „Es gibt so eine Ordnung!"[23] – bei der die Macht den Verwaltern entrissen und den Regierten, vor allem den Anhängern des Marktes, übertragen wird. Es geht nur darum, diese Ordnung zu „erfinden" und zu etablieren. Ersteres wird durch die Kultur und Letzteres durch die Kraft gesichert, und in beiden Bereichen ist das Potenzial der Marktschichten ausreichend.

DIE BOURGEOISIE Die Warenhersteller und verschiedene andere Marktteilnehmer, die zusammen eine marktorientierte Gruppe bilden, haben also einen kompletten Satz von spezifischen Interessen in Bezug auf die Art der Gesellschaftsordnung und stellen damit eindeutig einen besonderen Klassoid dar, dessen Gruppenidentität, ich wiederhole, darin besteht, dass dies die Gesamtheit von den mit dem Markt verbundenen Funktionsschichten ist, die traditionsgemäß als „Bourgeoisie“ bezeichnet wird (was eigentlich falsch ist, weil das wörtlich nicht „Marktleute", sondern „Bürger", „Stadtbewohner“ bedeutet). Dafür ist dieses Wort symptomatisch, weil die Marktschichten sich zunächst eben in den Städten konzentrierten und dort die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Die Bauern wurden Farmer (und verbürgerlichten sich damit) erst später, im Zuge des Ausbaus von Städten und der wachsenden Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen.

Aber zurück zu der Tatsache, dass wir es angesichts der Bourgeoisie mit einem Klassoid zu tun haben. Unsere nächste Frage: Ist das eine Klasse? Ist die Bourgeoisie in der Lage, die Macht zu ergreifen und zu halten (indem sie die ihr gemäße politische Ordnung einführt)? Verständlicherweise geht es hier darum, ob das Bürgertum stark genug dafür ist. Womit können sich die Bourgeois hierbei rühmen?

DIE STÄRKE DER MARKTSCHICHTEN Zunächst mit mehr oder weniger Zusammenhalt. Bereits die enge Spezialisierung der Bourgeois macht sie, wie schon gesagt, voneinander abhängig und damit am allgemeinen Wohlergehen interessiert. Das beeinflusst positiv ihre Fähigkeit, in geeinter Front für die Verteidigung der gemeinsamen Interessen einzutreten. Darüber hinaus verbindet der Markt selbst die Menschen durch den nachhaltigen Austausch von Produkten ihrer Arbeit. Das ist der Ort ihrer regelmäßigen Treffen und Geschäftskontakte; im Ergebnis entstehen natürlich viel engere Verbindungen und viel vertrautere Beziehungen als z.B. bei den Landwirten, die im Rahmen der Naturalwirtschaft produzieren und voneinander nichts wissen wollen. Hinzu kommt auch die Konsolidierung der Bourgeoisie durch das räumlich enge Zusammenleben der Bevölkerung in den Städten.

         Zweitens haben wir es hier mit einer ganz anderen Qualität der Persönlichkeit zu tun. Die durch den Markt herausgebildeten Menschen sind mit den Bauern, den verängstigten Analphabeten, nicht zu vergleichen. Die Bourgeois sind in den regionalen und sogar in den Welthandel involviert; sie verkehren mit vielen Menschen, haben viel mehr Überblick, viel mehr Wissen über alles. Schließlich haben sie sogar ein anderes Auftreten: Sowohl wegen ihrer konstanten Kontakte mit den Menschen, als auch wegen der Anforderungen des Marktes selbst, wo Initiative, Einfallsreichtum, Intelligenz, Energie usw. wichtig sind. All diese Eigenschaften bilden sich bei den Marktteilnehmern heraus. Dieses kulturelle Potenzial erhöht sich mit der Entwicklung der Warenproduktion, entsprechend Wissen und Technologie. Die persönlichen Eigenschaften der Bourgeois werden im Laufe der Zeit geradezu unvermeidlich durch ein relativ hohes Niveau der Kultur ergänzt.

         Drittens übersteigen die Ressourcen der Bourgeoisie (bei einer ausreichenden Entwicklung) die Ressourcen aller anderen Gruppen in der Gesellschaft, einschließlich der Bürokratie. Einerseits produzieren die Bourgeois den größten Teil der Wirtschaftsgüter überhaupt. Andererseits hat die Produktion zwecks Verkauf das höchste Potenzial der Entwicklung und dementsprechend der Bereicherung derjenigen, die sich damit befassen.

Viertens ist es sinnvoll, die soziale Macht des Kapitals festzustellen. Genauso wie die Bürokraten ihre Diener in den Kampf schicken, sobald es brenzlig wird, stehen hinter den mittleren und großen Unternehmern nicht nur ihr Vermögen, sondern auch die von ihnen beschäftigten Arbeitnehmer - Handwerksgesellen, Arbeiter, Ingenieure, Angestellte usw., und mit der Zeit gibt es ziemlich viele davon. Der Chef kann sie zwingen, das zu tun, was er will, weil sie von ihm abhängig sind (etwa so, wie heute in Russland die Lehrer und andere Staatsbeamte gezwungen werden, die Wahlergebnisse zu fälschen, Kundgebungen für Putin mitzumachen etc.), von viel einfacheren Möglichkeiten wie der direkten Bestechung der Machthaber, der Schaffung von privat bezahlten militärischen Sicherheitseinheiten u.a.m. ganz zu schweigen.

Fünftens ist der direkte Zugang der Bourgeois zu den Waffen wichtig. Deren Produktion ist ohnehin schon immer eine Sache der Handwerker gewesen. Technologische Fortschritte in diesem Bereich haben ein weiteres dazu getan. Waffen wurden zur Sache der Großindustrie und der komplexen Massenproduktion und fielen somit unter die Kontrolle ihrer Produzenten (oder, genauer gesagt, der Produktionseigentümer). Gerade sie bestimmen letztlich, ob die Waffen überhaupt hergestellt werden und wem sie in die Hände fallen.

Sechstens führte die o.g. Entwicklung von Waffen und die Ausrüstung der Truppen damit unvermeidlich zur Umwandlung der Letzteren. Die Bürokraten mit ihren Ritterschwärmen waren nicht konkurrenzfähig gegen die reguläre Armee. Und woher wurde sie rekrutiert? Hauptsächlich aus den Vertretern des „dritten Standes": den Söhnen der Bauern, Farmer, Handwerker und anderer Vertreter des gemeinen Volkes, d.h. nicht der Bojaren, Adligen und ihresgleichen wie davor. Eine solche Armee ist keine sichere Stütze im Bürgerkrieg, also beim innenpolitischen Konflikt der Klassoide. In jedem Fall ist sie eher eine Stütze des anti- als des probürokratischen Lagers.

Siebtens ist folgende Besonderheit der (vor allem politischen) Interessen der Bourgeoisie zu betonen: Sie sind im Grunde allen anderen Gesellschaftsschichten nah, aber nicht der Bürokratie. Die Machtform der Bourgeoisie ist eine besondere Demokratie, und den Massen ist nicht so wichtig, dass sie besonders ist, sondern vielmehr, dass es Demokratie ist. Der Kampf dafür kann die Mehrheit des gemeinen Volkes mitreißen. Genauso ist es auch mit der Ideologie der Bourgeoisie, dem Hohelied auf die staatsbürgerlichen Freiheiten und die politische Gleichheit. Wer wäre schon dagegen, außer wiederum die Bürokraten? Im Kampf mit den Letzteren für das gewünschte politische System kann sich also die Bourgeoisie auf die breiten Schichten der sonstigen Bevölkerung stützen und diese als Verbündete heranziehen.

Achtens ist die Bourgeoisie selbst zahlenmäßig recht groß. Mit der Entwicklung der spezialisierten Produktion und dementsprechend des Marktes werden immer mehr Menschen zu Bourgeois; u.a. verwandeln sich die Massen der ehemaligen Bauern in Farmer. Im Prinzip wird in einer bestimmten Etappe die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder bürgerlich.

Somit ist die Bourgeoisie an sich stark und kann die Massen der nichtbürgerlichen Bevölkerung auf ihre Seite bringen.

WER IST STÄRKER? Allerdings sind die Begriffe „stark“ und „am stärksten“ nicht gleichzusetzen. Und man muss eben am stärksten sein, um die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten. Genügt die Bourgeoisie dieser Anforderung? Wer widersteht ihr dabei?

         Verständlicherweise sind das vor allem (und in den frühen Kampfetappen ausschließlich) die Verwalter: Weil gerade sie zum Zeitpunkt der Herausbildung des „Dritten Standes" an der Macht sind und weil diese Klasse in jedem Fall in der Gesellschaft präsent ist und sie verwaltet (es muss sich ja jemand professionell mit so einer wichtigen Sache befassen!) Daher ist immer die Aufgabe relevant, die Ansprüche der Verwalter zu unterbinden, jegliche Verwirrung der Regierten zu nutzen, um die Macht an sich zu reißen, umso mehr, als die Verwalter mit der Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft auch mehr Chancen dafür bekommen. Diese Klasse entwickelt sich ebenfalls in jeder Hinsicht (qualitativ und quantitativ), um den wachsenden Bedarf der Gesellschaft an effektiver Verwaltung zu decken. Der Bürokratie stehen auch immer mehr technische Mittel zur Verfügung, mittels derer sie Geist und Körper der Menschen beeinflussen.

         Dennoch bedeutet die Tatsache, dass die genannte Stärkung der Verwalter nicht von selbst (gemäß gewissen eigenen Gesetzmäßigkeiten), sondern erst nach der Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft erfolgt, dass die Letzteren sich unweigerlich schneller entwickeln. Oder, mit anderen Worten, dass die qualitative Entwicklung und das quantitative Wachstum der Bourgeoisie und ihres Leistungspotenzials schneller zunehmen als die Entwicklung und das Wachstum der Bürokraten. Die Verwalter sind nicht in der Lage, die Bourgeois in dieser Hinsicht einzuholen; früher oder später erweisen sie sich als schwächer gegenüber den neuen Bewerbern für die Vorherrschaft in der Gesellschaft.

DIE BÜRGERLICHE GESELLSCHAFTSORDNUNG Daher ist in der historischen Perspektive der Ausgang des Kampfes zwischen der Bourgeoisie und der Bürokratie vorgegeben. Die Bourgeoisie ergreift mit der Zeit die Macht in der Gesellschaft, womit sie in der Praxis ihr Recht auf den Klassenstatus bestätigt. 

Dabei findet die Machtergreifung durch die neuen Herren der Gesellschaft nicht auf dem evolutionären Weg der allmählichen Umwandlung der bürokratischen Ordnung in die bürgerliche statt, sondern von heute auf morgen, in einer historisch kurzen Zeit, in direkten gewaltsamen Klassenauseinandersetzungen, d.h. bei politischen Revolutionen, und die Bürokraten ziehen den Kürzeren.

Danach etablieren natürlich die triumphierenden Gewinner die bürgerliche oder, wenn man ihre entwickelte Form meint, die kapitalistische Gesellschaftsordnung, zu der ein großer Teil der heutigen Gesellschaften bis jetzt gehört.

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Zu guter Letzt - ein paar zusätzliche Kommentare.

DER FEUDALISMUS UND DIE SKLAVEREI Laut dem vorgeschlagenen Verständnis der phasenmäßigen Entwicklung der Gesellschaft gibt es in der Geschichte der Menschheit von der Antike bis in die Neuzeit nur eine Gesellschaftsordnung, die bürokratische, und unmittelbar danach beginnt die bürgerliche. Indessen ist es in der modernen Wissenschaft (zumindest derjenigen, die die Tradition des sowjetischen Marxismus fortsetzt) üblich zu glauben, dass es zwei vorbürgerliche Gesellschaftsordnungen gegeben hat: Die Sklaverei und den Feudalismus, und manche finden es notwendig, sogar über die dritte zu sprechen, die asiatische Produktionsweise.

         Ich werde hier diese Ansichten nicht darlegen und nicht kritisieren. Ich sage einfach, dass sie falsch sind. Asiatische und europäische („feudale") Gesellschaften sind gleich in Bezug auf den Typ der Gesellschaftsordnung; sie sind nur lokale Varianten des bürokratischen Systems. Sie unterscheiden sich nur zivilisationsmäßig, durch einzelne Besonderheiten, wie die Arten ein und derselben Gattung. Die klassische Sklaverei (natürlich die antike, eine andere gab es nun einmal nicht) nimmt hierbei eine Sonderstellung ein. Sie ist eine Art „Ausrenkung“ am Körper der Geschichte, bedingt einerseits durch die Zivilisationsbesonderheiten der antiken griechischen und römischen Gesellschaften und andererseits durch den besonderen Charakter ihres Lebensumfeldes in der entsprechenden Epoche. Wir haben hier also das Ergebnis einer ganzen Reihe von äußeren Einflüssen auf den normalen allgemeinen theoretischen Verlauf des historischen Prozesses. Genauer gesagt sind die antiken Gesellschaften mit ihrer klassischen Sklaverei das Ergebnis von vielseitigen Handelsbeziehungen im Mittelmeerraum zu jener Zeit (die auf den segensreichen Nährboden der ursprünglich individuellen Gesellschaften der Griechen und Italiker gefallen waren), der Warenproduktion und somit der Bourgeoisie. Es gab dort keine Sklavengesellschaftsordnung; sondern es gab das protobürgerliche System in einer rudimentären Form. Diese Gesellschaftsordnung konnte in der Form auch nur auf der Basis der ihr im gewissen Sinne adäquaten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen dieser Zeit und dieser Region realisiert werden.

FUNKTIONEN UND KLASSEN Ich fasse auch das Verhältnis zwischen den Klassoiden und Funktionsschichten zusammen. Das ist, wie schon gesagt, nicht ein und dasselbe, obwohl sie manchmal der Zusammensetzung nach zusammenfallen können. Es muss aber nicht sein, zum einen logisch (d.h. in Bezug auf die Definition der beiden Begriffe) und zum anderen praktisch. Bei einer vom anfänglichen Primitivismus ausreichend weit entfernten Entwicklung der Gesellschaft gehören zu Klassoiden zumeist nicht mehr einzelne Funktionsschichten (mit einem beliebigen Grad der Gemeinsamkeit), sondern ganze Gemeinschaften von ihnen, die auf einer Grundlage gebildet werden, die keinen direkten Bezug zu deren Funktionen hat.

         Darüber hinaus können die gleichen funktionellen Gruppen in verschiedenen Positionen unterschiedlichen Klassoiden angehören. Das bezieht sich z.B. auf die Eigentümer und Arbeitnehmer in bestimmten Unternehmen (ich werde darauf viel später eingehen), aber ein viel anschaulicheres Beispiel dafür sind die Bauern, die sich aus Landwirten, die im Rahmen der Naturalwirtschaft gearbeitet haben, in warenproduzierende Farmer verwandelt haben. Der Funktion nach sind sie gleich, aber im sozialen Sinne sind sie wie Klassoide (dem Charakter ihrer Interessen nach) unterschiedlich. Die Ersteren verbindet die Beschäftigung in der Landwirtschaft und die Letzteren die Herstellung von Waren zum Verkauf. Außerdem ist hier auch die Umwandlung von Bauern aus einer Unterklasse in einen Teil einer Klasse zu beobachten. Die Farmer gehören zur Klasse der Bourgeoisie und nicht zur Unterklasse der Bauern.

Schließlich möchte ich noch erwähnen, dass die Zugehörigkeit zu einer Klasse in keiner Weise mit der Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion verbunden sein kann. Das ist z.B. bei der Position des Erbadels in der bürokratischen und der Rentiers in der bürgerlichen Gesellschaft so.

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         Neben zwei Entwicklungsstadien der funktionalen und der Klassoid-Struktur der Gesellschaft gibt es also zwei Entwicklungsabschnitte der Gesellschaftsordnung, die nach den Klassen definiert und benannt werden, die diese Ordnung bestimmen. Wie sprechen von der bürokratischen und kapitalistischen (bürgerlichen) Gesellschaftsordnung. Mit deren Untersuchung werden wir uns im Folgenden befassen.

Vortrag sechs. DIE BÜROKRATISCHE GESELLSCHAFTSORDNUNG: DIE GENESIS, DAS POLITISCHE SYSTEM UND DIE MACHTERHALTENDE POLITIK

1. Die Herkunft der Bürokratie

DIE ENTSTEHUNGSGESCHICHTE Die Bürokratie besteht aus den herrschenden Verwaltern. Ihrer Herausbildung liegt die Genesis der Funktionsschicht von Verwaltern zugrunde, d.h. die Aussonderung der Gesellschaftsverwaltung zum eigenständigen Beruf. Die Funktion an sich gab es auch zuvor schon: Ohne die Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung ist jedes soziale Gebilde instabil. Allerdings wurde die genannte Funktion in der Geschichte der Menschheit lange (während der gesamten Urzeit) quasi „ehrenamtlich", unprofessionell, gewöhnlich durch ältere Mitglieder der Urgesellschaften erfüllt. Aber eines Tages (genauer gesagt, eines Jahrtausends, weil dieser Prozess recht langwierig war und außerdem in verschiedenen Regionen in unterschiedlichem Tempo verlief) änderte sich die Situation, die Verwaltung wurde zum Beruf für die entstandene Schicht der Funktionäre. Warum passierte das? (Es sei hier schon vorweggenommen, dass ich Einiges aus den vorangegangenen Vorträgen zum Zwecke einer zusammenhängenden Darlegung wiederholen werde; außerdem ist dem Leser bestimmt schon Vieles entfallen).

DIE AUSGANGSURSACHE UND DIE PRIMÄREN FOLGEN Der Hauptgrund dafür war der Übergang der Menschheit von der bloßen Gewinnung von benötigten Gütern (vor allem von Lebensmitteln) zu deren Herstellung, d.h. vom Jagen und Sammeln zur Landwirtschaft. Was hatte das zur Folge?

1)   Erstens eine beträchtliche Erhöhung der Menge der genannten Güter, die den Gemeinschaften nun zur Verfügung standen, insbesondere in den Gebieten, in denen es einen fruchtbaren Boden und ein für die Landwirtschaft günstiges Klima gab.

2)   Zweitens die Sesshaftigkeit. Einerseits ermöglichte die Landwirtschaft (im Gegensatz zum Jagen und Sammeln, was zwangsläufig mit einer halbnomadischen Lebensweise einherging), sich stabil auf ein und demselben Gebiet zu ernähren. Andererseits wurde Sesshaftigkeit wünschenswert und sogar notwendig (1) im Hinblick auf die daraus resultierenden großen Lebensmittelvorräte, die (a) zu schwer waren, um sie von einem Ort zum anderen zu transportieren und (b) eine spezielle Lagerung erforderten; (2) aufgrund der Kosten für die Landkultivierung, z.B. für die Säuberung des Landes von Steinen bzw. Holz, den Bau von Bewässerungsanlagen, Terrassen u.a.m. Konnte man das alles verlassen und weggehen, weiß Gott warum und wohin? Schließlich (3) erforderte die Landwirtschaft rein technologisch, sich auf einem bestimmten Grundstück zu befinden, zumindest während der landwirtschaftlichen Arbeitsabläufe. So hatte der Übergang zur Landwirtschaft die Menschen an bestimmte Gebiete gebunden.

SEKUNDÄRE FOLGEN UND DIE NOTWENDIGKET DER VERWALTUNG Daraus ergaben sich folgende sekundäre Folgen:

1)   Das schlagartige Wachstum der Anzahl von Menschen – die sogenannte neolithische demografische Revolution.

2)   Es entstand die Möglichkeit, dass viele Menschen auf engem Raum zusammenleben konnten. Früher, als sie sich vor allem vom Jagen und Sammeln ernährt hatten, konnten zumeist nur einige Dutzend, maximal Hunderte von ihnen zusammenleben, und nun reichte die Nahrung, die pro Quadratmeter Boden erzeugt wurde, für eine weit größere Anzahl von Menschen aus.

3)   Es zeichnete sich auch eine Tendenz zum räumlich engen Zusammenleben ab: Es waren damit nämlich kooperative Vorteile verbunden und es ging einfach darum, dass fruchtbares Land und gutes Klima nicht überall verfügbar waren. Daher zogen die Massen natürlich dorthin, wo Land und Klima am besten waren.

Im Ergebnis dessen entstanden beträchtliche Menschenansammlungen, Massensiedlungen und folglich große soziale Gebilde.  Tausende und Zehntausende von Menschen lebten fortan eng zusammen, und das führte natürlich sofort zu einer enormen Verkomplizierung ihrer Beziehungen untereinander, u.a. zu zahlreichen und vielfältigen Konflikten. Das Leben in diesem Kessel begann zu sieden und zu brodeln, was den Bedarf, die in diesen sozialen Gebilden entstehenden Unstimmigkeiten zu bereinigen, Ordnung zu schaffen und sie zu erhalten, enorm erhöhte. Sie mussten also verwaltet werden. Diese Funktion gewann hierdurch eine besondere Bedeutung, sie erforderte viel mehr Aufwand als zuvor und damit also eine berufliche Leistung. Die Aussonderung einer entsprechenden Schicht von Funktionären wurde zur sozialen Notwendigkeit.

Darüber hinaus spornte in der realen Geschichte (im Hinblick auf die Umwelteinflüsse und nicht nur auf die Logik der allgemeinen Theorie) zuweilen auch der äußere Druck dazu an: Bedrohungen durch Nachbarn, die Notwendigkeit, sich gegen Angriffe und Raub zu schützen usw. Das verschärfte das Problem, erforderte einen gewissen Zusammenhalt, die Koordination von Aktivitäten in den Gruppen, also wiederum ihre Verwaltung, wenn auch fortan mit einem spezifischen Nebensinn, zum Schutz und zur Kriegsführung. Vor diesem Hintergrund bildete sich eine besondere Art von Verwaltern: Keine Administratoren, sondern Feldherren. Das war besonders charakteristisch für spätere Gesellschaften, die in einem entwickelten sozialen Umfeld mit vielen konkurrierenden sozialen Gebilden, ihrem kulturellen Einfluss, ihrer politischen Gewalt und ihrer Attraktivität als Beuteobjekte entstanden.

DIE MÖGLICHKEIT DER VERWALTUNGSPROFESSIONALISIERUNG Das waren die Umstände, die die Notwendigkeit der Entstehung einer Schicht von Verwaltern bedingten. Allerdings sollte man sich zur logischen Abrundung die Frage stellen, ob sie überhaupt entstehen konnte. War dies unter den damaligen Umständen überhaupt möglich? Wichtig ist ja nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Möglichkeit dafür, die in unserem Fall vor allem auf die Fähigkeit der Gesellschaft hinausläuft, diese Schicht von Spezialisten zu ernähren, d.h. die Verwalter von der direkten produktiven Arbeit freizustellen (von welcher Professionalisierung sollte sonst die Rede sein?).

         Damit war, wie schon gesagt, auch alles in Ordnung. Das durch den Übergang zur Landwirtschaft bedingte Wachstum der Menge von in der Gesellschaft produzierten Gütern war völlig ausreichend, um dieses Problem zu lösen.

DAS FAZIT Und dort, wo es sowohl die Möglichkeit, als auch die Notwendigkeit eines Phänomens gibt, ist die praktische Umsetzung nur eine Frage der Zeit. Dies war auch bei der Professionalisierung der Verwaltung der Fall. Dieser Prozess war, wie schon erwähnt, sehr lang und evolutionär (das bezog sich insbesondere auf den normalen, allgemein-theoretischen Ablauf, also auf die Fälle, in denen es keine Eroberungen und keinen anderen relevanten Einfluss des externen sozialen Umfeldes gab). Im Ergebnis bildete sich eine besondere Funktionsschicht von Verwaltern, die sich dann zur Bürokratie verwandelte. In der Gesellschaft wurde das bürokratische System etabliert. Ich habe oben schon genügend über die Ursachen dessen sowie über die kraftmäßige Vorherrschaft der Bürokraten gesagt.

         Die Gesellschaft wurde dabei hauptsächlich in zwei Schichten geteilt: Die herrschende Klasse der Verwalter und die durch sie ausgebeuteten Regierten (hauptsächlich aus den Bauern bestehend), was z.B. seinerzeit einer der größten alten chinesischen Philosophen Menzius (Mengzi) feststellte, wobei er die damalige soziale Realität folgendermaßen definierte (und rechtfertigte): „Ist es denn möglich, das Reich der Mitte zu verwalten und sich gleichzeitig mit Landwirtschaft zu beschäftigen? Es gibt Beschäftigungen von großen und von kleinen Menschen... Deswegen sagt man: „Einige strengen ihren Kopf, andere ihre Muskeln an. Derjenige, der seinen Kopf anstrengt, verwaltet die Menschen. Derjenige, der seine Muskeln anstrengt, wird verwaltet. Derjenige, der die Menschen verwaltet, wird durch sie ernährt. Das ist das universelle Gesetz des Reichs der Mitte“. Und, ich würde hinzufügen, nicht nur dieses Reichs.

DIE BÜROKRATIE UND DER STAAT Erinnern wir uns nun daran, dass die Funktionsschicht der Verwalter organisatorisch nichts anderes als den Verwaltungsapparat der Gesellschaft darstellt. Daraus ergibt sich, dass die Verwandlung dieser „Diener" der Gesellschaft in deren Herren gleichzeitig die Verwandlung des o.g. Apparats in den Staatsapparat, also die Herausbildung (oder zumindest die letzte Etappe der Herausbildung) des Staates darstellt (im politisch-ökonomischen und nicht im landeskundlichen Sinne dieses Wortes). Die Bürokratie und der Staatsapparat sind im genannten Zeitraum ihrem Wesen nach ein und dasselbe. Die Genesis der Bürokratie ist auch die Genesis des Staates als des Apparats der Zwangsverwaltung der Gesellschaft. Der Staat ist genau auf diese Weise, durch die Verwandlung der Verwalter in die Herren der Gesellschaft, in die Bürokraten, entstanden.

         Jedoch sind in der Wissenschaft vor allem andere Meinungen verbreitet. Der Sowjetmarxismus stellte sich die Sache z.B. so vor, dass die Gesellschaft angeblich zuerst auf irgendeine Weise (beinahe marktmäßig!) in Reich und Arm unterteilt wurde; dann schufen die Reichen den unter ihrer Kontrolle stehenden Gewaltapparat, den Staat, um ihren Reichtum und ihre Rechte auf die Ausplünderung der Armen zu schützen. Das stimmt nicht. In der Geschichte gab es nichts davon, weder in der Theorie und umso weniger in der Praxis. Bei allen Beispielen, auf die man sich gewöhnlich beruft (und das sind verständlicherweise vor allem die probürgerlichen Realitäten der antiken Welt) handelt es sich um falsch interpretierte oder gar offen verfälschte Fakten.

         In der Tat ging der Staatsbildungsprozess, ich wiederhole, einen geraden Weg, nämlich mittels Aussonderung von Verwaltern (in Form des hierarchisch strukturierten Verwaltungsapparats) und deren anschließender Verwandlung in Bürokraten, die mit dem Staatsapparat gleichzusetzen sind. (Im Übrigen war die Situation genauso, als die Bourgeoisie der Bürokratie die Macht abgenommen und sie in Beamte verwandelt hatte. Der Staatsapparat blieb jedoch nichts anderes als eine Klasse der Verwalter; diese Klasse (Apparat) ist nun allerdings unter der Kontrolle der Bourgeois und führt deren Willen aus).

DIE ZUSAMMENFASSUNG UND DIE WEITERE AUFGABENSTELLUNG In verschiedenen Regionen der Erde, mal früher, mal später, je nach den Bedingungen, entstanden also mit dem Aufkommen der (vor allem landwirtschaftlichen) Produktion große funktional strukturierte Vereinigungen von Menschen, die Gesellschaften, die in der ersten Etappe überall durch die Verwalter (Bürokraten) als Herren geführt wurden. Sie legten die Ordnung fest, die sie persönlich benötigten, und darum heißt diese erste Etappe die bürokratische Gesellschaftsordnung. Alle Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit haben diese Etappe hinter sich gelassen. (Die primitiven Stämme der Buschmänner, Polynesier u.a. fallen hierbei selbstverständlich nicht ins Gewicht; weil sie eben keine Gesellschaften sind, haben sie dieses Niveau noch nicht erreicht). Viele Gesellschaften, darunter auch Russland, gehören bis jetzt zu diesem System.

         Gleichzeitig entstanden und existierten verschiedene bürokratische Gesellschaften erstens in unterschiedlichen natürlichen (damit ist die Herausbildung ihrer Zivilisationsunterschiede verbunden) und insbesondere sozialen Außenbedingungen und zweitens bei unterschiedlicher Entwicklung dieser Gesellschaften selbst. Eine Sache ist es, die Untertanen zu schützen und sich gegen externe Banditen wie seinesgleichen zur Wehr zu setzen und eine ganz andere, die bürokratische Ordnung aufrecht zu erhalten, „umgeben von Feinden"[24] , d.h. von bürgerlichen Gesellschaften. Eine Sache ist es, in einer traditionellen bäuerlichen Gesellschaft zu herrschen, wo es keine besondere Mühe erfordert, und eine ganz andere, dort, wo die Städte, die Bourgeoisie, die Industrie, das Proletariat und andere gefährliche Dinge entstanden sind. Hier muss man sich nolens volens bewegen, sich an diese unerwünschten schwierigen „Wetterbedingungen“ anpassen; man muss sich anpassen und die bürokratische Ordnung als eine besondere, „sozialistische" oder „souveräne"[25] „Demokratie“ tarnen.

Daraus ergeben sich die sowohl rein formalen, als auch inhaltlichen Unterschiede der bürokratischen Regime. Im Großen und Ganzen bleibt die Bürokratie dennoch immer dieselbe; sie verfolgt die gleichen Ziele und nutzt ähnliche Mittel, um diese zu erreichen. Eben diese wichtigsten Ziele und Mittel sind jetzt zu behandeln. Wodurch wird die Bürokratie überhaupt charakterisiert? Welche Ordnung etabliert und verteidigt sie?

2. Das politische System

WAHLEN? DAS KÖNNTE EUCH SO PASSEN! Auf politischem Gebiet besteht das allgemeine Interesse der Bürokratie verständlicherweise darin, ein System aufzubauen, zu reproduzieren und zu schützen, das ihre Macht sichert. Mit anderen Worten, ein System, bei dem diese Klasse die Gesellschaft kontrolliert, und nicht umgekehrt. Was bedeutet das? Wie kann das erreicht werden? Was ist hierbei das Wichtigste? Um das zu verstehen, gehen wir im gegenläufigen Sinn vor.

Wie kann denn eine Gesellschaft, d.h. deren andere Schichten und Klassen, den Staatsapparat mit seinen Gewaltinstrumenten, materiellen Ressourcen und sonstigen Potenzialen kontrollieren? Und zwar nicht vorübergehend, nicht während eines Aufstandes und des Sturzes der „Herren Verwalter“, die zu weit gegangen waren, sondern dauerhaft. Meutereien oder die Drohung damit sind ja keine Kontrollmittel; sie bringen nicht die Aufrechterhaltung einer antibürokratischen Ordnung, sondern die Zerstörung jeglicher Ordnung. Es gilt also, ein Kontrollmittel zu finden, das den Staatsapparat im Zaum hält, so dass eine egoistische unsoziale Politik eine sofortige Entlassung bedeuten würde.

Ein solches Kontrollmittel sind regelmäßige Wahlen. Die Einführung der Wählbarkeit ist der erste und wichtigste Schritt zur Machtenthebung der Verwalter. Sie ist das Herz des politischen Systems namens Demokratie. Unter dem Prinzip der Wählbarkeit von Beamten hängt die Frage, ob sie einen Posten bekleiden oder nicht, vom Willen ihrer Wähler ab, und ihre Politik kann daher die Bedürfnisse der Massen nicht völlig ignorieren, absolut egoistisch sein und nur die privaten Interessen eines konkreten Verwalters oder die Interessen seiner Klasse als Ganzes verfolgen. Schlägt man hierbei über die Stränge, sei es durch ein Gesetz oder eine Entscheidung im Widerspruch zu den Interessen der Wähler, dann findet man sich sofort auf deren Platz wieder und wird zu einem einfachen Bürger.

Und umgekehrt, eine mangelnde Kontrolle der Verwalter setzt voraus, dass sie nicht gewählt, sondern auf ihren „Kampfposten“ durch Anwendung von Gewalt eingesetzt werden. Wenn die Verwalterklasse ihre Dominanz erhalten will, darf sie nicht zulassen, durch die regierte Bevölkerung wählbar zu sein, sondern sie muss sich selbst an die Stelle des Staatsapparats setzen, der die Gesellschaft verwaltet. Natürlich bedeutet dies durchaus nicht, dass man auf verschiedene kleine „Hilfen“ verzichtet (die Verbreitung paternalistischer Erwartungen, die Erinnerung an Gottes Willen, das Geschrei über „geheiligte Prinzipien“ und über den besonderen „Nutzen“ der Monarchie etc.); so etwas wird geradezu begrüßt. Aber letztlich behauptet sich die Bürokratie an der Spitze der Gesellschaft einfach durch Gewaltanwendung. Sie hängt also bezüglich ihrer Position nicht vom Willen des Volkes ab, sondern im Gegenteil, sie zwingt ihm ihren Willen auf.

DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEN VERWALTERN Auf die gleiche Art und Weise bilden sich auch die Beziehungen innerhalb der gegebenen Klasse heraus. Auch hier entscheidet alles die Stärke, sowohl bezüglich der Tatsache, wer überhaupt dem Staatsapparat angehören soll, als auch bezüglich dessen, wer welche Position einnimmt. Natürlich behauptet sich bei solchen Szenarien der Stärkste an der Machtspitze, gefolgt von den Schwächeren (in seiner unmittelbaren Umgebung), bis hin zu den ganz kleinen Fischen auf der untersten Stufe des Verwaltungsapparates. Der jeweilige Platz im Staatsapparat wird durch das Kräfteverhältnis bestimmt; folglich wird die gesamte genannte Klasse auf natürliche Art und Weise in Form einer Krafthierarchie (Pyramide) aufgebaut.

Merkwürdig ist dabei, dass dies nicht nur das Kräfteverhältnis der Mitglieder der gegebenen Klasse widerspiegelt, sondern auch z.T. den Aufgaben der Verwaltung selbst als Funktion entspricht, die genauso eine hierarchische Organisation erfordert, wenn Entscheidungen getroffen, Befehle erteilt und ausgeführt werden. Es ist also eine gewisse Harmonie zwischen der Organisationsform der Bürokratie und den Erfordernissen der Verwaltung zu vermerken.

DER POLITISCHE CHARAKTER DER KLASSE Alles oben Dargestellte ist nicht zufällig; es spiegelt die Tatsache wider, dass die Bürokratie nach ihrer Funktion und Stellung in der Gesellschaft eine rein politische Klasse ist. Die Bourgeoisie z.B. hat erstens nur eine indirekte Beziehung zur Politik; ihre Sache ist die Produktion, die wirtschaftliche Tätigkeit. Sie beschäftigt sich als Klasse nur unprofessionell mit der Politik, bei den Wahlen, als Wählerschaft, die den Schutz der für sie günstigen Ordnung benötigt und die deswegen die Beamten mit der Demokratie terrorisiert. Die Bourgeois selbst befinden sich hauptsächlich außerhalb der Verwaltungsorgane und befassen sich nach wie vor mit ihrem Hauptgeschäft. Bei Bürokraten (und bei Verwaltern überhaupt) ist es anders: Sie sind geschlossen, mit Leib und Seele in der Politik. Das ist ihr Hauptgeschäft: Verwalten, politische Entscheidungen treffen, Befehle erteilen und diese ausführen.

         Zweitens hat die Bourgeoisie ihre Fabriken, ihre Geschäfte, ihr Eigentum, ihren Reichtum hinter sich. Dies ist nicht nur eine wichtige Quelle ihrer Kraft und ihres Einflusses, sondern auch die Grundlage ihrer Unabhängigkeit vom Staat und voneinander. Für die Bourgeoisie ist eben dieser Eigentumsstatus wichtiger als ein Platz im Staatsapparat. Die Bürokraten haben jedoch nichts dergleichen hinter sich; sie haben nur ihre Posten und die damit verbundenen Befugnisse. Eben das und nur das macht sie zu den Mitgliedern ihrer Klasse. Ohne Posten ist man kein Verwalter mehr. Und um einen Posten zu bekommen, braucht man (bei Nichtexistenz von Wahlen) anfangs nur Kraft. Sowohl die Position dieser Klasse in der Gesellschaft als auch die Position eines einzelnen Verwalters im Staatsapparat wird durch Stärke bestimmt. Hinter den Bürokraten, vor allem den „klassischen“, steht letzten Endes nur ihre unmittelbare Kraft (die Anzahl der Kämpfer, über die sie verfügen). Ihr Kampf sowohl mit den anderen Klassen der Gesellschaft, als auch untereinander (darum, wer am Kopfende des Tisches sitzen soll) wird letztlich auf dem Schlachtfeld, sozusagen im kriminellen Gezerre ausgetragen. (Kein Wunder, dass die Bürokraten leicht eine gemeinsame Sprache mit den Banditen finden: Sie sind vom gleichen Schlage).

DAS ERNENNUNGSSYSTEM Der bürokratische Staatsapparat ist also, ich wiederhole, hierarchisch aufgebaut. Oben befinden sich die Stärkeren, unten die Schwächeren. Das bedeutet, dass diejenigen, die unten sind, nur mit Zustimmung derjenigen, die oben sind, zum Staatsapparat gehören. Während in einer Demokratie die Zugehörigkeit zu den Verwaltern durch den Willen der Wähler bedingt ist, wählen im bürokratischen System im Gegenteil die Chefs ihre Untergebenen, also die Mitglieder des untenstehenden Apparats. Das System wird in der Tat nicht durch Wahlen, sondern durch Ernennung geprägt (obwohl ja rein formal derjenige, der seine Untergebenen ernennt, diese, könnte man  sagen, aus einer Reihe von möglichen Kandidaten wählt).

Die bürokratische Bildung des Apparats besteht eben in diesem Verfahren der Ernennung von untergeordneten Stellen durch übergeordnete. Eigentlich ist das nichts anderes als ein System des Vasallentums. Die Chefs ernennen hierbei Untergebene im Bereich der gesamten hierarchischen Dienstpyramide, natürlich außer in den beiden Randstufen, der niedrigsten und der höchsten. Am unteren Ende wird niemand ernannt, weil diese Stufe bereits direkt an das gemeine Volk angrenzt, und den Obersten kann im Gegenteil niemand ernennen, denn er ist ja der Stärkste. Wer sollte ihn denn  ernennen? Er ist ja sakrosankt (Es geschah relativ selten, dass  Zaren durch Gremien der Adligen, geschweige denn durch Volksversammlungen gewählt wurden). Dann wird die Ernennung de facto, de jure und auch ideologisch bekräftigt. Erstens durch die Einführung von Rechtsnormen durch den Stärksten (unterstützt durch seine Satrapen und mit Zustimmung des größten Teils der Bürokratie).

         Zweitens geschieht das durch der Gesellschaft aufgezwungene Sichtweisen über „das universelle Gesetz des Reichs der Mitte“, über die Legitimation des Monarchen als des Herrschers „von Gottes Gnaden“ (was durch seine Salbung zum König durch „Stellvertreter Gottes auf Erden“, Päpste, Gebieter und andere kirchliche Würdenträger aller Art anschaulich bekräftigt wird). So werden mit der Zeit die Oberhoheit und die damit verbundenen Machtbefugnisse des Hauptbürokraten einerseits als traditionell und heilig angesehen und von allen bedingungslos anerkannt und andererseits als lebenslänglich und vererbbar behandelt. Manchmal kann deswegen nicht einmal der stärkste Bürokrat an die Spitze des Apparats gelangen: Die Autorität der etablierten Tradition überwiegt in den Augen der Untertanen oft die reale Macht. Die Unterstützung durch die „Volksmeinung“ sowie die Bereitschaft der Massen, sich einer konkreten Person unterzuordnen, sind ja auch nicht zu unterschätzen.

DIE WURZEL DER MACHT Ich betone noch einmal, dass das Recht, die Apparatschiks zu ernennen und zu entlassen, nichts anderes ist als das Mittel, diese zu kontrollieren. Das ordnet sie dem Willen dessen unter, der über dieses Recht verfügt, in unserem „bürokratischen“ Fall also den übergeordneten Stellen. Genauso wie in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung die Bevölkerung die Staatsdiener durch deren Ernennung nach Wahlen abhängig macht, hängen in der bürokratischen Gesellschaftsordnung die Verwalter von denjenigen ab, die sie ernennen. Die ernannten Verwalter haben ihren Schirmherren sowohl die Zugehörigkeit zum Apparat an sich und die Position darin, als auch die Chancen zu verdanken, die Karriereleiter hinaufzugelangen oder (leider) hinunterzufallen. Solche Menschen hängen natürlich am Mund ihrer Gönner und unterstützen sie direkt in ihrem Kampf um einen Platz auf dem „Verwalter-Olymp“. Und umgekehrt: Es ist klar, dass die Gönner ihre Untergebenen (Vasallen) nicht nach der Augenfarbe (und nicht einmal nach ihrer beruflichen Eignung, höchstens nach ihren kämpferischen Qualitäten), sondern nach der persönlichen Loyalität auswählen. Die Schirmherren sind vor allem an der Stärkung ihrer eigenen Position im Kampf um die Macht interessiert, und das wird einerseits durch die Anzahl der Untergebenen bestimmt (wer mehr „Kämpfer“ hat, der ist stärker). Das hat eine ständige unkontrollierte Aufblähung jeglichen Verwaltungsapparats zur Folge. Andererseits ergibt sich diese Stärkung aus der persönlichen Ergebenheit der „Kämpfer“ ihrem „Heerführer“ gegenüber.

         Daher ist das Recht (und vor seiner gesetzlichen Festlegung die praktische Möglichkeit), untergeordnete Apparatschiks zu ernennen, der wichtigste Machthebel. Dementsprechend hält derjenige, der diesen Hebel besitzt, d.h. der „Personalleiter“, die Antriebsriemen der Macht in seinen Händen. Die Machthierarchie ist nichts anderes als die Hierarchie der Ernennungen. Der gesamte Staatsapparat ist dem „Obersten Ernenner“ unterstellt. Und als der Führer der Bürokratie erweist sich immer (wenn nicht gleich, dann doch letzten Endes) der „Personalleiter“, also derjenige, der tatsächlich die anderen Apparatschiks ernennt.

WER HAT DIE REALE MACHT IM BÜROKRATISCHEN SYSTEM? Dies wird durch folgende Fakten deutlich .

         Wie wird das Recht (die Möglichkeit) zu ernennen erworben? Im Allgemeinen, wie gesagt, wird es mit Gewalt erobert. Aber alles Weitere kommt auf den Grad der Spezialisierung konkreter Bürokratien an. Im klassischen Fall, d.h. in den antiken und mittelalterlichen Gesellschaften, in denen der Verwaltungsapparat noch kaum differenziert ist, gehören die Personalangelegenheiten zusammen mit allen anderen Befugnissen und Aufgaben zum Vorrecht ihres Oberhaupts (des Zaren, Königs, Pharaos, Padischahs, Wangs, Kaisers etc.) Jedoch in komplexeren Gesellschaften, in denen der Staatsapparat erstens zahlenmäßig viel größer ist und zweitens beruflich in Abteilungen aufgeteilt werden muss, bilden die Personalverantwortlichen manchmal auch eine Sonderabteilung der Apparatschiks mit ihrem jeweiligen Leiter. Bei fehlender Demokratie reißt sich eben diese Mannschaft allmählich die ganze Macht in der Gesellschaft unter den Nagel und eben deren Führer wird zum höchsten Machthaber in der jeweiligen Bürokratie. Das geschah so zum Beispiel mehrmals in Sowjetrussland.

         Warum bezwang der durch nichts brillierende Stalin mit seiner Truppe von Mittelmäßigen im heftigen Clan-Kampf die deutlich talentierteren und angeseheneren Trotzki, Kamenew, Sinowjew, Bucharin und ihresgleichen (die darüber hinaus leitende Staatsposten bekleideten)? Ganz einfach: Weil den „Eisenhintern“ (Lenins Aussage über Molotow) ganz naiv die langweilige Angelegenheit der lokalen Personalarbeit anvertraut worden war. Im Ergebnis setzten sie überall ihre Anhänger ein und sicherten sich damit eine Mehrheit in allen leitenden Behörden und bei allen Parteitagen.

         Warum überrollte der törichte Chruschtschow die viel einflussreicheren Malenkow, Molotow, Woroschilow und andere? Aus dem gleichen Grund. Man hätte ihn nicht auf den „sekundären“ (so hieß das in der damaligen Rangordnung: Seine ungebildeten Mitstreiter hatten ja keine Lehren aus Stalins Erfahrung gezogen) Posten des Leiters des ZK-Sekretariats setzen sollen, ihm also nicht wiederum die gleiche langweilige und „rein technische“ Arbeit mit dem Personal überlassen sollen. Natürlich wiederholte sich die Geschichte eins zu eins. In Kürze bekleideten Chruschtschows Schützlinge alle lokalen Posten, und Molotow, Woroschilow u.a. wurden in den Ruhestand versetzt.

         Aber noch amüsanter ist, dass auch Chruschtschow selbst aus seinem politischen Erfolg keine Lehren zog. Er ließ sich zu internationalen Auftritten hinreißen und vertraute damit letzten Endes Breschnew die Rolle des Personalleiters an; die (für Chruschtschow) traurigen Folgen blieben natürlich nicht aus (wobei sicher auch die allgemeine Unzufriedenheit der Bürokratie mit Chruschtschows Politik viel zu seinem Sturz beigetragen hat).

         Ich wiederhole, in jedem bürokratischen System herrscht in Wirklichkeit derjenige (oder hat die größten Siegeschancen im Clan-Kampf, bis alles bereinigt ist), der für die Kader-Ernennung zuständig ist und überall seine Anhänger einsetzen kann, und durchaus nicht derjenige, der den Apparat de facto leitet, also die Entscheidungen trifft, Anweisungen gibt und für deren Umsetzung sorgt, ohne jedoch dabei über Personalbefugnisse zu verfügen. Aber viele Leute lassen sich eben durch die äußeren Machtmerkmale irreführen und glauben, dass die Macht nur dadurch gekennzeichnet ist. Diese scheinbare Macht überschattet in unseren Augen oft die tatsächliche.

ZUSAMMENFASSUNG Das politische System der Bürokratie zeichnet sich also durch zwei wesentliche Punkte aus. Zum einen hat diese Klasse (der Staatsapparat) eine hierarchische Struktur, die nicht nur den Anforderungen der Verwaltungstätigkeit entspricht, sondern auch eine Hierarchie der Stärke ihrer Mitglieder widerspiegelt. Daher befindet sich natürlich der stärkste Bürokrat an der Spitze dieses Zikkurats (Stufenpyramide), der damit über die maximal möglichen Befugnisse verfügt und in seiner Macht vollkommen ist (die Macht ist eben gleich der Stärke, der Fähigkeit, den anderen seinen Willen aufzuzwingen). Im Idealfall handelt es sich hierbei um einen Diktator, der tun und lassen kann, was ihm in den Sinn kommt. Mit anderen Worten, wir haben hier eine harte Zentralisierung der Verwaltung, die sog. „Machtvertikale“, worin letztlich alles vom höchsten Hierarchen „handgesteuert“ wird und von seinen Launen abhängt (natürlich nur insoweit, als es die Dominanz und das Wohlergehen seiner Klasse im Allgemeinen nicht bedroht, d.h. den Basisschichten des Apparats nicht schadet und den Führer dann ohne deren Unterstützung lässt).

         Zum anderen ergibt sich aus der gleichen hierarchischen Machtstruktur der Bürokratie, dass ihre schwächsten Mitglieder nur nach dem Willen der stärkeren so schwach sind. Die Vorgesetzten entscheiden hierbei, wer die niedrigeren Stufen des Zikkurats besetzt; mit anderen Worten, diese Vorgesetzten sind es, die für entsprechende Ernennungen zuständig sind. Die Machtverteilung innerhalb des Staatsapparats kommt eben in der Ernennungshierarchie zum Ausdruck und läuft letztlich immer darauf hinaus. Derjenige, der ernennt, ist für den zu Ernennenden der Chef, d.h. der Oberherr.

         Ebenso kommt die Herrschaft dieser Klasse in der Gesellschaft in deren Selbsternennung zum Ausdruck. Sie „ernennt“ sich selbst zum Verwalter, d.h. sie maßt sich wiederum das Recht an zu verwalten. Das einfachste zeitnahe Beispiel für eine solche gewaltsame Machtergreifung ist die Entfernung von Wahlbeobachtern mit Hilfe der Polizei. In so einer Situation ist die Bürokratie gegenüber der Bevölkerung natürlich weder kontroll- noch rechenschaftspflichtig; im Gegenteil, sie ist machtvollkommen.

         Dabei erfolgte die genannte Selbsternennung in der klassischen Epoche des Bürokratismus vorwiegend von selbst, ohne besonderen Aufwand. Zu dieser Zeit dachte einfach niemand an Demokratie. Was für Wahlen hätte es auch in der primitiven und atomisierten Bauerngesellschaft geben können? Sie wären technisch einfach unmöglich gewesen, ganz zu schweigen von den weit wesentlicheren Hindernissen: der Ignoranz, völliger politischer Ohnmacht und Armut der Bauern. Tatsächliche Probleme erschienen bei der Klasse der Verwalter erst dann, als die Entwicklung der Produktion neue soziale Schichten mit Machtansprüchen hervorbrachte, als also die sogenannte Zivilgesellschaft entstand. Hier musste (und muss bis jetzt) die Bürokratie schon strampeln, indem sie sich auf jede Art und Weise gegen die Übergriffe auf das Allerheiligste, die Selbsternennung (sprich auf die Dominanz in der Gesellschaft) wehrt. Wie tut sie das?

3. Die Monopolisierung von Kraftfaktoren

DER SPRINGENDE PUNKT Jede Politik, die auf die Aufrechterhaltung der Macht einer bestimmten Klasse gerichtet ist, läuft letztlich, wie oben erwähnt, auf eine  Verteilung von Kraftfaktoren hinaus, bei der die Herren so viel wie möglich und die Ausgebeuteten und Unterdrückten so wenig wie möglich solcher Faktoren besitzen. Das Gleiche tun selbstverständlich auch die Bürokraten. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, sich selbst zu stärken und die Untergebenen zu schwächen, und zu diesem Zweck wird ein ganzes Arsenal von Tricks verwendet (einschließlich der Verabschiedung von einschlägigen Gesetzen und deren Durchsetzung).

DIE BE- UND ENTWAFFNUNG Der einfachste und naheliegendste dieser Tricks ist die Bewaffnung der Herren und die Entwaffnung der Untergebenen, also die Monopolisierung des Rechts auf Waffenbesitz. Zu allen Zeiten haben die Bürokraten darauf genau geachtet; sie verwehren allen außer sich selbst den Waffenbesitz, sprich die Anschaffung, Lagerung und vor allem den Gebrauch von Waffen. Im Mittelalter wurde das gemeine Volk für Vergehen dagegen auf der Stelle bestraft, und auch heute wird das in den Strafgesetzbüchern als Verbrechen betrachtet. Der Zugang von Nichtbürokraten zu  Waffen ist streng begrenzt, gewiss unter dem passenden Vorwand der öffentlichen Sicherheit: „Was sagen Sie! Wie sollte das denn erlaubt sein?! Sie werden sich doch gegenseitig über den Haufen schießen!“

DIVIDE ET IMPERA Der nicht weniger alte und beliebte Trick ist Politik nach der Maxime „Divide et impera“. Diese Taktik ist überhaupt der Lieblings-Dreh der Bürokraten (genauso wie der aller anderen „Hegemonen“), ihr Firmenzeichen, ihr Klassiker. Sie benutzen ihn auch bei ihren internen Querelen. In Bezug auf die Gesellschaft wird die genannte Taktik ebenfalls „am laufenden Band“ angewendet.

         Doch zunächst, ich wiederhole, brauchte man kaum jemanden zu „spalten“ : die Bauern waren ohnehin desintegriert. Aber mit der Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft, mit dem Auftreten von unerwünschten Bourgeois und anderen Bürgern, die zivilgesellschaftliche Keime darstellten, erlangte die Politik der Desintegration der untergebenen Bevölkerung, der Volksverhetzung, für die Bürokraten eine besondere Relevanz und wurde zur Tradition. Insbesondere in der Sowjetunion wurden immer wieder Bauern und Bourgeois, Arbeiter und Bauern, Jugendliche und ältere Leute, Gläubige und Ungläubige usw. gegeneinander ausgespielt. Auch in der Neuzeit wurde diese Taktik wieder angewendet, sobald unsere modernen Bürokraten eine Bedrohung ihrer Macht durch die nächstbesten „zornigen Bürger“ verspürten[26].

IHR SEID KLEINE LEUTE, VON EUCH HÄNGT NICHTS AB Ein anderer taktischer Schachzug, die Untergebenen zu schwächen, ist die Unterdrückung all ihrer Versuche, unabhängig zu sein. Die Bürokratie gibt sich Mühe, den Regierten jegliche Möglichkeit und selbst den Wunsch zu entziehen, etwas selbst, ohne ihr Wissen, ihre Erlaubnis und ihre „feinfühlige Führung“ zu tun. Sie stellt sich extrem feindselig gegen jede Initiative der Bevölkerung (z.B. gegen Aktionen der Ehrenamtler) und versucht, so gut es geht, diese im Keim zu ersticken („Stört die Profis nicht!“). Die Bürokratie hämmert den Menschen (sowohl praktisch, als auch durch ihre Propaganda) eine einzige (für sie unbezahlbare) Maxime ins Bewusstsein, dass alles, was nicht erlaubt, verboten ist. Wenn es keine Genehmigung des jeweiligen Vorgesetzten gibt, dann geht es auf keinen Fall! Initiative ist strafbar! Jede Aktivität darf nur mit höchster Genehmigung und unter der direkten Aufsicht des nächsten Polizisten existieren.

         Hilflose Menschen, die es nicht wagen (und im Idealfall auch gar nicht können), einen Schritt ohne Anweisung von oben zu machen, - das ist der sehnlichste Wunsch der herrschenden (im Übrigen eigentlich aller) Apparatschiks. Sie brauchen eine Herde, in der sie die Hirten sind, und tun alles dafür. Die Bürokraten legen es darauf an, das Leben ihrer Untergebenen selbst in jenen Bereichen zu regeln, die scheinbar ganz privat sind. Ich meine, dass sie nicht nur die Menschen daran hindern bzw. ihnen verbieten, irgendetwas selber zu tun, sondern sie bemühen sich, alle ihre Aktionen zu lenken. Die Bürokratie ist bestrebt, sich mit ihren Fühlern so weit wie möglich ins Leben der Menschen hineinzudrängen; sie dringt mit ihren Regeln und Verordnungen durch alle Ritzen ein, bis hin zu den Anweisungen, wer wen lieben und wer mit wem schlafen darf. Mit anderen Worten, die Bürokratie versucht auf jede erdenkliche Art und Weise, den Umfang ihrer Befugnisse zu erweitern und den Verwaltungsgrad der ihr untergeordneten Gesellschaft zu erhöhen.

DER WIDERWILLE GEGEN DIE BOURGEOISIE Aus diesem Grunde sind die Bürokraten gegen die Bourgeoisie eingenommen und treten gegen den Markt und das Privateigentum (natürlich außer ihrem Eigentum) mit Härte auf. Dieser Widerwille entsteht bei ihnen rein instinktiv, lange bevor das Bürgertum stark genug wird, um sich in den Kampf um die Macht einzulassen. Es reicht, dass die Bourgeoisie eine Klasse von Individualisten ist, initiativreich und unabhängig schon nach der Art ihrer Aktivitäten. Der Markt und das Privateigentum bilden die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit vom Staat. Die Bourgeoisie braucht keinen „guten Zaren“. Sie verlässt sich immer nur auf sich selbst. Die Bürokratie fühlt sich deswegen tief gekränkt und kämpft mit der Bourgeoisie, so gut sie kann, bis hin zu ihrer vollständigen Vernichtung als Klasse.

HINDERNISSE FÜR DIE BILDUNG DER ZIVILGESELLSCHAFT Aber zurück zur Politik der Bürokratie bezüglich der Verteilung von Kraftfaktoren. Worum noch versucht sie ihre Untergebenen zu bringen? Ihr nächstes Ziel an diesem Schießstand ist die Selbstorganisation der Bevölkerung.

         Der hohe Organisationsgrad von Regierten ist für die Bürokraten noch gefährlicher als deren Selbständigkeit. Das wäre ja gar ein Schritt in Richtung Selbstverwaltung, also die Negation des Bedarfs an Verwaltern an sich, ein Attentat auf das Allerheiligste. Allerdings ist für uns der Organisationsgrad nur als Kraftfaktor wichtig. Die durch die Organisation vereinten Massen bedeuten eine direkte Bedrohung für die Allmacht des Staatsapparates. Man darf also deren Selbstorganisation auf keinen Fall zulassen. Daher unterdrückt die Bürokratie sie mit allen Mitteln (bis hin zu Erschießungen), unter jedem ​​Vorwand (bis hin zu eklatanter Demagogie in der Art: „Nicht kommerzielle Organisationen[27] sind ausländische Agenten“) und in allen Formen (begonnen schon beim einfachsten Ausdruck organisierter Aktivitäten von Bürgern wie Kundgebungen, Versammlungen, Demonstrationen usw.).

         Die Bürokratie errichtet Hindernisse für die Bildung der Zivilgesellschaft überall, wo es möglich ist, in welcher Form auch immer eine solche Gesellschaft aufkommt. All diese Ehrenamtler, Menschenrechtler, Mütterverbände etc. sind für die Bürokraten wie eine Gräte im Hals. Also weg mit ihnen! Verbieten, zerdrücken, Regeln aufstellen, dass sie nicht mehr atmen können oder, wenn sich eine Chance bietet, einfach vernichten. Das Richtigste wäre, alle Initiativen im Keim zu ersticken (wie das in der Sowjetunion der Fall war), ohne überhaupt darauf zu achten, was genau da wächst. Die Selbstorganisation muss im Idealfall in allen ihren Formen, nicht nur in den zivilen, sondern auch den nationalen, religiösen, ethnokulturellen, beruflichen usw. unterdrückt werden. Je desintegrierter die Massen sind, desto besser für die Bürokraten.

WENN MAN EINE BEWEGUNG NICHT VERNICHTEN KANN, DANN SOLL MAN DIE REGIE ÜBERNEHMEN Und wenn die Kräfte nicht ausreichen, um die Organisation der Untergebenen komplett auszulöschen, eignet sich ein Trojanisches Pferd unter dem Motto „Wenn man eine Bewegung nicht vernichten kann, dann soll man die Regie übernehmen“ - und diese Bewegung in die richtige Richtung führen. Das ist auch ein alter und bewährter Trick.

         Dies wird realisiert einerseits durch das Eindringen in die Führung von Massenorganisationen, durch Bestechung ihrer Führer, durch Provokationen, durch Verbreitung falscher Informationen, die dafür ausgelegt sind, einen überraschenden Effekt zu erzielen, und andererseits durch die Schaffung von Fake-Strukturen, die die Selbstorganisation der Bevölkerung imitieren, die breite Masse verwirren und ihr die Freude daran nehmen, mit solch einer unklaren Sache überhaupt etwas zu tun zu haben. Die Bürokratie hat es gern, wie gesagt, zum einen die Initiative an sich zu reißen, alle Vorhaben der Menschen unter ihre Kontrolle zu bringen (und diese Vorhaben je nach Umstand auszuhöhlen). Zum anderen versuchen die Bürokraten, alle, die sie betrügen können, zu mobilisieren, für sich zu gewinnen (und dann natürlich diesen Teil der Gesellschaft auf ihre politischen Gegner loszulassen).

NUR EIN DUMMER INDIANER IST EIN GUTER INDIANER[28] Der Schlüssel zum Erfolg all dieser Aktivitäten sind die Unwissenheit und Knechtschaft der Massen. Gebildete Menschen sind nicht so leicht zu täuschen. Man kann ihnen nicht schwarz für weiß vormachen; man kann sie nicht mit dem kurzen Kommando „Fass!" auf die Gegner des Regimes loslassen. Daher sind die Bemühungen der Apparatschiks verständlich, die Untergebenen hinters Licht zu führen, die Bildung abzubauen und zu klerikalisieren und gegen Aufklärung, Wissenschaft, überhaupt gegen Intellektuelle (die, die sich nicht kaufen lassen) als Träger von Kultur, Wissen und anderen (für Bürokraten) unangenehmen Dingen zu kämpfen. Verständlich ist auch der Wunsch der Bürokraten, die Köpfe mit der für sie günstigen Ideologie heiß zu machen: In einem Fall mit einem falschen Marxismus, im anderen mit Religion (die natürlich der Herde mit der nötigen Sauce serviert wird). Ungebildete Bürger sind einfacher zu verwalten. Das Volk soll zum Gesindel werden (insbesondere, wenn es im Prinzip kaum gebraucht wird, also wenn das Wohlbefinden der Apparatschiks nicht durch die Arbeit der Untergebenen erreicht wird, sondern einfach durch das Abpumpen von Erdöl und -gas aus den Lagerstätten des kontrollierten Gebiets).

DER EINFLUSS AUF DIE GEMÜTER Der Erfolg der Gehirnwäsche erfordert wiederum eine entsprechende Sicherung. Erstens wird die Zensur eingeführt, die anonyme Geldüberweisung, vor allem aus dem Ausland, verboten, die Geschäfte der Opposition vernichtet u.a.m., damit es bei denen, die sich dieser Politik entgegenstellen, so wenig wie möglich Freiheit und Ressourcen gibt.

         Zweitens braucht man talentierte Menschen, um diese Aufgaben zu erfüllen. Talent ist gefragt, um denkende Menschen in Hutformen zu verwandeln, denen man alles überstülpen kann. Daher ist es ratsam, einen Teil der Intellektuellen zu kaufen (den, der sich kaufen lässt) und diesen zum Propagandisten und Agitator der Bürokratie zu machen.

         Schließlich ist es drittens notwendig (und das ist das Wichtigste), die technischen Mittel des Einflusses auf die Menschen zu monopolisieren. Das wird durch die Verstaatlichung der Medien, die Kontrolle über das Internet usw. erreicht (das Letztere bezieht sich auf die heutige Lage: Goebbels begnügte sich mit dem Radio und der Presse).

ÜBERALL SIND FEINDE! Ich gehe im Einzelnen auf den Standardtrick der Desorientierung von Untergebenen ein, wie es die Einimpfung der Behauptung ist, dass es ringsumher lauter Feinde gibt. Das nützt den Bürokraten aus einer ganzen Reihe von Gründen.

Erstens handelt es sich um die schon erwähnte Volksverhetzung, wobei natürlich der unwissendste Teil der Gesellschaft gegen den fortschrittlichen ausgespielt wird. Die Bürokratie erklärt selbstverständlich alle ihre persönlichen Feinde zu Feinden des Volkes, des Staates, der Gesellschaft und versucht, diese nicht nur selbst zu vernichten, sondern sich auch mit fremden Federn zu schmücken und Pogrome durch die scharf gemachte Menge zu inspirieren. Das alles ist so alt wie die Welt und so aktuell wie die gestrigen Nachrichten.

Zweitens schafft das Geschrei darüber, dass es ringsumher Feinde gibt, einen passenden Hintergrund dafür, die Schrauben fester anzuziehen. Man müsse sich um den lieben Führer, die einzige Hoffnung, scharen, sonst könne man nicht durchhalten! In dieser schweren Stunde verlange der Patriotismus es angeblich, alle Sonderinteressen zurückzustellen. Denk zuerst an die Heimat und erst dann an dich selbst[29] etc. im Sinne von: Der Patriotismus ist das letzte Instrument der Bürokraten, und sie selbst sind dabei die größten Patrioten.

Es ist verständlich, dass für all dies ein externer Feind am besten geeignet ist: Er wirkt als Gefahr überzeugender. Was sind schon interne Randsiedler, diese Schmarotzer, die sich in den Löchern verkriechen und nicht rauskommen wollen, wie man sie auch lockt! Deswegen ist natürlich der „heimtückische“ Westen der Hauptfeind, der angeblich ständig davon träumt, uns unsere Reichtümer wegzunehmen. Jedoch wenn es gerade einmal nicht passend ist, sich mit den mächtigen Feinden auf der ganzen Welt zu streiten, reichen auch kleinere, z.B. „Extremisten“ (d.h. diejenigen, die es wagen, sich negativ über die Herrscher zu äußern). Es ist so bequem, sich auf den Kampf mit ihnen zu berufen und die Wählbarkeit abzuschaffen, den Stellenplan der Sicherheitsdienste aufzublähen, den Geheimhaltungsgrad zu vergrößern und sonstige aktuelle politische Aufgaben zu lösen.

Drittens geht es nicht nur darum, die Schrauben anzuziehen. Das Volk muss unter der Führung der Bürokratie früher oder später auch den Riemen enger schnallen. Es mangelt immer mehr an Nahrung oder der Lebensstandard geht in jedem Fall zurück, verglichen mit anderen Gesellschaften. Die Unzufriedenheit wächst, da muss man sie einerseits verwischen und andererseits auf jemand anderen umleiten. Selbstverständlich wird die Verschlechterung des Lebensstandards nicht durch Fehlkalkulationen, Diebstahl und die volksfeindliche Politik der Bürokraten, sondern durch die „Machenschaften der Feinde“ im In- und Ausland erklärt, und die Unzufriedenheit der Massen wird auf sie kanalisiert. Sie haben alles zu verantworten! Kurzum, es ist sehr praktisch, Feinde zu haben. Yankees, Kommunisten, Oppositionelle, Bonzen, Juden, Kaukasier, Kreative, Verräter der Nation. Was nur würde die Bürokratie ohne sie tun? Wie würde sie das Volk zum Narren halten können?

DIE SORGE UM DIE MACHT Alles Obengenannte charakterisiert die Politik der Schwächung der regierten Bevölkerung. Aber damit ist die Sache natürlich nicht getan. Parallel dazu sind die Bürokraten um ihre eigene, hauptsächlich die militärische, Stärke besorgt.

        In der klassischen Epoche war das recht einfach: Die Verwalter stellten damals die Hauptstreitmacht dar, und darum bestand ihre auf die eigene Stärkung abzielende Politik lediglich darin, ihre Kriegskunst in jeder Weise zu perfektionieren, sich bis an die Zähne zu bewaffnen, befestigte Burgen zu bauen usw.

Heute allerdings sind die „Silowiki“ (vor allem ihr mittleres und leitendes Offizierskorps) ein separates Aufgebot der Bürokratie. Alle anderen Apparatschiks befassen sich entweder mit der Wirtschaft, der Diplomatie, der Kultur oder ähnlichem „Unsinn“; die Sorge um die Festigung der militärischen Macht steht nach wie vor im Vordergrund der Staatspolitik. Dabei geht es jetzt vor allem nicht um die Beraubung der Nachbarn (was in den alten Tagen gängige Praxis war, heute jedoch recht beschwerlich ist) sowie um den Schutz der eigenen Grenzen, sondern vielmehr um die Bewahrung der herrschenden Stellung der Bürokratie in der Gesellschaft.

Am wichtigsten dafür sind die inneren Truppen; dabei handelt es sich um Kadertruppen und nicht um solche, die aus der Bevölkerung rekrutiert werden. Mit der regulären Armee ist in diesem Sinne kaum etwas anzufangen. Dort dienen bis heute (z.B. bei uns) größtenteils Wehrpflichtige, Kinder des einfachen Volkes. Sollte es irgendwelche internen Wirren geben, ist es gefährlich, sich auf sie zu verlassen. Allerdings hält die Bürokratie für alle Fälle zahlenmäßig große, gut bezahlte und ideologisch getrimmte Kräfte in ständiger Einsatzbereitschaft wie die Bereitschaftspolizei, Kosaken, Mitarbeiter der Sicherheitsdienste, Gendarmen etc., also diejenigen, die einen permanenten „Zarendienst“ ableisten und deren unmittelbare Aufgabe es ist, die bestehende Ordnung gewaltsam zu schützen. Die Bluthunde des Regimes sollen in jeder Hinsicht in guter Form sein, um unter Umständen ihre Bestimmung zu erfüllen.

DIE PROTEKTIONSPOLITIK Schließlich ist der Bürokratie in der Regel eine rührende Sorge um die Erhaltung der bäuerlichen Gesellschaft eigen, weil diese die für das Gedeihen der Verwalter am besten geeignete soziale Basis ist. Lediglich die Sowjetunion war hierbei eine Ausnahme. Dort fanden die Bürokraten bei der ungebildeten und kopflos gemachten Arbeiterklasse Unterstützung (Im Übrigen war diese wiederum nichts anderes als die vormalige Bauernschaft.). Die Bürokraten aller Zeiten und Völkerschaften können allerlei Händler, Geldwechsler, Wucherer, Handwerker nicht ausstehen (vor allem diejenigen, die auf dem Markt arbeiten, anstatt bei ihren Herren in Lohn und Brot zu stehen). Sie sind verpönt, werden zu feindlichen Elementen erklärt (Im Grunde genommen wurde der Begriff „Feinde des Volkes“ nicht in der Sowjetunion erfunden.), kurzum, sie werden als soziale Fremdlinge drangsaliert (und die Bauern als sozial nahestehende Elemente begrüßt).

Politische Zentralisatoren in China waren z.B. immer misstrauisch gegenüber Händlern und Handwerkern, lobten jedoch tüchtig die Bauern, deren Analphabetismus, Armut und Zwietracht sie zu einem in jeder Hinsicht idealen Objekt der bürokratischen Ausbeutung machten. Der chinesische Reformer Shang Yang († 338 v. Chr.) lehrte: „Wenn das Volk dumm ist, lässt es sich leicht verwalten.“ Nach seiner fachkundigen Meinung sind bei einem schlechten Herrscher „die Beamten durch [diffuse] Reden verwirrt, und das gemeine Volk ist faul geworden und befasst sich daher nicht mit dem Ackerbau. Daher passierte folgendes: Das ganze Volk des Landes hat sich verändert, sich Beredsamkeit angewöhnt, ist im Handel tätig, begann Freude am Lernen zu finden, [verschiedenes] Handwerk zu meistern und gleichzeitig den Ackerbau und den Krieg zu meiden... Wenn Wirren entstehen, ist der Staat leicht zu zerstören, weil Wissenschaftler die Gesetze hassen, Kaufleute sich angewöhnt haben, [ständig] ihren Wohnsitz zu ändern, und es [nicht so einfach] ist, Menschen auszunutzen, die [verschiedenes] Handwerk gemeistert haben." „Ein Weiser kennt das Wesen der guten Staatsverwaltung, und darum lässt er die Menschen alle ihre Gedanken wieder auf den Ackerbau wenden. Und wenn alle Gedanken dem Ackerbau zugewandt sind, sind die Menschen einfältig und lassen sich leicht verwalten.“ Ein solches Volk „ist für die Verteidigung und für den [offensiven] Krieg leicht zu nutzen“. Die Massen „werden weniger lügen und ihren Wohnsitz seltener wechseln... In der Tat, wenn die Menschen von morgens bis abends im Ackerbau beschäftigt sind, werden sie den Herrscher [wie ihren Verwandten] lieben und bereit sein, ihr Leben für die Ausführung seiner Befehle zu opfern.“

Die Bürokraten lieben also die „Arbeitspferde“ bei weitem nicht erst seit gestern und schon gar nicht wegen des ihnen anhaftenden abstrakten Humanismus. Akute Attacken dieser Liebe übermannen die Verwalter dann (und nur dann), wenn „komplizierte“ Menschen auftauchen, also solche, die ihre Dominanz in der Gesellschaft gefährden.

Vortrag sieben. DIE BÜROKRATISCHE GESELLSCHAFTSORDNUNG: DIE BÜROKRATISCHE STRATIFIZIERUNG, DAS SYSTEM DER VERTEILUNG VON GÜTERN UND DIE BESONDERHEITEN DER VERWALTUNG

1. Die Differenzierung von Bürokraten und ihre Folgen

DIE INTERNE DIFFERENZIERUNG Alle Bürokraten besetzen als solche eine Nische und sind einander gleich nach ihrer Position in der Gesellschaft und den sich daraus ergebenden Interessen in Bezug auf die Gesellschaftsordnung. Wir haben oben diese Hauptinteressen und die jeweilige Gesellschaftsordnung in ihrem politischen Teil kurz behandelt. Allerdings sind das eben die allgemeinen Interessen der Bürokratie. Bei einem konkreteren Herangehen an diese Klasse ist leicht zu erkennen, dass sie aus vielen verschiedenen Untergruppen besteht, und jede davon hat außer der allgemeinen klassenbezogenen noch ihre eigene lokale Nische, eine besondere Position und damit ihre spezifischen Interessen. Daher ist auch der Kampf dieser Untergruppen untereinander für die Umsetzung der privaten Interessen (mit allen spezifischen Folgen dieses Kampfes) unvermeidlich.

DIE FUNKTIONALE SCHICHTUNG Die einfachste Form der Differenzierung der Bürokratie war und ist selbstverständlich ihre funktionale Spezialisierung auf die Verwaltung von bestimmten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Ich gehe hier nicht auf die Diversifizierung der Verwalter in der modernen superkomplizierten Gesellschaft ein, aber auch in der Antike gab es bereits die Aufteilung in Administratoren (verantwortlich für die gesamte Ordnung in der Gesellschaft, Gerichte, Gesetze usw.), Heerführer (verantwortlich für den Schutz vor externen Bedrohungen sowie spezialisiert auf die Ausplünderung der Nachbarn), Ideologen (verantwortlich für die erwünschte Verdummung der Bevölkerung, sprich die Einflößung von Gehorsam gegenüber dem Willen der Vorgesetzten) und in einigen Regionen sogar Wirtschaftsleiter (welche die Produktion und die damit verbundenen Prozesse verwalteten).

Grundsätzlich wurden natürlich alle diese besonderen Verwaltungsfunktionen in den klassischen bürokratischen Gesellschaften von den gleichen Funktionären erfüllt (vor allem wenn die Machtvollkommenheit an der Spitze der bürokratischen Pyramide konzentriert wurde). Der Zar war Bäcker, Zimmermann und Schuster in einer Person, und das funktionierte, weil die Gesellschaft einfach und anspruchslos war. Jedoch unter bestimmten besonderen Umständen kam es manchmal vor, dass eine der genannten Teilfunktionen nach ihrer gesellschaftlichen Bedeutung in den Vordergrund trat. Dann verloren erstens die sonstigen Teilfunktionen an Bedeutung und zweitens spiegelten die allgemeinen Organisationsformen des Staatsapparats und des Verwaltungsprozesses die Besonderheiten dieser dominanten Teilfunktion wider. Dabei modifizierte das sicher nur die Charakterzüge des bürokratischen Systems, ohne auf irgendeine Art und Weise dessen Gattungsmerkmale aufzuheben, vor allem nicht die hierarchische Struktur des Staatsapparats, das Ernennungssystem usw.

         Darüber hinaus kam es oft vor (vor allem in der Anfangsphase des Reifens der Bürokratie), dass in der Gesellschaft gleich zwei (oder mehr) konkurrierende Verwaltungszweige mit der gleichen gesellschaftlichen Bedeutung auftauchten, z.B. militärische und administrative: Der Führer mit seinem Gefolge und der Älteste mit seinem Apparat. Selbstverständlich entstand zwischen ihnen sofort ein Kampf um die Vorherrschaft in der Gesellschaft, der manchmal jahrhundertelang dauerte (wie zwischen den Brahmanen, Ideologen und den Kschatrijas, Kriegern in Indien). Im Übrigen kann das wohl einfach als ein Kampf zwischen den Clans beurteilt werden, die nach Berufskriterien gebildet werden. Das beeinflusste auch nicht grundsätzlich (d.h. gattungsmäßig) die Gesamtstruktur des Staatsapparates und der am Ende durch den Sieger etablierten Gesellschaftsordnung. Viel wesentlicher war in diesem Sinne nicht die Berufs-, sondern die hierarchische Schichtung der Bürokratie.

BÖSE BOJAREN STÖREN IMMER DEN „GUTEN“ ZAREN Jeder Verwaltungsapparat im Allgemeinen (und umso mehr ein bürokratischer) ist, wie bereits erwähnt, hierarchisch aufgebaut. Er besteht - kurz zusammengefasst - aus dem Zentralapparat (dem Monarchen und seiner unmittelbaren Umgebung) und einer Masse von mittleren und unteren Apparatschiks. Die Interessen dieser Schichten sind bei weitem nicht in allen Punkten gleich, beginnend bei ihrer Einstellung zur regierten Bevölkerung.

Erstens sind zentrale Behörden in dieser Hinsicht im gewissen Sinne „gönnerhaft“ eingestellt; einfache Bürokraten dagegen sehen die Produzenten eher als Verbraucher, wenn nicht als Räuber. Der Grund dafür liegt nicht darin, dass die Herrscher besser sind oder dass sie ihr Volk mehr lieben, sondern einfach darin, dass sie Leiter des Staatsapparates sind und eine gewisse Ordnung in der Gesellschaft aufrechterhalten müssen, u.a. indem sie der Willkür der unteren Apparatschiks das Handwerk legen. Die zentrale Macht muss definitionsgemäß den Einfluss des bürokratischen Fußvolkes begrenzen und die Regierten vor ihrer Willkür schützen. Würde der Zar dies nicht tun, wie sollte sich dann seine Macht zeigen? Sie würde sich dann tatsächlich in der Hand lokaler Herrscher befinden. Etwas, was sich nicht manifestiert, gibt es de facto auch nicht. Also sind zentrale Behörden für die Ordnung in der Gesellschaft verantwortlich, und sie sorgen auch recht und schlecht dafür. Diese Ordnung bedeutet objektiv immer Schutz der Schwachen dieser Welt vor der Ungerechtigkeit der Starken.

Zweitens hängt das Wohlergehen der zentralen Macht im Grunde genommen vom Wohlergehen der untergebenen Bevölkerung, von ihrer Arbeitsproduktivität, von der Effizienz des Wirtschaftens u.a.m. ab (insbesondere dann, wenn es keine externen Gewinnquellen wie z.B. aus dem Boden schießende Erdölquellen gibt). Alle Ressourcen des Zentrums haben ihren Ursprung in den Steuern. Je mehr Güter erzeugt werden, desto mehr davon wird dem Monarchen zuteil, und deswegen ist er direkt am Wachstum des Erzeugten interessiert. Der Herrscher fördert das auch auf jede Art und Weise, wenn er nicht ganz dumm ist. Das Wohlergehen der einfachen Bürokraten hängt jedoch von den wirtschaftlichen Erfolgen oder Rückschlägen der durch sie verwalteten Gesellschaft praktisch gar nicht ab. Ihr Wohlstand wird einerseits durch ihre Stellung auf der Hierarchieleiter (sie kämpfen ja auch für die Plätze auf höheren Stufen) und andererseits durch die Einträglichkeit ihrer Posten, d.h. durch Korruptionsmöglichkeiten, bestimmt. Warum also sollten sich die unteren Bürokraten um die Produktion und um die Hersteller kümmern? Es ist viel einfacher und vorteilhafter für sie, etwas auszuklügeln, um das Volk zu berauben und ihren Teil aus dem Staatskuchen herauszuschneiden. Der Zar kann es sich nicht leisten, die Bevölkerung auszunehmen und ihr mehr wegzunehmen, als es in den durch ihn selbst verfassten Gesetzen festgelegt ist; für Bojaren ist allerdings kein Gesetz geschrieben. Der Zar ist nicht imstande, aus der Staatskasse etwas zu entwenden, weil sie ihm sowieso völlig zur Verfügung steht; der innigste Wunsch der Bojaren dagegen ist es, in die Taschen des Staates  zu greifen. Schließlich darf der Zar seine Untertanen nicht durch übermäßige Steuern und Raub ausnehmen, andernfalls würde er bald von der Hand in den Mund leben müssen. Die Bojaren kümmern sich nicht um solche „Kleinigkeiten“: Ein einfacher Bürokrat erwirtschaftet meistens seinen Gewinn genau auf diese Weise. Daher ist der Zar objektiv „gut“ und die Bojaren sind eben böse.

Drittens hängt die Macht des Zaren weitgehend von der Einstellung der regierten Gesellschaft zu ihm ab. Es ist wichtig für ihn, als gerecht, weise, also als jemand zu gelten, der sich väterlich um das Volk kümmert etc. Dementsprechend muss der Herrscher manchmal etwas tun, um diesen Ruf zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Für die Bojaren ist das jedoch unnötig. Sie lassen sich in ihren Handlungen weder von den Bedürfnissen des Volkes noch von den Interessen des Staates leiten. Der Zar kann sein Zarenreich nicht verlassen, ohne den Herrscherstatus zu verlieren, wobei die Bojaren ohne weiteres den Dienst bei einem anderen Zaren antreten und sogar höhere Posten, Dienstgrade und einen besseren Status bekommen können.

Die Interessen sowohl des Zentrums, als auch der unteren Bürokraten sind also von Habsucht geprägt , aber die Mittel, mit denen sie realisiert werden, sind wegen ihrer verschiedenen Stellung in der Gesellschaft sowie innerhalb der Machthierarchie unterschiedlich. Daher benehmen sich die Oberen anständiger als die Unteren. Das Benehmen der einfachen Apparatschiks ist viel egoistischer, volks- und staatsfeindlicher.

DER KAMPF DER HIERARCHISCHEN SCHICHTEN UND SEINE FOLGEN: DIE RADIKALE VARIANTE Außerdem divergieren die Interessen der oberen und unteren Schichten des Staatsapparats auch bezüglich der Verteilung von Vollmachten zwischen ihnen. Der Zar und sein Gefolge würden natürlich gerne die ganze Macht in ihrer Hand konzentrieren, alles zentralisieren, eine absolute Kontrolle über die untergeordneten Apparatschiks ausüben, sowohl hinsichtlich ihrer konkreten Handlungen, als auch in Bezug auf ihr Schicksal, also ihre Stellung in der Verwaltungs- und Machthierarchie. Der Zar will, dass seine Bojaren und seine Adligen völlig von ihm abhängig sind und ihm aus der Hand fressen, und er stellt das auch sicher. Es versteht sich von selbst, dass die Masse der Bürokraten eine gegenteilige Ansicht vertritt und ebenfalls versucht, diese Ansicht praktisch und rechtlich so oder so, je nach den Umständen, d.h. entsprechend ihren Kräften und anderen Möglichkeiten, umzusetzen (die logischerweise den Möglichkeiten des Zaren umgekehrt proportional sind).

In der radikalsten Variante kämpfen dabei die unteren Apparatschiks auf jede Art und Weise mit denen an der Spitze um ihre volle Freiheit, um ihr Recht auf Willkür in Bezug auf die untergebene Bevölkerung, um die sogenannten feudalen Adelsimmunitäten und -freiheiten, darum dass der Zar in seiner Politik auf sie Rücksicht nimmt, überhaupt um die Abwesenheit von Kontrolle vonseiten des Zentrums, eben um Souveränität (im Sinne des modernen Sprachgebrauchs). Jeder Baron will Herr in seiner Baronie sein, niemandem gehorchen, sich vor niemandem bücken, mit niemandem seine Beute teilen - ein durchaus verständlicher Wunsch, der jeden Respekt verdient.

Der Kampf um all das ist jedoch nichts anderes als der Kampf für die Dezentralisierung und für den Zerfall des Staates. Wichtig ist, dass er immer von diesem Ergebnis gekrönt wird. Ein beliebiger bürokratischer Zentralismus geht mit der Zeit zwangsläufig zugrunde und es etabliert sich die sogenannte feudale Kleinstaaterei. Das ist die gesetzmäßige Evolution des bürokratischen Regimes. Dieses System dreht sich immer im Kreis, vom Zerfall zum Zentralismus und vom Zentralismus zum Zerfall. In dieser Hinsicht ist also die Evolution des bürokratischen Systems zyklisch, und das ist eine direkte Folge seines rein politischen Charakters, wo die gesellschaftlichen Zellen (Bauerngemeinschaften) an sich nichts außer dem bürokratischen Staatsapparat miteinander verbindet, und dieser Staatsapparat ist auch in keiner Weise innerlich verbunden, außer durch die Stärke eines konkreten Führers. Sollte er schwächer werden, kommt der Zentralismus an sein Ende.

Und die Stärke jedes Führers nimmt mit der Zeit ab, einfach weil sie nur auf der Unterstützung der unteren Bürokratie, auf deren persönlicher Ergebenheit dem Patron gegenüber, also auf ihrer „Unverdorbenheit“ basiert. Aber diese „Unverdorbenheit“ ist natürlich grundsätzlich nicht von Dauer, denn die Interessen der oberen und unteren Schichten sind im o.g. Sinne einander entgegengesetzt. Der Kampf der unteren Schichten für die Freiheit von der Willkür der oberen ist an sich eine Verletzung des ursprünglichen Status quo, des „Gesellschaftsvertrages“, eine Erosion der Grundlage der zentralen Macht und also deren Schwächung. Wenn dieser Prozess kritische Ausmaße annimmt, ist die Sache vorbei: Der Staat zerfällt.

Der Kampf um die Macht, um einen Platz im Staatsapparat, ist für die Bürokratie als Ganzes überhaupt eine Lebensfrage und tägliche Praxis. Dieser Kampf ist unter den Bedingungen des Zentralismus so oder so ein Kampf mit dem Zentralismus. Er verursacht eine Verschiebung des Gleichgewichts der Kräfte im Staatsapparat vom Zentrum zur unteren Ebene, von oben nach unten. Und wenn der Staatsapparat in kleine Zellen, in Mengen von unabhängigen Baronen, zerfällt, beginnen sie sofort gegeneinander zu kämpfen. Diese Fehden führen früher oder später zum endgültigen Sieg von jemandem, der den zentralisierten Staat wieder herstellt. Die Bürokraten aller Zeiten und Völker schwingen ständig auf dieser Wippe wie  Kinder.

DIE CLAN-STRUKTUR UND IHRE ROLLE Ein paar Worte über die Organisationsformen des beschriebenen Kampfes. Natürlich beteiligen sich die Bürokraten nicht allein daran; sie sind in die sogenannten Clans, d.h. Gruppen von Menschen, aufgeteilt, die ihrem Führer persönlich treu sind. Eigentlich liegt eine solche Aufteilung in der Natur der Bürokratie. Jeder Chef, der seine Untergebenen ernennt, bildet dadurch um sich einen Clan. Die Clan-Struktur durchdringt den gesamten bürokratischen Apparat von oben nach unten und ist das Hauptprinzip bei seiner Bildung (aufgrund des Ernennungssystems). Der Kampf um die Macht trägt also immer einen Clan-Charakter. Niemand kämpft allein, weder beim Zentralismus noch während der Fehden, nur dass dieser Kampf beim Zentralismus vor allem „unter dem Teppich“ erfolgt, während es beim Staatszerfall zu offenen gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt. Somit ist die Clan-Struktur mit den im Eingeweide der Bürokratie gesäten Drachenzähnen zu vergleichen, die den maroden Staatsapparat keimend auflockern und vernichten.

DER SEPARATISMUS Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die spezielle Art der Differenzierung der Bürokratie wie deren Aufteilung in den Zentralapparat (Ministerien und Ressorts) und die regionalen Eliten (lokale Führer mit ihren Untergebenen). Im Grunde genommen ist das auch eine Aufteilung in das Zentrum und die Peripherie des Staatsapparats, in die obere und die untere Ebene, die jedoch nach dem regionalen „geografischen“ Prinzip aufgebaut ist. Dies fördert insbesondere die Bildung von Clans und (das ist das Wichtigste) präsentiert sie bereits in der direkten fertigen Form von Apparaten zur Verwaltung der Regionen, im Unterschied zu den zentralen Clans mit ihren funktionellen Einschränkungen.

Ein Ressort befasst sich nur mit der Lösung von speziellen fachlichen Problemen; seine Macht ist lediglich ein Spiegelbild der zentralen Macht im Allgemeinen. Es gibt hierbei keine Verbindung mit der Bevölkerung, keine lokale Verwurzelung, keine Ressourcen ohne Bezug zur Staatskasse etc. Bei den regionalen Verwaltern ist das alles vorhanden. Daher fällt es ihnen relativ leicht, unabhängig ihre Kräfte zu sammeln, sich vom Zentrum abzuspalten und einen getrennten Apparat zu bilden, und sie streben auch danach. Dieser Kampf für die Dezentralisierung, für die Verringerung der zentralen Vollmachten, führt bereits zum Separatismus. Es geht hierbei nicht mehr darum, dass eine funktionelle oder sonstige Abteilung des Zentralapparats unabhängiger wird, sondern darum, dass ganze Gebiete mit ihrer Bevölkerung abgetrennt werden und sich in gesonderte Staaten verwandeln.

DIE GEMÄßIGTE VARIANTE Aber, ich wiederhole, all das ist eine extreme, radikale Variante. Es ist der Kampf der unteren Bürokratie gegen das Zentrum und den Zentralismus im Allgemeinen, der in jeder Hinsicht die Einheit der hierarchischen Klasse sichert. Dieser zerstörerische Kampf kann nur dann stattfinden, wenn für die Masse der unteren Bürokraten die Vorteile der Dezentralisierung deren Nachteile übertreffen, also wenn z.B. nichts diesen Kampf bremst oder wenn es keine externe oder interne (seitens anderer Klassen) Bedrohung für die Macht der jeweiligen Bürokratie gibt, die ihren Zusammenhalt erfordert. Wenn jedoch eine solche Bedrohung da ist oder wenn gewisse Umstände die Dezentralisierung auf irgendeine Weise behindern, dann kann der Kampf gegen den Zentralismus in begrenztem Umfang verlaufen (und verläuft auch meist tatsächlich so). Dann ist das nicht mehr ein Kampf um das totale Fehlen von Kontrolle der unteren Bürokratie (und damit um den Zerfall des Staates), sondern ein Kampf um die zumindest teilweise Ausweitung ihrer Rechte in den für sie wichtigen Bereichen.

         Im Einzelnen kämpfen in dieser weicheren Kompromissvariante die unteren Apparatschiks gegen die oberen zumeist nur für die Abschaffung des Rechtes des Zaren, die Bojaren ihres Amtes zu entheben, sie zu entmachten und ihnen die mit ihrer Macht verbundenen Privilegien zu nehmen, sie von der Mitgliedschaft in der herrschenden Klasse auszuschließen. Unnötig zu sagen, dass die unteren Bürokraten  in der radikalen Variante für das Gleiche kämpfen. Allerdings erreichen sie hierbei nicht nur das, sondern auch eine Reihe anderer Immunitäten, während es in der gemäßigten Variante damit sein Bewenden hat. Daher endet der Kampf gegen die Willkür der höheren Behörden eigentlich niemals, unter keinen Umständen, unabhängig davon, welche Bedrohungen auch immer es geben mag. Er verhindert ja nicht den Zusammenhalt des Apparats in den Auseinandersetzungen mit den anderen Klassen und Staaten.

Im Endergebnis ist dann die Zugehörigkeit zur Klasse der Bürokraten unabhängig vom Willen des Monarchen und aller höheren Instanzen, zuerst in der Praxis, und dann auch laut Gesetz, wenigstens in Bezug auf ihr Recht, die Bürokraten niedrigerer Ebene von der Mitgliedschaft in dieser Klasse auszuschließen und sie von den höheren Stufen der Pyramide auf die unteren zu vertreiben. Man darf den Status erhöhen (jemanden in eine höhere Position bringen, ihn zum Ritter oder zum Pair schlagen), das wird sogar begrüßt, aber man darf den Status nicht senken und umso weniger jemanden aus einer höheren Position entfernen.

         Aber was bekommt man im Gegenzug, wenn die höheren Apparatschiks ihre Vollmachten verlieren und die Untergebenen diese niemals hatten? Es ist klar, dass am Ende alles wiederum auf die Selbsternennung hinausläuft, nur diesmal in individualisierter Form. Die Zugehörigkeit zur Klasse wird von der Geburt, als Erbrecht definiert. Wenn der Vater Baron war, wird der Sohn Baronet, und niemand hat das Recht, diese Abfolge zu ändern, weil es sich hierbei nicht etwa um eine Laune des Zentrums, sondern um ein Gesetz handelt, das durch den Willen der ganzen herrschenden Klasse festgelegt wird. Es ist im Interesse aller Bürokraten und wird durch ihre Gesamtstärke unterstützt. Lediglich der Monarch leidet dabei, muss jedoch diesen Stand der Dinge akzeptieren und tolerieren (weil er selbst in der gleichen Weise die Vererbung seiner Macht festlegt).

DIE ABSONDERUNG DES STATUS VON DER FUNKTION Demzufolge entsteht ein ziemlich eigenartiges Phänomen, die Vornehmheit, d.h. ein Status, der in keiner Weise mit dem bekleideten oder überhaupt mit einem Posten verbunden ist, sondern einer Person einfach als Vertreter einer bestimmten Bürokratieart gehört. Ein Major bleibt z.B. Major, selbst wenn er einen Oberst- (oder Hauptmanns-) posten bekleidet (oder wenn er sich gar zur Ruhe setzt). Der Status mit seinen Rechten und Privilegien und dementsprechend die Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse ist hierbei eine Sache und die funktionelle Position des Individuums eine andere. Die ersten Attribute sind einer Person von Geburt an gegeben und sind nun von ihr untrennbar. Sie muss dabei kein Verwalter und kein Mitglied des Staatsapparates sein.

Ähnlich sieht es, nebenbei bemerkt, später auch in der bürgerlichen Gesellschaft aus, wenn ein Teil der Bourgeoisie zu Rentiers wird, denen Kapital (als ein Analog der Vornehmheit) gehört, die jedoch keine gesellschaftlichen Funktionen ausüben.

2. Das System der Güterverteilung

ZWEI ELEMENTE DER VERTEILUNG Wenden wir uns nun der Frage zu, weswegen die Verwalter eigentlich die Macht in der Gesellschaft ergreifen, d.h. dem Problem der durch sie etablierten ungerechten Verteilung der in der Gesellschaft erzeugten Güter. Diese Verteilung besteht aus zwei Teilen: 1) die Entäußerung der Güter bei den Herstellern durch die Bürokratie als Ganzes und 2) die Aufteilung des Entäußerten und Veruntreuten zwischen den Bürokraten. Beide Prozesse sind recht einfach und miteinander verknüpft.

DIE ENTÄUßERUNG VON GÜTERN Die Einfachheit des Ersteren hängt mit der Klarheit der Beziehungen der Bürokratie und der Gesellschaft, also mit dem funktionalen Charakter der Bürokraten zusammen. Da sie eine Schicht der Gesellschaftsverwalter darstellen, sieht ihre Versorgung durch die Gesellschaft völlig natürlich aus und erfordert keine Rechtfertigung und keine besonderen Finessen. Ein Teil der von der Gesellschaft produzierten Güter wird hierbei naturgemäß den Verwaltern zur Verfügung gestellt: Zum einen als deren Entlohnung und zum anderen für öffentliche Bedürfnisse.

Eine andere Sache ist, dass sich mit der Machtergreifung durch die Verwalter dieser freiwillige und durchaus mäßige Tribut in eine räuberische Zwangsabgabe verwandelt. Nachdem die Bürokraten zur herrschenden Klasse geworden sind, versuchen sie natürlich, die untergebene Bevölkerung maximal auszunehmen. Zu diesem Zweck werden alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel genutzt, inklusive Gewaltanwendung und Gehirnwäsche der Massen. Das Volumen der Güter, die zugunsten des Staatsapparats entfremdet werden, übersteigt mehrfach das Äquivalent der Entlohnung für die Verwaltungsarbeit. Die Apparatschiks werden zu der am besten situierten Schicht der Gesellschaft, und ihre Führer schwelgen regelrecht im Überfluss.

Ebenso werden in einer solchen Situation auch die öffentlichen Bedürfnisse so interpretiert, wie es für die Bürokratie von Vorteil ist. Es werden keine Schulen und Straßen, sondern pyramidale Grabbauten, Paläste und Residenzen des Monarchen errichtet; öffentliche Mittel werden nicht für Bildung und Gesundheit, sondern für Rüstung und Armee ausgegeben. Anstatt mühsam und unauffällig am Anwachsen des Wohlstandes und der Kultur des Volkes zu arbeiten, werden pompöse protzige Veranstaltungen durchgeführt, die dazu gedacht sind, das Ansehen des Staates zu verbessern und die Eitelkeit des an der Macht befindlichen Führers zu bedienen.

ORGANISATIONSFORMEN DER ENTFREMDUNG: DURCH WEN WERDEN DIE GÜTER ENTFREMDET? Organisatorisch erfolgt die Entfremdung der Güter von den Herstellern in zwei Hauptformen - zentral und privat. Im ersten Fall baut der Staatsapparat seine Beziehungen mit der Bevölkerung als Ganzes auf und sammelt alle ihm „zustehenden“ Güter in staatliche „Speicher“ (Staatskasse, Lagerhallen etc.), von wo aus einzelne Bürokraten ihre Anteile nach der festgelegten Ordnung bekommen. Im zweiten Fall realisiert jeder sein Recht auf „Verpflegung“ privat, indem er die ihm zugeordneten Untertanen beraubt. Die „Wahl“ zwischen den Organisationsformen der Entäußerung wird durch a) den Grad der Machtzentralisierung, b) die Traditionen konkreter Gesellschaften, c) die Reife ihrer Bürokratien, d) die Art der praktizierten Produktion usw. bestimmt.

DIE RADIKALE FORM DER ZENTRALISIERUNG Ich habe jedoch nicht aus Versehen diese beiden Formen die wichtigsten genannt: Sie tragen einen relativ allgemeinen Charakter, so dass mancherlei Modifikationen möglich sind, zum einen als diese oder jene Übergangs- und Zwischenformen zwischen den beiden Varianten und zum anderen als verschiedene Variationen über das Thema einer jeden von ihnen.

         In letzterer Hinsicht ist eine der Modifikationen der zentralen Entfremdung von besonderem Interesse. In der Geschichte war es üblicherweise so, dass der Staatsapparat von seinen Untertanen nur einen Teil der durch sie erzeugten Güter entfremdete und den Rest in ihrem privaten Besitz beließ. Aber manchmal nahm diese Entäußerung auch eine extreme, radikale Form an, bei der alle durch die Gesellschaft hergestellten Produkte in staatliche „Speicher“ kamen; dann verteilten die Bürokraten persönlich diese „Staatsgüter“ unter allen Mitgliedern der Gesellschaft, einschließlich der unmittelbaren Produzenten dieser Produkte. Es ist klar, dass ein solches Verteilungssystem nur dort etabliert wurde, wo die Bürokratie vollständig die Verwaltungsfunktion in der Wirtschaft übernahm, also wo es aus bestimmten Gründen keine private Produktion gab. Das wurde z.B. im Laufe von Jahrtausenden im alten Ägypten,  teilweise im mittelalterlichen China und selbstverständlich fast das ganze vorige Jahrhundert lang in der Sowjetunion und in einer Reihe ihrer Satellitenstaaten so praktiziert.

WAS WIRD ENTFREMDET? Und was genau wird durch die Bürokraten entfremdet? Einerseits sind das fertige materielle Güter und andererseits ist das die Arbeit selbst. Im ersteren Fall werden der Bevölkerung Steuern aller Art und im letzteren Arbeitsdienste auferlegt.

Und all das wird wiederum vor allem an die Organisationsformen der Entfremdung geknüpft. Bei der zentralen Entäußerung werden die Steuern vom Staat zugunsten des gesamten Staatsapparats als Ganzes eingetrieben; bei den Arbeitsverpflichtungen werden in erster Linie auch staatliche Ziele verfolgt. Es handelt sich um solche „Bauten des Jahrhunderts“ wie der Bau von Pyramiden, Dämmen, Kanälen, Straßen, Schlössern und anderen Befestigungen (wie die Große Mauer in China). Manchmal ersetzen die Arbeitsverpflichtungen de facto die Steuern (bzw. heben diese auf). Das geschieht zum Beispiel, wenn die Bürokratie die Volkswirtschaft verwaltet sowie in den Fällen, wenn das Ackerland auf natürliche Weise in privates und staatliches geteilt wird. Im ersteren Fall arbeiten die Bauern für sich selbst und im letzteren für den Staat. (Ich denke hierbei vor allem an zeitweilige Verhältnisse im alten China und nicht etwa an die Teilung des Landes in das Eigentum von Kolchosen und in private Grundstücke in der Sowjetunion, obwohl das Wesen des Phänomens das gleiche ist).

Bei der privaten Entfremdung bestimmt jeder Bürokrat selbst den Ackerzins und treibt diesen von den ihm zugeordneten Bauern ein; außerdem müssen die Bauern für ihn gewisse Arbeitsdienste verrichten. Auch in diesem Fall kann der Arbeitsdienst die Hauptrolle spielen, und zwar wenn der Boden des Grundbesitzers  vom Boden der Gemeinde getrennt ist: die Arbeitsdienste nehmen hierbei die Form der Fronarbeit an, d.h. die Verpflichtung der Bauern, eine Zeitlang auf dem Acker, beim Heumachen etc., kurzum, in der Wirtschaft ihres Herren zu arbeiten.

NATURALENTGELT ODER BARGELD? Darüber hinaus variiert die entfremdete „Verpflegung“ noch als Naturalentgelt und Bargeld. In der klassischen Version erfolgt die Besteuerung natürlich in reiner Naturalform, aber bei einer bestimmten Entwicklung der Handelsbeziehungen und beim Auftauchen des Geldes geht man dazu über, die Steuern in Geldform einzutreiben.

DIE GENESIS Ferner können die Steuern und Abgaben einen unterschiedlichen Ursprung haben, entweder einen natürlichen oder eben nicht. Im ersten Fall versteht man darunter ihre Genesis auf der Grundlage der traditionellen Abzüge der Gesellschaft für die Erhaltung ihrer Verwalter und für öffentliche Bedürfnisse. Im zweiten Fall entstehen sie als Folge der Eroberungen und der anschließenden Belegung mit Tribut. Es ist klar, dass die zweite Option in den Augen der Untergebenen weniger rechtmäßig ist und mehr Gewalt erfordert, vor allem in den frühen Stadien. Aber mit der Zeit wird alles zur Gewohnheit, Tributpflichtige werden nach und nach zu Untertanen und der Tribut wird von allen Parteien des ehemaligen Konflikts als eine normale Steuer angesehen.

WER WIRD BESTEUERT UND WOFÜR? Um das Bild abzurunden, sollte man auch kurz sagen, wer und im Zusammenhang womit besteuert wird. Die Bürokraten sind hierbei immer auf einer kreativen Suche; im Laufe der Jahrtausende solcher „Forschung“ haben sie allerhand ausgeklügelt. Es werden folgende Steuern eingetrieben:

Ø  pro Person (pro Kopf), pro Mitarbeiter, pro Familie, pro Haushalt, pro Gemeinschaft und selbst pro Fehlen einer Person (Kinderlosigkeitssteuer);

Ø  nach der Art der Tätigkeit (in Form einer Genehmigung über ihre Durchführung - Lizenz);

Ø  von einzelnen Produkten (Akzisen über den Handel mit Salz, Wodka u.a.m.)

Ø  von Vermögen (so oder so bezogen auf seine Dimension: pro Fläche, pro Wert, pro Menge);

Ø  vom Einkommen (die Einkommens-, Renten-, Warenzuschlagssteuer);

Ø  für die Einfuhr von Waren in das Staatsgebiet (Zölle);

Ø  für die Nutzung von Straßen, Land, Wasser, Bodenschätzen;

Ø  für den Verbrauch über eine bestimmte Norm hinaus (Luxussteuer).

Und so weiter, und so fort.

DIE SICHERSTELLUNG DER EINNAHMEN Aber es reicht nicht, sich die Steuern auszudenken und diese der Bevölkerung aufzuerlegen; man muss auch in der Lage sein, sie einzutreiben. Man stößt dabei auf eine Anzahl von Problemen. Dafür muss man:

1)   einen ganzen Stamm von Steuereintreibern organisieren;

2)   alle seine Untertanen von Angesicht kennen, inklusive deren Anzahl, Beruf, Einkommen usw., also eine entsprechende Buchführung und Kontrolle schaffen (regelmäßig die Steuererfassung durchführen, indem nachverfolgt wird, wer wie viel verdient etc.);

3)   alle arbeiten lassen; Schmarotzer, Landstreicher und Bettler werden bestraft;

4)   sicherstellen, dass die steuerzahlende Bevölkerung für die Besteuerung verfügbar ist, vor allem dass sie sich permanent an einer bestimmten Adresse aufhält; zu diesem Zweck werden die Leibeigenschaft, die Anmeldung und ähnliche Festlegungen eingeführt; am einfachsten sind in dieser Hinsicht natürlich die Ackerbauern zu behandeln, welche durch die Art ihrer Tätigkeit zur Bodenständigkeit gezwungen sind; schwieriger ist es, die Steuern von den beweglichen Handwerkern, fahrenden Händlern und sonstigen „Steppenläufern“ einzutreiben; aus diesem Grunde erzeugen diese (die auch sonst nicht gut gelitten sind) bei den Bürokraten einen zusätzlichen Widerwillen.

Und wiederum - und so weiter, und so fort.

DIE VERTEILUNG INNERHALB DER KLASSE Alles Obengenannte bezieht sich auf die Entäußerung der Güter von den Untertanen. Nicht weniger interessant für die Bürokraten ist jedoch die weitere Verteilung innerhalb ihrer eigenen Klasse. Wie geht das vonstatten? Dabei gibt es eine simple Regel, die darin besteht, dass die Verteilung der Güter unmittelbar von der jeweiligen Stärke abhängt und somit genauso hierarchisch ist: Der Anteil eines jeden wird durch seinen Platz im Staatsapparat, auf der Machtleiter oder, mit anderen Worten, durch seine Position bzw. seinen Status bestimmt (wenn dieser nicht vom Amt  abhängt).

         Dieses Verfahren zeigt sich besonders deutlich da, wo die Steuern für die Staatskasse zentral eingetrieben und erst dann (nach Abzug von dem, was für die öffentlichen Bedürfnisse ausgegeben wird) unter den Apparatschiks und überhaupt den Bürokraten, den Mitgliedern der herrschenden Klasse verteilt werden. Aber bei der privat organisierten Entfremdung ist im Grunde genommen das Gleiche zu bemerken, obwohl hierbei nicht zusammen eingetriebene Güter, sondern diejenigen verteilt werden, die diese Güter geschaffen haben – die Bauern mit ihrem Land und ihren Arbeitsmitteln. Allerdings ist auch diese Verteilung hierarchisch, d.h. sie erfolgt in Übereinstimmung mit der Stellung eines konkreten Bürokraten im Staatsapparat bzw. in der Rangordnung.

DIE FOLGEN DER PRIVATEN ENTFREMDUNG Dabei ist klar, dass die privat organisierte Entfremdung und Verteilung der Güter viel gefährlicher ist als die zentralisierte. Zum einen wegen der inhärenten Möglichkeiten des Separatismus. Wenn nämlich die Verteilung der Güter innerhalb der Bürokratie für ihren Dienst in Form der direkten Verteilung der Bauern mit ihren Grundstücken erfolgt (sogenannte Lehnsgüter) und wenn die Entfremdung dieser Güter somit zur privaten Angelegenheit konkreter Apparatschiks wird, hat das natürlich eine schrittweise vollständige Zuordnung dieser Menschen und dieses Landes an die Bürokraten zur Folge. Dieses „Vermögen“ verwandelt sich nach zwei bis drei Generationen in ihre Erbgüter, die unveräußerlich sind und durch die zentrale Macht nicht kontrolliert werden. Mit der Zeit sind die Lehnsherren sogar in der Lage, den Staatsdienst zu vernachlässigen, und zwar ganz ohne Schaden für ihre Besitzstellung. Der Dienst (für den ja ursprünglich die Lehnsgüter zugeteilt worden waren) ist nun keine Pflicht mehr, sondern nur ein Ehrenrecht, d.h. neben der Trennung des Status von der Funktion wird auch die Vermögenslage der Bürokraten von beidem abgetrennt, was natürlich ihre Unabhängigkeit vom Zentrum weiter erhöht und dazu führt, dass sie anfangen, darauf zu pfeifen. Das ist offensichtlich die materielle Basis der Dezentralisierung.

         Daher wurden private Formen der Entfremdung und Verteilung (als offensichtlich schädlich für die zentralen Behörden) meist in den am wenigsten entwickelten, jungen und unerfahrenen Bürokratien praktiziert (die einfach nicht reif genug waren, um die o.g. Umstände zu verstehen) oder in den bürokratischen Staaten etabliert, denen der Individualismus zivilisationsmäßig eigen war. Dabei handelte es sich oft um die gleichen Gesellschaften (zu denen auch Russland gehört): Die Staaten entstanden zuallerletzt eben auf der Grundlage der individualistischen sozialen Gebilde. Daher gingen der Individualismus und junge, unerfahrene Bürokratien in der Regel Hand in Hand. Anders war es in den Ländern, die eine lange Geschichte und zahlreiche bittere Erfahrungen mit der „feudalen Kleinstaaterei“ hatten, wo natürlich die Hierarchen letzten Endes gewisse Lehren zogen und versuchten, die Zuteilung der Lehnsgüter zu vermeiden.

         Zum anderen tragen die Beziehungen der Bürokraten und der ihnen zugeordneten Bauern bei der privaten Entfremdung der Güter einen weit weniger ausgeprägten staatlichen Charakter. Es ist schwieriger, Missstände mit den Bedürfnissen der öffentlichen Verwaltung zu rechtfertigen: Die Gemeinde ist imstande, lokale Probleme auch selber zu lösen und die Teilnahme der Herren an der Verwaltung der Gesellschaft außerhalb der Lehnsgüter ist zweifelhaft und interessiert niemanden. Im Übrigen zeigt sich hier auch der ausbeuterische Charakter der Herrenmacht klarer. Die Ausbeutung und Unterdrückung durch den unpersönlichen Staat wird leichter und klagloser ertragen als die Willkür eines ganz konkreten Gutsbesitzers. Bei der zentralisierten Macht ist es einerseits bequemer, die Massen zu betrügen (so schaffte man es in der Sowjetunion, den Leuten die grausamste bürokratische Gewalt als „die Macht der Werktätigen“ zu verkaufen), und andererseits erfordern die Aufstände gegen das Regime viel mehr Kraft, einen höheren Organisationsgrad der Massen und damit einen viel größeren Klassenhass. Wenn jedoch das Objekt dieses Hasses sich gleich nebenan befindet, braucht man viel weniger von diesen drei Voraussetzungen für einen Aufstand (allerdings fällt es dann auch leichter, diesen zu unterdrücken, verglichen mit einer allgemeinen Rebellion der Bevölkerung).

DIE ILLEGALE VERTEILUNG Aber zurück zur Verteilung der Güter. Ich habe oben ausschließlich ihre legalen Formen behandelt, also wie sie im Bürokratismus gesetzlich organisiert ist. Aber das Gesetz ist keine Säule, man kann es auch umgehen. Und der Wunsch ist sicher da. Kein Apparatschik ist gewillt, nur von seinem Gehalt zu leben, also am Fleischtopf zu sitzen und nur den Mund zu spitzen. Leider gibt es auch sonst wenige Heilige, und umso weniger gibt es sie unter den Bürokraten. Wenn ein konkreter Bürokrat seine ihm untergebene Bevölkerung oder sogar den „lieben“ Staat berauben kann (zusätzlich zu seinem Gehalt), nutzt er mit Sicherheit diese Chance bis zum Gehtnichtmehr. Das wird heute Korruption genannt.

Allerdings haben natürlich nur diejenigen diese Möglichkeit, die einträgliche Posten bekleiden. Einer, der einfach in seinem Dorf sitzt, ohne etwas zu tun und ohne irgendwo zu dienen, bleibt offensichtlich fern von dieser Feier des Lebens. Man missbraucht nicht die Macht und man betrügt nicht den Staat, wenn man seine eigenen Bauern beraubt. Hier ist einem sowieso alles gesetzlich in die Hand gegeben. Das Zentrum muss zwar manchmal Gewalt anwenden, um der Willkür der wildesten Herren das Handwerk zu legen. Aber diese Willkür ist kein Mittel zur illegalen Bereicherung, keine Korruption.

Ebenso kann derjenige, der in einem Regiment als einfacher Offizier und nicht als Intendant oder Versorgungsleiter dient, kaum etwas stehlen. Er hat auch keine besondere Macht, die er missbrauchen und sich dabei bereichern kann. Die Korruption ist das „Schicksal“ derjenigen, denen Güter, Mittel und Vermögen zur Verfügung stehen, sowie derjenigen, die über Vollmachten verfügen, von denen vieles im Leben der Untergebenen abhängt. Diebstahl, Erpressung und sonstige „Zumutungen“ sind, ich wiederhole, nur auf einträglichen Posten möglich (die man dementsprechend auch nicht frei bekommt).

Darüber hinaus erfordert die (an sich illegale) Korruption eine fehlende ordnungsgemäße Kontrolle der Aktionen der Masse von Bürokraten in niederer Stellung (nicht im Sinne einer „Blindheit“ des Zaren, sondern nach dem Motto: „Ich sehe es, doch ich habe nicht die Kraft, es zu verhindern.“). Daher gedeiht natürlich die Korruption nur in einer Zeit, da das Zentrum geschwächt ist (und deswegen ist die heutige Korruptionsorgie in Russland ein direkter Beweis für die reale „Machtdevertikalisierung“). Dabei korreliert selbstverständlich die „Rohheit“ des Amtsmissbrauchs mit dem Grad der Schwäche des Zentrums. Das einfache Wuchern, die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung ist eine Sache, aber der direkte Diebstahl von Staatseigentum eine ganz andere. Das letztere wird sicher von den Behörden immer viel rigoroser unterbunden, und darum muss die Masse der Bürokraten ihre Kraft gegenüber dem Zaren und seinen Knechten spüren, um das zu wagen, ohne eine Strafe zu befürchten, - was wir heute überall um uns herum sehen.

3. Die Besonderheiten der bürokratischen Verwaltung

       Schließlich gehe ich noch darauf ein, wie die Bürokraten ihre funktionellen Verpflichtungen erfüllen. Sie sind ja eine Schicht von Fachleuten, die die Gesellschaft verwalten. Wie kommen sie damit zurecht? Was kennzeichnet sie als spezifische, nämlich herrschende Verwalter?

DAS ZIEL UND DIE WEGE, ES ZU ERREICHEN In dieser Hinsicht ist sicher die Motivation der Bürokraten von entscheidender Bedeutung. Wie alle Menschen streben sie letztendlich nach persönlichem Wohlbefinden. Aber wovon hängt das bei ihnen ab? Von ihrem Platz in der Machthierarchie, im Staatsapparat, d.h. von ihrem Posten, sprich sowohl von ihrer Rangstufe, mit der ihr formales Gehalt verbunden ist, als auch von der „Einträglichkeit“ ihres Postens, d.h. vom Potenzial ihrer illegalen Bereicherung (wobei das eine gewöhnlich das andere nicht negiert, sondern unmittelbar voraussetzt: Je höher der Rang, desto größer sind die Korruptionsmöglichkeiten).

Daher ist das Hauptziel jedes Bürokraten, einen höheren Posten zu bekommen. Dafür kämpfen sie auch mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Welche Mittel stehen ihnen denn zur Verfügung? Was bestimmt dabei den Erfolg?

Einerseits gewiss die reale Kraft, d.h. der Umfang von Ressourcen und die Anzahl der Kämpfer, die ein konkreter Bürokrat aufweisen kann. Jeder Bürokrat versucht auch, so weit wie möglich, das eine wie das andere zu vergrößern, sprich sich so viele Ressourcen wie möglich anzueignen und den Kreis seiner Vasallen zu erweitern; dabei werden diese logischerweise vor allem nach dem Prinzip der persönlichen Treue ausgewählt.

Andererseits gibt es gegen jede Kraft eine noch größere Kraft. Daher ist für die Masse der Bürokraten auch das Wohlwollen der höheren Behörden, die Verbindungen auf den hohen Machtebenen, die Unterstützung der stärkeren Apparatschiks wichtig. Unter den Bedingungen des Ernennungssystems, das bei der Herrschaft der Nomenklatura[30] deutlich Gestalt angenommen hat, ist das überhaupt ein entscheidender Faktor. Und was braucht man, um diese Unterstützung (d.h. Schirmherrschaft und Begünstigung) zu bekommen? Na, insbesondere die schon erwähnte Demonstration der persönlichen Treue gegenüber dem Patron. Der bürokratische Chef (Lehnsherr) schätzt an den Untergebenen (Vasallen) eben vor allem ihre Bereitschaft, ihre persönlichen Interessen zugunsten seiner Interessen zu opfern. Davon hängen ja seine eigene Stärke und damit seine Stellung in der Machthierarchie ab.

Im Grunde genommen ist jedoch klar, dass es sich um zwei Seiten derselben Medaille handelt. Jedes Mitglied des Staatsapparats, mit Ausnahme seiner äußersten Schichten, ist gleichzeitig sowohl der Chef, als auch der Untergebene. Darum benimmt er sich auch mal so, mal so. Wozu führt das alles?

DIE AUFBLÄHUNG DES APPARATS Die erste Folge dieser „Politik“ ist verständlicherweise eine andauernde schrankenlose Aufblähung des Apparats (insbesondere der Gewaltorgane), die alle vernünftigen Grenzen überschreitet. Diese Aufblähung wird höchstens durch begrenzte Ressourcen gehemmt, die den konkreten Bürokraten und der Bürokratie als Ganzes zur Verfügung stehen. Ansonsten „kämpft“ die Bürokratie zeitlebens mit dieser Aufblähung, und das Ergebnis ist immer recht seltsam: Am Ende jeder routinemäßigen Kampagne zur Reduzierung des Apparats gibt es noch mehr Apparatschiks als zuvor.

Allerdings scheint dieses Ergebnis nur für diejenigen seltsam, die nicht wissen, dass die Neigung der Bürokratie dazu, ihre Reihen bis zum Geht- nicht- mehr zu verstärken, dieser ihrer Natur nach eigen ist. Das ist eine Manifestation der grundlegenden Interessen der Mitglieder dieser herrschenden Klasse, deren Massenaktivität die genannte Wirkung sicherstellt. Es ist einfach unmöglich, diese Wirkung aufzuheben, ohne die Herrschaft der Bürokraten in der Gesellschaft zu beseitigen.

Wie schlägt sich das in der Verwaltung nieder? Natürlich negativ. Insbesondere sinkt hierbei drastisch die Produktivität der Verwaltungsarbeit. Deutlich mehr Verwalter, als für die Lösung der anstehenden administrativen Aufgaben erforderlich sind, lassen sich von der Gesellschaft aushalten, was jedoch die Bürokraten selbst keineswegs stört. Sie blähen ja ihren Personalstand gar nicht auf, um die Qualität und die Effizienz der Verwaltung zu verbessern (obwohl dieser Prozess gewöhnlich eben durch den angeblichen administrativen Bedarf gerechtfertigt wird), sondern um ihre Macht und ihren Einfluss zu erhöhen, und sie schaffen es auch durchaus, dieses Ziel zu erreichen. Die niedrige Produktivität der Verwaltungsarbeit und folglich ihre hohen Kosten sind also bei Bürokratismus unvermeidlich.

DER CHARAKTER DER AUSWAHL Noch verderblicher ist hierbei die Tatsache, dass die personale Auswahl der Verwalter nicht aus geschäftlichen und beruflichen Gründen, sondern nach ihrer persönlichen Loyalität geschieht. Darüber hinaus werden natürlich auch andere Qualitäten der Kandidaten berücksichtigt: Beim offenen gewaltsamen Kampf wird z.B. die Kampffähigkeit der Vasallen und beim verdeckten Gerangel unter einer stabilen Zentralregierung werden ihre Geschicklichkeit und Hinterlist geschätzt. Aber im Vordergrund (aus dem Blickwinkel der Oberherren) stehen doch immer die Hingabe und die Treue. Die Auswahl (die Anstellung) von Untergebenen richtet sich vor allem danach.

Allerdings sind diese Eigenschaften Qualitäten, die schwer zu finden, aber leicht zu imitieren sind. Mehr noch: Ihre Imitation wird oft höher geschätzt und eher gefördert als sie selbst. Ein Knecht, der den Interessen seines Herrn wirklich treu ergeben ist, erlaubt sich ja, ihm manchmal zu widersprechen, ihn vor schädlichen Handlungen zu warnen. Er kann sich sogar weigern, gewisse Aufträge seines Herrn auszuführen und dadurch in Ungnade fallen (genauso wie ein echter Patriot, der seine Heimat verbessern will, sie mehr beschimpft als lobt), während ein indifferenter Imitator seinen Lehnsherren nie mit solchen Possen ärgert. Daher halten die Vorgesetzten meistens die Schmeichelei, die Unterwürfigkeit und andere Manifestationen von Servilismus für Ergebenheit und Treue. Bei Bürokratismus vermehren sich daher solche Manifestationen auch maßlos vonseiten der Untergebenen, die sich lieb Kind bei ihren Herren machen. Ein echter Erfolg in der bürokratischen Konkurrenz wird also durch künstlerische Fähigkeiten, Geschicklichkeit, List, Skrupellosigkeit, Gerissenheit, Gemeinheit, die Fähigkeit zu intrigieren usw. gesichert. Die Auswahl erfolgt hierbei in der Tat zumeist nach diesen Qualitäten und nicht nach der Treue dem Herrn gegenüber.

Allerdings ist das für uns gehupft wie gesprungen. Sollen sich doch die Lehnsherren aus diesem Anlass aufregen. Für uns ist nur wichtig, dass bei dieser Konkurrenz die beruflichen Qualitäten der Kandidaten, ihre Eignung als Verwalter fast keine Rolle spielen. Für eine bürokratische Karriere werden diese auch nicht benötigt. Als Ergebnis erhält man dann Kader, die … – Oh, Gott bewahre! Ihr Wissen, ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten, konkrete Verwaltungsprobleme zu lösen, sind unter aller Kritik.

DIE DEGRADIERUNG DES APPARATS Aber das ist noch nicht alles. Die bürokratische Auswahl der Kader gibt nicht nur ihrer Ergebenheit (und in Wahrheit ihrer List und der Tücke) den Vorzug vor ihrer Intelligenz und Professionalität, sondern lehnt diese Qualitäten gänzlich ab. Es sind ja nicht alle Lehnsherren Dummköpfe (vor allem nicht diejenigen, die ihre Position in der Hierarchie eben genau durch die oben erwähnte List und Tücke erreicht haben). Sie messen andere mit der eigenen Elle und oft begreifen sie durchaus, dass es in der Welt keine echte Ergebenheit, sondern nur Augenwischerei und Heuchelei gibt. Im Zusammenhang damit erwarten sie von ihren Untergebenen zu Recht Verrat, Intrigen und andere „Unannehmlichkeiten“. Wie lässt sich das vermeiden?

Im Idealfall natürlich durch die formale Fixierung ihrer Position, durch die Absicherung ihrer Unabhängigkeit vor den Launen des bürokratischen Schicksals (beispielsweise durch ihre oben beschriebene Verewigung in Form von vererbtem Status, Vornehmheit). Aber bis dieses Ideal erreicht wird (und in Wirklichkeit können sich nur „die hochmütigen Nachkommen der für ihre notorische Schurkerei berühmten Väter[31] ihres Hochadels rühmen), gibt nur die Auswahl von Untergebenen unter den Kandidaten eine Garantie, die ihren Vorgesetzten in allen wesentlichen intellektuellen und sonstigen Fähigkeiten unterlegen sind. Solche Leute werden nämlich unter keinen Umständen gegen ihre Chefs intrigieren oder diese bei Gelegenheit absetzen. Nicht etwa, weil sie das nicht wollen (wer will das nicht?!), sondern weil sie es nicht können.

Darum hat die Kaderauswahl von vornherein einen negativen Charakter. Talentierte Menschen haben Probleme mit der Karriere. Man hat Angst, Fachleute und überhaupt intelligente Menschen einzustellen, und sie werden nach und nach aus dem Staatsapparat verdrängt. (Es sei denn, sie sind intelligent genug, sich als Narren und Ignoranten zu verstellen; allerdings wird die Verwaltung durch die Tatsache nicht besser, dass sie nicht von einem echten, sondern von einem vermeintlichen Narren verdorben wird). Das Replizieren dieses Ansatzes auf allen Stufen der bürokratischen Leiter hat die Degradierung des Apparats zur Folge, was die Erfüllung seiner Aufgaben wesentlich beeinträchtigt. Logischerweise würde die Entwicklung dieser Situation mit einer Dominanz von Idioten enden, aber in der Praxis kommt es natürlich nicht dazu, alleine aus dem einfachen Grund, dass solche heruntergekommenen Staatsapparate sofort durch neue Räuber, sozusagen „Sanitäter dieses Waldes“ verschlungen werden, die noch nicht die Zeit gehabt haben zu degradieren. Für verwundete Tiere findet sich ja immer ein Jäger.

DIE RELATIVE UNZULÄNGLICHKEIT DES POPULISMUS Ich betone, die beschriebene Auswahl gibt es nur im Bürokratismus, wenn die Ernennung des Personals (so oder so) von oben erfolgt und den Kampf um die Macht und nicht die erfolgreiche Erfüllung von Verwaltungsaufgaben zum Ziel hat. Wenn die Verwalter gewählt werden, sieht das Bild anders aus. Hierbei sind den Wählern eben die Effizienz und die Qualität der Verwaltung wichtig, und sie sind daran interessiert, die Verwalter nach ihrer beruflichen Eignung auszuwählen, zumindest objektiv. Subjektiv kann es sicher auch anders sein. Wenn die Massen unkultiviert sind, haben Gerissenheit, Skrupellosigkeit usw. auch in einer Demokratie durchaus Chancen. Leider ist Populismus nach wie vor als politisches Phänomen relevant. Aber, ich wiederhole, bei der Wahl der Verwalter durch die Bevölkerung nutzt der Populismus nur die Ignoranz und Dummheit der Menschen aus, entspricht jedoch keineswegs ihrem realen Interesse als Wähler.

VOM ERGEBNIS ZUM PROZESS Im Bürokratismus wählen also die Lehnsherren die Vasallen für sich aus, die als Verwalter nichts taugen und versagen, wenn eine professionelle Verwaltung von komplexen Objekten gefragt ist. Dies ist hierbei das Ergebnis. Der vorangehende Prozess ist jedoch nicht besser. Die o.g. Ausrichtung der Auswahl negiert eine effektive Verwaltung an sich. Damit wird also nichts anderes als die Atmosphäre vorgegeben, in der die aktuelle Verwaltung stattfindet und bestimmt wird.

Die Imitation der Ergebenheit gegenüber den Vorgesetzten durch die kriechenden Untergebenen kommt nicht nur in der relativ harmlosen Schmeichelei und Unterwürfigkeit zum Ausdruck. Das ist lediglich die Kehrseite der wirklichen Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen des Herrn und überhaupt des Staates, dessen Apparat diese ganze Bande ist. Die Untergebenen widersprechen hierbei selbstverständlich in keiner Weise den Höherstehenden, welche Dummheiten die auch immer machen (zum Nachteil für sie selbst und für die Gesellschaft). Die Vasallen machen im Gegenteil nichts anderes, als den Lehnsherren auf den Mund zu gucken und dann so schnell sie können, um die Wette, deren Launen, welche auch immer, zu erfüllen. Wer sich als erster hervortut, der ist ein Held, unabhängig von der Qualität der getroffenen und umgesetzten Verwaltungsentscheidungen. Mit anderen Worten, es werden die Aktivitäten aller Einheiten des Staatsapparates nicht von den tatsächlichen Bedürfnissen der Gesellschaft, sondern vom Willen der vorgesetzten Behörden bestimmt. Das Verhalten der Massen von Apparatschiks hat gar nicht das Wohlergehen der Gesellschaft zum Hauptziel, sondern das Wohlwollen der Vorgesetzten. Dieses Wohlwollen hat wiederum nichts mit den positiven Ergebnissen der Verwaltungsarbeit selbst zu tun, und das beeinflusst natürlich die Qualität dieser Arbeit negativ.

TOTALER ZENTRALISMUS Die für den Bürokratismus charakteristische Konzentration aller Befugnisse an der Spitze der Machtpyramide und letzten Endes in den Händen des höchsten Hierarchen tut noch ein weiteres dazu. Er versucht, alles selbst zu entscheiden, ohne irgendjemand die geringste Entscheidungsfreiheit und Selbständigkeit zu geben, und das ist ein durchaus verständliches Handeln: Es geht ja um den bürokratischen Apparat, in dem Kraft und Macht das Gleiche sind. Unter diesen Umständen bedeutet die Übertragung von bestimmten Befugnissen auf einen anderen nichts anderes als die Teilung der Macht, also partiellen Machtverlust, und das ist nicht nur unangenehm, sondern auch gefährlich. Auf diese Weise verstärkt sich ja in der Tat das Fußvolk, das im Endeffekt eine ernsthafte Konkurrenz für das Zentrum darstellen kann. Nehmen Sie so viel Souveränität, wie Sie können[32]? Gut, gut. Wir wissen, womit das in bürokratischen Staaten endet, wo das Fußvolk immer mit den Oberen um die Selbständigkeit kämpft. Warum sollte man also auf die Idee kommen, das noch zu begünstigen? Das unmittelbare Interesse jedes Hierarchen in der Bürokratie besteht darin, die Antriebsriemen der Macht unter keinen Umständen loszulassen. Das erfordert schon der normale Überlebensinstinkt. Ansonsten: Gibt man einen Finger, verliert man die ganze  Hand, und dann wird man gar mit Haut und Haar gefressen.

Daher versucht das Zentrum im Bürokratismus, die Macht, so gut es geht, zu monopolisieren. Jede Selbständigkeit des Fußvolks wird im Ansatz unterdrückt und als ein Eingriff in des Hierarchen Rechte, als ein Staatsverbrechen, gewertet, was natürlich zu (für die Effizienz der Verwaltung) schlimmen Folgen führt.

DIE ÜBERLASTUNG DER OBEREN Erstens, da der Hierarch alle Befugnisse hat, muss er auch für alles haften. Er ist gezwungen, wirklich alles, bis ins kleinste Detail, im „Handbetrieb“ zu kontrollieren, und das ist rein praktisch nicht möglich. Er kann nicht Hansdampf in allen Gassen sein. Niemand ist in der Lage, auf kompetente Weise quer durch den Gemüsegarten alles zu verwalten und Experte auf allen Gebieten zu sein. Dementsprechend können die Ergebnisse der Tätigkeit eines bürokratischen Führers nur jammervoll sein, egal wie er sich schindet und plagt.

DIE HANDLUNGSUNFÄHIGKEIT DES FUSSVOLKES Die zweite Konsequenz der totalen Zentralisierung ist die Lähmung der Apparatschiks, wenn es keine Befehle von oben gibt, d.h. der völlige Mangel an Initiative, die Unfähigkeit, halbwegs selbstständige Entscheidungen zu treffen (und -stärker noch- diese umzusetzen). Wenn Selbstständigkeit strafbar ist, ist es eben besser, nichts ohne Anweisungen der Vorgesetzten zu tun. Denn dann gibt es ein geringeres Risiko, dass man leiden muss.

Daher ist die bürokratische Verwaltung unflexibel und unbeweglich. Sie funktioniert nur halbwegs in einem Rahmen, der durch die von oben kommenden Befehle und Anweisungen bestimmt ist, hakt jedoch jedes Mal, wenn die Situation diesen Rahmen übersteigt. Dann verfallen die Bürokraten in Attonität und ersterben in Erwartung der Anweisungen von oben. Sie verlieren kostbare Zeit, anstatt unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um anstehende Probleme zu lösen. Niemand will die Verantwortung übernehmen, und die Ergebnisse dieser „Aktivitäten“ sind mitunter katastrophal.

DER VERLUST VON RÜCKKOPPLUNG Drittens stirbt unter den beschriebenen Bedingungen nach und nach die Rückkopplung zwischen den Verwalteten und den Verwaltern. Die Letzteren verlieren eine angemessene Vorstellung davon, was in der Gesellschaft geschieht, und verwalten praktisch „blind“. Worauf ist das zurückzuführen?

Einerseits darauf, dass die unteren Apparatschiks in den Augen der Oberen gut aussehen wollen; eben deswegen nehmen sie es nicht so genau mit der Wahrheit in ihren Berichten über die Situation in den ihnen anvertrauten Bereichen. Dazu kommt das Bestreben, ihren Vorgesetzten zu schmeicheln: „Dank Ihren wertvollen Hinweisen gibt es lauter Siege an allen Fronten“. Ganz zu schweigen von den häufigen Fällen, wenn das Fußvolk die Oberen aus intriganten Gründen irreführt, um zusätzliche Ressourcen zu bekommen, Gegner zu drangsalieren u.a.m.

Andererseits ist ein solches Verhalten der unteren Apparatschiks einfach Teil des Systems, denn die bürokratische Verwaltung ist zwangsläufig ein Misserfolg. Alles verwelkt in kurzer Zeit und stirbt ab. Und was soll das arme Fußvolk tun? Etwa den Oberen von der Situation wahrheitsgemäß berichten? Würden sie dann nicht sagen: „Also, dank Ihrer Idiotie stecken wir in einer Zwickmühle.“? Dann würde man die Verantwortung auf die „Berichterstatter“ abwälzen und ihnen die ganze Schuld in die Schuhe schieben. Deswegen also müssen sie drauflos lügen, nicht so sehr um ihres Images, sondern um ihrer Selbsterhaltung willen, um sich vor dem Zorn und der Bestrafung durch die Oberen zu retten. Deswegen beschönigt das Fußvolk die Situation, so gut es kann, indem es in seinen Berichten positive Bilder der Wirklichkeit malt. Das ist ein kontinuierlicher Strom von Desinformation und Täuschung der übergeordneten Instanzen. Die Verwaltungsentscheidungen werden durchgängig auf der Grundlage falscher Daten getroffen, was natürlich die Situation wiederum nicht verbessert, sondern noch weiter verschlimmert.

DER VOLUNTARISMUS Viertens beeinflussen die genannten positiven Berichte der Untergebenen und ihre weit verbreitete überschwängliche Begeisterung über die „unendliche Weisheit“ der Führer die Psyche der Letzteren (vor allem, wenn sie auch sonst nicht die Hellsten sind) und erzeugen bei ihnen den Glauben an ihre wahre Unfehlbarkeit und Allmacht. Manche drehen unter solchen Umständen sogar durch. Auf dieser Basis erscheint ein sogenannter Voluntarismus, d.h. die Unwilligkeit und die Unfähigkeit der bürokratischen Hierarchen, die Situation nüchtern zu beurteilen und auf objektive Gegebenheiten Rücksicht zu nehmen. Dies verleiht ihrer Politik die Züge einer vollständigen Idiotie und multipliziert deren negative Folgen.

Allerdings bildet sich  der gleiche Glauben an die Einmaligkeit und Omnipotenz der höchsten Instanzen auch bei den unteren Apparatschiks aus. Die Allmacht der Oberen über das Schicksal der Unteren bringt bei den Untergebenen eine Illusion der absoluten Macht der Herrschenden und vor allem des höchsten Hierarchen in allen Bereichen hervor. Wenn man sich in einer Atmosphäre befindet, wo die Anweisungen der Vorgesetzten die letzten und unbestreitbaren Wahrheiten sind, gewöhnt man sich daran, diese genauso wahrzunehmen. Man beginnt ungewollt, dieses dumme Zeug als Realität zu akzeptieren. Daraus ergeben sich alle möglichen Führerkulte, nicht nur als Ergebnis der aufdringlichen Staatspropaganda, sondern auch auf der Ebene der persönlichen Überzeugungen von Menschen.

DIE PRIORITÄTEN Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, wenn wir uns noch einmal an die Prioritäten der Bürokratie erinnern. Welche Ziele verfolgt sie in ihren Verwaltungsaktivitäten? Ihr Hauptanliegen ist nicht das Wohlergehen der Gesellschaft, sondern die Durchsetzung ihrer eigenen, vor allem ihrer privaten Interessen, die in vielerlei Hinsicht einfach durch Diebstahl und Korruption erreicht werden. Als Klasse im Ganzen strebt die Bürokratie dabei in erster Linie an, ihre Herrschaft in der Gesellschaft und in der Welt zu bewahren und auszubauen. Das erste Mittel, dies zu erreichen, ist die Steigerung der militärischen Stärke (natürlich kann die Bürokratie nicht auf ihre moralische Autorität setzen, weil sie darüber gar nicht verfügt und weil sie diese ohnehin grundsätzlich verachtet). Deshalb geben Bürokraten die meisten Ressourcen der Gesellschaft für die Aufrüstung, die Armee und dafür aus, die sie bewachenden Söldner auszuhalten usw.

Darüber hinaus ist, wie oben erwähnt, die gesamte Politik des bürokratischen Staatsapparates darauf gerichtet, die Gesellschaft zu spalten, zu zerdrücken, zu verblöden und in ihr alle Ansätze von Selbstverwaltung und Selbstständigkeit zu vernichten. Diese Ziele der Verwalter laufen natürlich den Bedürfnissen der fortschrittlichen Entwicklung von Wirtschaft, Kultur, Bildung und anderer Bereiche des gesellschaftlichen Lebens völlig zuwider. Die Gesellschaft bleibt unter der Fuchtel der Bürokraten unweigerlich zurück und verliert im Wettbewerb mit den bürgerlichen Staaten oder verfault gänzlich, verliert ihre Vitalität und geht als Gesellschaft zugrunde.

WAS FÜR DEN RUSSEN GESUND IST, BRINGT DEN DEUTSCHEN UM[33] Heißt das also, dass Bürokratismus in jeder Hinsicht schlecht ist? Tritt dabei überall nur Negatives zutage, von welcher Seite man die bürokratische Verwaltung auch betrachtet? Nein, keineswegs. Man kann einer Sache nicht abstrakt etwas Positives oder Negatives zuschreiben. Alles hängt von den konkreten Bedingungen, in unserem Fall vom Verwaltungsgegenstand, ab.

Die klassischen Verwalter der primitiven Bauerngesellschaften regelten meist nur die allgemeinsten Lebensgesetze und sicherten stabile Bedingungen für die Wirtschaftsführung der unmittelbaren Produzenten. Die Bürokraten lösten hierbei innere Konflikte, richteten, erhielten die Ordnung aufrecht und verteidigten ihre Untertanen gegen äußere Bedrohungen und Raubüberfälle vonseiten aggressiver Barone. Das alles sind rein politische kraftmäßige Aufgaben, und die beschriebenen Geschäfte der Bürokraten unter der Hand sowie gewaltsames Vorgehen sind hierbei besonders effektiv. Um den politischen Kampf zu gewinnen, braucht man eben außer der direkten Macht Eigenschaften wie List, Heimtücke, Grausamkeit, Prinzipienlosigkeit und die Fähigkeit, sich bei den Oberen einzuschmeicheln und Rivalen auszubooten usw., jedoch keineswegs solche geradezu „lächerlichen“ Eigenschaften wie Geschäftssinn und Fachkenntnisse. Überleben und Erfolg im bürokratischen Raubtierkäfig werden davon nicht im Geringsten definiert. Der Sieger ist immer entweder der hartherzigste Haudegen oder der pfiffigste Intrigant, kurz derjenige, der die Fäden am festesten in der Hand hält und dementsprechend die stabilste „Dachorganisation"[34] darstellt. Unter diesen Bedingungen sind die Besonderheiten der bürokratischen Verwaltung durchaus am Platze.

WAS DEN DEUTSCHEN UMBRINGT, IST FÜR DEN RUSSEN GESUND Das alles ändert sich erst dann, wenn diese Art Verwaltung Bereiche betrifft, die dem politischen Kampf und dem politischen Erfolg fremd sind und andere Motivationen, Fähigkeiten und Ergebnisse erfordern, z.B. die Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheit, Bildung, Kultur etc. Hier sind die beschriebenen Eigenschaften der bürokratischen Verwaltung keineswegs angebracht und sogar geradezu verderblich. Die Bürokratie mit ihren Zielen und Prioritäten ist einfach nicht imstande, diese Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gut und effizient zu verwalten.

In der klassischen Zeit hatte sie das, wie schon gesagt, auch gar nicht vor. Das Maximum im Bereich ihrer Aufgaben war die Organisation bestimmter öffentlicher Arbeiten wie der Errichtung von Dämmen und des Baus von Festungen, was als die Verwaltung der Produktion und sonstiger gesellschaftlicher Lebenstätigkeit  als Ganzes überhaupt nicht angesehen werden kann. (Eine Ausnahme in dieser Hinsicht war nur das alte Ägypten mit seiner totalen Vergesellschaftung, also der Bürokratisierung von allem, aber das ist ein Kapitel für sich). Doch in jüngster Zeit haben die Apparatschiks in einer Reihe von bürokratischen Staaten, insbesondere in der UdSSR, aufgrund von objektiven und subjektiven Gründen diese Aufgaben, die sie eigentlich nicht leisten konnten, übernommen und anfangs sogar einiges erreicht, indem sie sich auf den mächtigen Zentralismus und andere günstige Bedingungen stützten, hauptsächlich auf dem Gebiet der für sie so wertvollen Rüstung und auf Kosten von zahllosen Opfern und der Überlastung und Erschöpfung der Kräfte ihrer Untertanen. Die Bürokraten können ja ihre Ziele anders gar nicht erreichen. Wie oben gezeigt, sind sie als Verwalter reine Versager. Darum führte ihre Herrschaft die sowjetische Gesellschaft auch zum Zusammenbruch. Und heute marschiert auch Putins Russland mit denselben Liedern und unter derselben Führung ins Blaue hinein.

TAKTIK GEGEN STRATEGIE IN DER WELTARENA Darüber hinaus ist zu verzeichnen, dass bürokratische Ansätze und Methoden, oberflächlich betrachtet, auch in der Außenpolitik am effektivsten sind. In jedem Fall, insofern es denselben politischen Kampf darstellt. Auch hier gewinnen meistens taktisch (aber nicht strategisch!) die Pfiffigsten, Listigsten, Skrupellosen etc. Aus diesem Grund übertreffen die Führer der bürokratischen Staaten (die bereits die richtige Wahl für die Gemeinheit getroffen haben; wie auch sonst wären sie zu Führern geworden?) in der Regel die Politiker der demokratischen Länder. Letztere haben zum einen nicht die gleiche List, Tücke, Schamlosigkeit usw. (weil sie von der Bevölkerung nicht wegen dieser Merkmale gewählt werden). Zum anderen können sie es sich einfach nicht leisten (auch unabhängig von ihren Fähigkeiten und ihrem Ethos), sich auf diese Weise zu benehmen, weil sie unter der Kontrolle ihrer Konstituenten stehen und in der Wahl der möglichen Mittel des politischen Kampfes begrenzt sind. So sind die Bürokraten (Hitler, Stalin usw.) in diesem Bereich viel erfolgreicher als die Demokraten (weswegen sie auch den Ruhm als „brillante" Politiker gewinnen).

Aber, ich wiederhole, nur kurzfristig, vorübergehend. Erstens wegen der unvermeidlichen Reputationsverluste (früher oder später hört man auf, den Politikern zu glauben, die sich mit Treulosigkeit befleckt haben, und man verzichtet darauf, mit ihnen umzugehen). Zweitens (und das ist das Wichtigste) wegen der Tatsache, dass die durch die Bürokratien geführten Gesellschaften in ihrer Entwicklung hinsichtlich aller wichtigen Richtungen und Parameter unweigerlich hinter den demokratischen Gesellschaften zurückbleiben. Dabei ist die reale Stärke, sind die wirklichen Ressourcen weitaus wichtigere politische Faktoren als List und Heimtücke.

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Dies sind im Allgemeinen die Hauptmerkmale und Gesetzmäßigkeiten der bürokratischen Gesellschaftsordnung. Schauen wir nun, wodurch sie im Ergebnis der Machtergreifung durch die Bourgeoisie abgelöst wurde.

Vortrag acht. DER ÜBERGANGSZEITRAUM VOM BÜROKRATISMUS ZUR BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFTSORDNUNG

1. Die Genese der Bourgeoisie

WIE SOLLTE DAS THEORETISCH ABLAUFEN? Die Bourgeois sind Leute des Marktes, und ihre Genese ist mit seinem Werden verbunden. Als Theorie soll dies als das Werden des Binnenmarktes in einer separaten (isolierten, nicht von außen beeinflussten) und zunächst wirtschaftlich homogenen (völlig natürlich produzierenden) Gesellschaft behandelt werden. In diesem idealisierten „Laborfall“ kann die wichtigste Ursache dafür nur die natürliche fortschreitende Entwicklung der Produktion sein, die einerseits in ihrer qualitativen Differenzierung und andererseits im Wachstum der Arbeitsproduktivität zum Ausdruck kommt. Diese Entwicklung ermöglicht die Spezialisierung einzelner Produzenten auf die Produktion bestimmter Produkte, was für alle Mitglieder der Gesellschaft zunehmend möglich und profitabel wird. Dies wird gesetzmäßig durch den sich parallel entwickelnden Austausch der Produkte begleitet. Kurz gesagt, ist die Genese der Marktbeziehungen beim theoretischen Herangehen eine Folge der Produktionsentwicklung; sie entspricht einer bestimmten Etappe dieser Entwicklung. Auf diese Weise ging es tatsächlich auch im Großen und Ganzen vor sich, allerdings eben nur im Großen und Ganzen.

WIE SPIELTE SICH DAS ALLES TATSÄCHLICH IN DER GESCHICHTE AB? In der realen Geschichte gab es keine „Laborbedingungen“: Weder völlig isolierte Gesellschaften noch eine total gleichförmige Produktion. Ersteres war nicht der Fall, weil die meisten bewohnbaren Regionen der Erde besiedelt waren (überall gab es Nachbarn), Letzteres nicht wegen der natürlichen und geographischen Unterschiede der Regionen. Infolgedessen wurden überall von Anfang an nicht interne, lokale, sondern interregionale und internationale Märkte gebildet, selbst auf der Basis einer unterentwickelten Produktion. Die Masse der Hersteller beharrte dabei meist auf der Naturproduktion, stellte jedoch an verschiedenen Orten verschiedene Produkte her, und das ermöglichte deren Austausch. Das nutzten auch allerlei Zwischenhändler, die die „Kuriositäten“ einiger Regionen kauften und diese in anderen Regionen verkauften. (Daher waren die Kaufleute von der Antike bis zur Neuzeit die ersten und wichtigsten Agenten des Marktes; alle anderen, nämlich Transportarbeiter, Finanziers und Handwerker, spielten eine nebensächliche Rolle).

         Diese Bildung und Entwicklung des internationalen Marktes spielte für die Genese der Binnenmärkte vieler Gesellschaften die Rolle eines mächtigen Katalysators. Dank der Einbeziehung verschiedener Regionen in den Welthandel spezialisierte sich ein großer Teil ihrer Bevölkerung auf die Produktion bestimmter Güter (z. B. Hering in Holland, Wolle in England). Sie förderten somit (als hoch spezialisierte Produzenten) eine große Nachfrage nach allen anderen, für das Leben notwendigen Produkten. Natürlich fiel es viel leichter, die meisten davon in der Nähe zu produzieren, als sie irgendwo aus der Ferne zu holen. Diese wachsende Nachfrage wurde unweigerlich durch das entsprechende wachsende lokale Angebot unterstützt, und das verursachte so die Entwicklung des Binnenmarktes.

WARUM IST DER BINNENMARKT WICHTIG? Im Übrigen ist für uns nicht so sehr von Bedeutung, wie und mit welcher Geschwindigkeit diese Entwicklung stattgefunden hat, sondern was genau hierbei vor sich ging. Ob mit Katalysator oder ohne, die Genese der lokalen Märkte ist an sich nichts anderes als die Entwicklung einer Produktion zum Verkauf, also die Herausbildung von breiten Schichten tatsächlicher Warenproduzenten (und nicht mehr nur der Zwischenhändler von ausländischen Produkten und dergleichen). Die Marktbeziehungen drangen dabei in die Gesellschaft selbst ein, und die Masse ihrer Mitglieder fing an, sich für den Markt zu interessieren. Während die Kaufmannschaft den Gesellschaften, in denen sie ihre Vermittlungsgeschäfte ausführte, meistens fremd gegenüberstand (weswegen sie sich nicht sonderlich viel um die Angelegenheiten dieser Gesellschaften kümmerte), sind die Produzenten marktfähiger Produkte (mit ihrer unvermeidlichen Produktionslokalisierung) so wie im Allgemeinen alle mit dem Funktionieren dieses oder jenes lokalen Marktes verbundenen Menschen immer Mitglieder einer entsprechenden Gesellschaft. Sie sind weit davon entfernt, gegenüber der darin herrschenden Ordnung gleichgültig zu sein. Das Werden der Binnenmärkte war also gleichbedeutend mit dem Werden der in den konkreten Gesellschaften viel stärker verwurzelten lokalen Bourgeoisie, deren Kern die Masse der Warenproduzenten war und die an einer probürgerlichen wirtschaftlichen und politischen Ordnung interessiert war. Wir haben es hierbei also schon mit der Entwicklung und dem Reifen der Bourgeoisie als einer echten gesellschaftlichen Klasse zu tun.

         (Darüber hinaus bedeutet die Bildung des Binnenmarktes auch die Herstellung von stabilen Kontakten und engen Beziehungen zwischen den Bewohnern der jeweiligen Territorien und damit die Bildung einerseits der Grundlage der sogenannten Zivilgesellschaft und andererseits der ethnisch-kulturellen Gemeinschaft, die Nation genannt wird).

2. Die Übergangszeit

ZWEI TYPEN VON KRAFTFAKTOREN Die erwähnte Entwicklung und Reifung der Bourgeoisie verlief in verschiedenen Richtungen, von denen für uns im Moment nur ihre wachsende Stärke interessant ist (das Wesen ihrer Entwicklung, u.a. das soziale, wird Gegenstand der folgenden Vorträge sein). Die Stärke einer Klasse wird bekanntlich durch ihre Fähigkeit bestimmt, die für sie vorteilhafte gesellschaftliche Ordnung herzustellen. Dabei habe ich im fünften Vortrag schon genügend gezeigt, worin genau die Stärke der Bourgeois besteht, und werde deshalb nicht noch einmal zu diesem Thema zurückkehren. Es ist hier wichtig, den Prozess ihrer Stärkung und die begleitenden gesellschaftlichen Erscheinungen zu untersuchen.

         Die Kräftevermehrung durch die Bourgeoisie verlief auch in vielen Richtungen. Sie entstanden aus den Unterschieden jener Kraftfaktoren, die die Bourgeois meisterten und entwickelten. Oben habe ich mindestens acht solche Faktoren genannt. Bei der Beschreibung des Kraftpotenzials der Klasse war es zulässig, diese Faktoren ungeordnet auf einen Haufen zu werfen. Allerdings zwingt uns die Erörterung des Problems der Kräftevermehrung, jeden im Einzelnen zu behandeln.

         Erstens, weil diese Faktoren nicht gleich wiegen, (sowohl absolut, d.h. „bei jedem Wetter“, als auch relativ, d.h. in Abhängigkeit von den sich ändernden Bedingungen). So ist z.B. die Waffenstärke (insbesondere die der Massenvernichtungswaffen) wichtiger als die Kopfstärke. Zweitens, weil sie ungleichmäßig heranreifen (von der Bourgeoisie entwickelt werden), einige schneller, andere langsamer; dementsprechend betreten die „Eiligen“ vor den „Dumpfbacken" die Arena des politischen Kampfes. Schließlich drittens, weil jeder besondere Faktor seine eigene Rolle bei der Etablierung der Ordnung in dem erwähnten Kampf spielt: Einige von ihnen sind wichtiger, um die Macht zu ergreifen, andere – um sie zu erhalten.

         Daher ist es, ich wiederhole, bei der Analyse jedes realen Prozesses der Machtergreifung durch eine bestimmte Klasse (z.B. durch die holländische, englische oder französische Bourgeoisie) in einer bestimmten Gesellschaft   notwendig, die komplexe Dynamik im Detail nach und nach zu untersuchen, nämlich, wie diese Klasse die Macht ergreift und nutzt. Allerdings sind die konkreten Prozesse nicht unser Thema, sondern das Kräftesammeln und die Machtübernahme durch die Bourgeoisie im Allgemeinen, so dass wir mehr verallgemeinernd sprechen. In dieser Hinsicht ist es unter Berücksichtigung der genannten Unterschiede angemessen, die Kraftfaktoren in zwei Hauptgruppen zu unterteilen: a) eigentliche Kraftfaktoren (dazu gehören die Kopfstärke, die Bewaffnung, der Reichtum, der Organisationsgrad etc.) und b) die Fähigkeit, diese Kraft zum eigenen Vorteil zu nutzen, sozusagen die politische Kultur (zu der auch die allgemeine und besondere Sachkenntnis, bestimmte Fähigkeiten, sich zu verhalten, usw. gehören).

         Die erstgenannten Faktoren dominieren natürlich rein kräftemäßig; gleichzeitig übertrifft ihre Reifung oft die Reifung der letztgenannten. Das Wachstum der politischen Kultur hinkt normalerweise dem Wachstum der Kraft hinterher. Außerdem bestimmen diese beiden Parameter in unterschiedlichem Maße die Fähigkeit (Bereitschaft) einer Klasse, die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten. Die einfache Kraft wird sozusagen benötigt, um das Bestehende zu brechen, die Fähigkeit, sie zu gebrauchen, dient dem Aufbau. Ohne ausreichende Kraft kann man natürlich die Macht weder ergreifen noch erhalten, und ohne ausreichende politische Kultur ist im besten Fall nur das Erstere, nicht aber das Letztere möglich. Oder, um es anders zu sagen, bestimmt die einfache Kraft die Autorität einer Klasse in der Gesellschaft, also die Frage, inwiefern man mit ihr rechnen muss. Das alleine reicht allerdings nicht aus, um eine Ordnung zu etablieren, die den Interessen dieser Klasse entspricht. Hier braucht die Klasse noch erstens das Wissen über den Inhalt dieser Ordnung und zweitens die Fähigkeit, diese zu etablieren und zu erhalten.

DAS NEUE AN DER SITUATION Ich unterstreiche, dass es sich bei all dem um eine neue Situation handelt, auf die wir oben noch nicht gestoßen sind. Bei der Untersuchung der Machtübernahme durch die Bürokratie war das Problem ihrer politischen Kultur nicht relevant. Ich schnitt es teilweise nur im Rahmen der Konfrontation des Zentrums mit der Peripherie des Staatsapparats an. Die politische Kultur war hierbei in Bezug auf den Kampf gegen den Separatismus von Bedeutung und lief hauptsächlich auf das Wissen über die Präventionsmethoden und die Fähigkeiten hinaus, diese anzuwenden, welche die Hierarchen im Laufe der Jahrhunderte infolge der bitteren Erfahrung erworben hatten. Darüber hinaus kann wohl auch die Aneignung von Nuancen des Machtgezänks, die als Machiavellismus bekannt sind, als Wachstum der politischen Kultur der Bürokratie bezeichnet werden (wenn es überhaupt nötig ist, Grausamkeit, Verrat, Betrug, Laxheit u.a.m. zu erlernen, und wenn man solche Eigenschaften überhaupt eine Kultur nennen kann). Aber all das spielte nur in den internen Auseinandersetzungen dieser Klasse und nicht in ihren Beziehungen zur Gesellschaft eine Rolle. Der Staatsapparat brauchte keine zusätzlichen Finessen, es reichte einfach die rohe Gewalt, um der Gesellschaft die probürokratische Ordnung aufzuzwingen, zumindest in der klassischen Periode des Bürokratismus (in der späteren anspruchsvollen Gesellschaft müssen die Bürokraten natürlich die Methoden des Machiavellismus nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen andere soziale Schichten anwenden).

         Ich präzisiere auch für alle Fälle, dass die Entwicklung der politischen Kultur einer Klasse nicht mit ihrer Umwandlung von einer Klasse an sich in eine Klasse für sich verwechselt werden sollte. Die Selbsterkenntnis einer Klasse als einer besonderen sozialen Gemeinschaft mit besonderen Interessen ist nicht mit der Beherrschung von schlauen Technologien und Praktiken des Kampfes für ihre Dominanz gleichzusetzen, und diese Prozesse finden nicht gleichzeitig statt. Die subjektive Entartung beispielsweise der Verwalter von „Dienern" der Gesellschaft in deren Ausbeuter tritt erst ein, nachdem sie sich tatsächlich an die Spitze der öffentlichen Macht gesetzt haben. Das geschieht in dem Maße, wie sie diese herrschende Stellung erkennen. Im Gegensatz dazu erkennt die Bourgeoisie sich selbst und ihre Klasseninteressen viel früher, als sie sich der Technologie (Mechanismen, Hebel) bemächtigt, um die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten.

DIE URSACHEN DER SITUATION Warum aber brauchen die Bürokraten keine besondere politische Kultur, um an der Macht zu bleiben, während die Bourgeoisie diese benötigt? Dies liegt an ihrer unterschiedlichen Einstellung zur Verwaltung der Gesellschaft.

         Wie bereits erwähnt, wird diese Verwaltung (deren Hauptinhalt die Errichtung und Aufrechterhaltung einer bestimmten öffentlichen Ordnung ist) professionell vom Staatsapparat ausgeführt, der über alle dafür notwendigen Befugnisse und Ressourcen verfügt. Daher bedeutet die Ergreifung und Aufrechterhaltung der Macht in der Gesellschaft nichts anderes, als die Ergreifung und Aufrechterhaltung dieses Apparats unter eigener Kontrolle. Ich betone: Erstens eben des Staatsapparats als des wichtigsten und des einzigen Mittels, die Ordnung und die Herrschaft in der Gesellschaft zu sichern, und zweitens eben unter der eigenen Kontrolle, unter Ausschluss aller anderen konkurrierenden Gruppen. Dabei müssen de facto zwei Aufgaben gelöst, zwei Ziele erreicht werden. Die politische Kultur wird eben genau dafür benötigt, diese Ziele zu erreichen, natürlich nur in den Fällen, in denen sie aktuell sind.

         In diesem Sinne existiert das erste Problem für die Bürokratie nicht. Sie hat es nicht nötig, sich den Staatsapparat auf listige Art und Weise unterzuordnen, weil sie und er dasselbe sind. Für die Verwalter kann nur die Aufgabe der Monopolisierung der Macht (also der Sicherstellung ihrer Unkontrollierbarkeit seitens der Regierten) von Bedeutung sein, und auch das nicht in der klassischen Periode der Genese und der Herrschaft der Bürokratie, als niemand nach dieser Kontrollierbarkeit trachtete (und auch niemand imstande war, das überhaupt zu versuchen). Erst nachdem andere mächtige Klassen (beginnend mit der Bourgeoisie) auf der politischen Bühne erschienen, war die Bürokratie gezwungen, besondere Methoden und Technologien zu ihrer Bekämpfung zu erfinden und anzuwenden, also theoretisch und praktisch die politische Kultur zu meistern.

         Im Gegensatz dazu muss die Bourgeoisie (und im Allgemeinen jede Klasse, die eigentlich kein öffentlicher Verwalter ist) an den beiden genannten Fronten kämpfen. Sie muss sich den Staatsapparat unterordnen und darf auch keinem der eventuellen Rivalen (für den Fall, dass sie auftauchen) erlauben, ihn unter ihre Kontrolle zu bringen. Jede dieser Aufgaben erfordert eine zunächst theoretische und dann auch praktische Lösung. Es ist erstens notwendig, das Wissen darüber zu erlangen, wie diese Klasse den Staatsapparat sich (und nur sich) unterordnen kann; zweitens dieses Wissen unter einer ausreichenden Anzahl von Mitgliedern der Klasse zu verbreiten (oder abzuwarten, bis es sich auf  natürliche Art und Weise verbreitet), und schließlich drittens zu lernen, es in der Praxis massenhaft anzuwenden, also die Fähigkeit eines angemessenen politischen Verhaltens zu erwerben. Ohne dies können die Bourgeois die Macht nicht ergreifen, egal wie stark sie in allen anderen Parametern sind. Es ist nicht möglich, sich den Staatsapparat (auf einer stabilen Basis) einfach mit roher Gewalt unterzuordnen. Man kann ja nicht immer Revolutionen organisieren, um ihm seinen Willen aufzuzwingen. Es reicht nicht aus, die bürokratische Ordnung zu brechen (in der Lage zu sein, diese zu brechen), man muss an ihrer Stelle irgendeine anders geartete aufbauen (imstande sein, sie aufzubauen). Und man kann dabei nicht auskommen ohne a) den Verwaltungsapparat, b) das Vorhandensein (oder die Erfindung) von besonderen Technologien seiner Unterordnung durch die Bourgeoisie, c) die Meisterung dieser Technologien durch sie und d) die Fähigkeit, diese Praktiken zu nutzen. Die letzten beiden Punkte umfassen eben die sogenannte politische Kultur einer Klasse. Sie ist die obligatorische Voraussetzung für den Sieg der Bourgeoisie im Kampf um die Macht in der Gesellschaft (vor allem gegen die Bürokratie).

DER KLASSISCHE BONAPARTISMUS Dabei bleibt, wie gesagt, die Beherrschung der genannten Kultur durch die Bourgeoisie hinter der Anhäufung ihrer Kraft zurück. Die Fähigkeit, die Bürokraten zu stürzen, wird von ihr früher erworben als die Fähigkeit, die Macht in den Händen zu behalten. Darum werden diese beiden Fähigkeiten auch nicht gleichzeitig angewendet: Die Bourgeois beginnen die Bürokraten überall zu stürzen, lange bevor sie lernen, sich diese unterzuordnen, und das hat logische Konsequenzen.

         In diesem Szenario sind die politischen Ergebnisse der primären bürgerlichen Revolutionen (sowohl in bestimmten Gesellschaften, als auch überhaupt) unvermeidlich nur hinsichtlich des Auswechselns von Personen, aber nicht der Änderung des Wesens der bürokratischen Regime. Nachdem die Bourgeois die ehemaligen Verwalter physisch vernichtet bzw. ins Ausland vertrieben haben, sind sie gezwungen, an deren Stelle auf jeden Fall neue Verwaltungsstrukturen zu bilden, denn ohne diese sind weder eine Ordnung noch eine Gesellschaft überhaupt möglich. Die neuen Staatsapparate verwandeln sich natürlich sofort in neue Bürokratien, in herrschende Klassen der durch sie verwalteten Gesellschaften, wenn die Bourgeoisie nicht imstande ist, diese neuen Strukturen unter ihre Kontrolle zu bringen. An die Stelle der gestürzten „legitimen“ Monarchien kommen offene persönliche Diktaturen der Revolutionsführer, im Prinzip eigentlich wieder Monarchien, die anfangs noch in den Kinderschuhen stecken, also weder durch uralte Traditionen des dynastischen Machtbesitzes noch durch formelle Zeremonien der Regierungssalbung geheiligt sind (allerdings versäumte es der allmächtige Napoleon I. nicht, sich selbst den Titel des Kaisers zu verleihen).

         So enden bei der niedrigen politischen Kultur der Bourgeois selbst ihre siegreichen Revolutionen mit der Wiederherstellung des Bürokratismus. Die Macht rinnt ihnen hierbei unweigerlich durch die Finger. Das Maximum, das sie unter solchen Bedingungen erreichen können, ist die Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Interessen durch die neuen Bürokratien. Diktatoren, die auf dem Wellenkamm der bürgerlichen Revolutionen an die Macht kommen, sind natürlich gezwungen, die Forderungen dieser Revolutionen auf diese oder jene Weise zu erfüllen. Sie können in ihrer Politik auch im Allgemeinen die reale Kraft der Klasse nicht ignorieren, die sie vertreten. Das für den Bürokratismus übliche politische System der Bildung und Organisation des Staatsapparats geht hierbei also mit der bürgerlichen Ordnung einher, die durch diesen Staatsapparat im wirtschaftlichen Bereich, also bei der Produktion und Verteilung von Gütern geschaffen wird (ein anschauliches Beispiel dafür ist der allgemein bekannte Code Napoleon). Dies ist die Essenz des sogenannten Bonapartismus in seiner klassischen Form.

         Ich wiederhole, er ist eine Folge der ungleichzeitigen kräftemäßigen und kulturellen Reifung der Bourgeoisie und stellt eine Art erzwungenen Kompromiss zwischen dieser Klasse und der Bürokratie dar. Dabei gehört den Bürokraten de jure die Macht in der Gesellschaft, aber nicht wegen ihrer kräftemäßigen Dominanz, sondern nur, weil die stärkere Bourgeoisie nicht weiß, wie sie ihre Stärke in eine reale Kontrolle über den Staatsapparat umwandeln kann. Er ist unkontrollierbar in seiner Herausbildung, aber nicht in seiner (besonders wirtschaftlichen) Politik, also dort, wo es um die grundlegenden Interessen der Bourgeois geht. In diesem Bereich können es sich die Bürokraten nicht leisten, sich zu versteigen, ohne einen Umsturz zu riskieren, sie müssen mit einer zumeist bürgerlichen Ordnung vorliebnehmen und das Privateigentum und andere Marktinstitutionen schützen.

DER BONAPARTISMUS UND DER CÄSARISMUS Man sollte übrigens den Bonapartismus nicht mit dem Cäsarismus verwechseln, wie das oft geschieht. Diese beiden Arten von bürokratischen Führern haben unterschiedliche Machtquellen und dementsprechend unterschiedliche Motivationen in Bezug auf die etablierte Gesellschaftsordnung. Der Cäsarismus ist die Ergreifung der Macht durch einen populären Heerführer, der sich ausschließlich auf die Armee stützt; der Bonapartismus ist das Produkt der kräftemäßigen Dominanz der politisch unkultivierten Bourgeois. Im ersten Fall kann die Wirtschaftspolitik beliebig sein (es reicht, die merkantilen Erwartungen der Legionäre zu befriedigen), im zweiten muss sie probürgerlich sein.

EIN STÜCK MIT MEHREREN AKTEN Es sei angemerkt, dass ich den Bonapartismus nicht von ungefähr das Ergebnis der „primären bürgerlichen Revolutionen" genannt habe und natürlich nicht in dem Sinne, dass nur die der Reihe nach ersten bürgerlichen Revolutionen eine bonapartistische Wiederherstellung der Bürokratie hervorbringen und dass dies bei sekundären Revolutionen ausgeschlossen ist. Die Bourgeois können sich bei ihren gewaltsamen Veränderungen des personellen Bestandes des Staatsapparats nicht nur einmal irren - bis sie endlich gelernt haben, nicht nur zu brechen, sondern auch aufzubauen, bis sie dann ein Machtsystem entwickelt und implementiert haben, das den Staatsapparat unter ihre Kontrolle bringt (und bis sie gelernt haben, dieses System effektiv zu nutzen). Der Gebrauch des Wortes „primär“ ist nur als Hinweis darauf notwendig, dass es nicht um etwas Singuläres geht, sondern um den Beginn einer ganzen Reihe, weil hierbei sekundäre (und sogar tertiäre usw.) Revolutionen obligatorisch sind.

         In der Tat, wenn der Bonapartismus normalerweise das logische Ergebnis jeder primären bürgerlichen Revolution ist, dann bleibt die revolutionäre Aufgabe der Bourgeoisie, die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten, ungelöst und für diese Klasse nach wie vor aktuell. Neue Revolutionen sind hierbei als weitere Versuche der Aufgabenlösung unvermeidlich. Sie werden so lange wiederholt, bis schließlich Ziel und Ergebnis der letzten dieser Reihe die Transformation des politischen Systems ist, die für die Herrschaft der Bourgeoisie eine Notwendigkeit darstellt. Also folgt hierbei eine Revolution der anderen, einerseits je nach der allmählichen Reifung und dem „Kultivierungsgrad“ der Bourgeois (dabei schneidet jede nachfolgende Revolution der Bürokratie nach und nach Teile der realen Macht ab), andererseits im Zusammenhang damit, dass alle Bonapartes und ihre Gefolgsleute dazu neigen zu vergessen, wem sie ihren Aufstieg von einem Niemand zu einem Fürsten verdanken, weltklug werden und anfangen, ihre Machtposition zu missbrauchen. Deshalb muss man sie hin und wieder zur Rede stellen und das Bürokratiepersonal gewaltsam durchrütteln (aus Mangel an weniger radikalen Mechanismen zur Kontrolle des Staatsapparates im politischen System oder wegen der Unfähigkeit, diese zu nutzen).

         Die Eroberung der Macht durch die Bourgeoisie in konkreten Gesellschaften geschieht also normalerweise durch eine Reihe von Revolutionen, von denen jede die gegebene Klasse nur teilweise auf dem Weg zu ihrem eigentlichen Ziel fördert. Dementsprechend wird die bürgerliche Ordnung in diesen Gesellschaften nicht gleichzeitig, sondern schrittweise etabliert, wobei die Bourgeoisie wirtschaftliche Präferenzen vor den politischen erlangt.

DIE PIONIERE UND DIE NACHAHMER Die beschriebenen Wechselfälle des Übergangs der sozialen Macht von der Bürokratie zur Bourgeoisie tragen jedoch anfangs einen allgemein theoretischen Charakter. Dabei werden verschiedene Einflüsse der äußeren sozialen Umwelt ignoriert, die natürlich dem Verlauf bestimmter Ereignisse ihren Stempel aufdrücken. Sehen wir also ab von der groben Option (die offensichtlich nicht als theoretisch betrachtet werden kann), dass entwickelte bürgerliche Gesellschaften rückständige bürokratische Gesellschaften direkt erobern, dann ihre Ordnung einführen und die Bevölkerung gewaltsam „kultivieren“. Nehmen wir als Beispiel lieber einen „weicheren“ Fall, also den rein kulturellen Einfluss einiger Gesellschaften auf andere.

         Es ist klar, dass die Ungleichmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur darin zum Ausdruck kommt, dass die Kultur bestimmter Bourgeois langsamer als ihre Kraft wächst, sondern auch darin, dass einige Gesellschaften andere in ihrer Entwicklung weit überholen. Dies führt dazu, dass die Reifung ihrer Bourgeoisie unter verschiedenen Bedingungen stattfindet. Diejenigen, die allen vorauseilen, werden auf diesem Weg zu Pionieren. Sie bekommen von niemandem Anleitungen und müssen alle Widrigkeiten auf eigene Gefahr überwinden. Die Bourgeois sind hierbei gezwungen, die Technologien der Unterordnung des Staatsapparats von Grund auf neu zu erfinden und diese in der Praxis durch Versuch und Irrtum zu verifizieren, und das wirkt sich natürlich auf den Prozess der Machteroberung aus: Er dehnt sich über Jahrhunderte aus, und es gibt dabei mehr Revolutionen, die für den vollständigen Sieg erforderlich sind.

         Bei denjenigen, die zurückgeblieben sind, sieht es anders aus. Die lokale Bourgeoisie braucht zumindest nichts neu zu erfinden: Es reicht, fertige Entwicklungen der Nachbarn zu übernehmen und diese entsprechend den lokalen Verhältnissen anzuwenden. Mehr noch, die Etappe der Massenverbreitung des relevanten Wissens kann hierbei sogar vor der ersten Revolution absolviert werden. Das einzig Problematische und Unvermeidliche bleibt der praktische Kursus der Erlangung von notwendigen politischen Handlungsfähigkeiten durch die Massen. Im Zusammenhang damit wird die Übergangszeit von der Bürokratie zur bürgerlichen Ordnung bei diesen Nachahmern reduziert; es sind auch weniger Revolutionen erforderlich.

DIE ALLMÄHLICHKEIT UND DIE GRADATION: DAS WACHSTUM DER EINFACHEN KRAFT Zusätzlich zur Berücksichtigung externer Einflüsse kann man diesen Übergang auch näher betrachten. Die Grundlage dafür ist die Allmählichkeit und damit die Gradation der Entwicklung sowohl hinsichtlich der Stärke als auch der Kultiviertheit der Bourgeoisie. Es lassen sich in beiden Fällen eine Reihe von Stufen identifizieren.

         Für die Gradation der einfachen Kraft sind z.B. zwangsläufig folgende Grenzen zu überwinden:

1)   Die Kraft der Bourgeois, gekoppelt mit der Kraft der anderen nicht-bürokratischen Schichten wird vergleichbar mit der Kraft des Staatsapparats. Dabei sind die Bourgeois noch nicht in der Lage, den Bürokraten allein zu widerstehen (geschweige denn ihnen und der ganzen sonstigen Bevölkerung), sie haben jedoch bereits Siegeschancen bei einer antibürokratischen Revolution, vorausgesetzt, dass sie den Rest der Gesellschaft für sich gewinnen.

2)   Die Bourgeoisie ist imstande, die Bürokratie auch allein zu besiegen, aber nur dann, wenn alle anderen Schichten neutral sind.

3)   Die Bourgeoisie kann nicht nur die Bürokraten, sondern auch den Rest der Gesellschaft, sowohl die alten, als auch die neuen, nicht-bürgerlichen (und natürlich nicht-bürokratischen) Schichten besiegen.

         Diese Gradation bringt Nuancen ins Gesamtbild der Umstürze und Wiederherstellungen der bürokratischen Regime, jedenfalls in den Varianten 1 und 2, wenn die Möglichkeit und der Erfolg (d.h. zumindest der kräftemäßige Sieg) der bürgerlichen Revolutionen von der Einstellung und Position der Schichten abhängen, die sowohl der Bürokratie, als auch der Bourgeoisie fremd sind. Darum sind Perturbationen möglich, wenn diese Schichten zunächst die Partei der Bourgeoisie ergreifen und ihr helfen, die alten Bürokraten zu stürzen, aber dann, nach der Einführung der ihnen fremden bürgerlichen Ordnung und im Zusammenhang mit anderen Frustrationen im nach-revolutionären Chaos, zurückschrecken und sich in die Arme der neuen Bürokratie werfen, die ihnen zumindest eine gewisse Ordnung und die ersehnte Stabilität verspricht (etwas Ähnliches - nicht im Sinne des Hintergrunds, sondern im Sinne der äußeren Grundlage, des Algorithmus der Ereignisse – findet z.B. im heutigen Russland statt). Im Ergebnis kann die Bürokratie bei diesem Szenario in ihrer Politik und in der von ihr etablierten Gesellschaftsordnung die Interessen der Bourgeoisie viel stärker ignorieren. Die Wiederherstellung des Bürokratismus nimmt hierbei radikalere Formen an, bis hin zur vollen Revanche der Bürokratie anstelle des halben Bonapartismus.

DIE STADIEN DES WACHSTUMS DER POLITISCHEN KULTUR Die Entwicklung der politischen Kultur der Bourgeois durchläuft auch ihre Stadien (dabei gehen wir davon aus, dass ihr Kraftpotenzial in jedem Fall ausreichend ist, die Bürokratie zu stürzen). Man kann hierbei im Groben folgende Zeitabschnitte voneinander unterscheiden:

1)   Die Bourgeois haben noch keine Vorstellungen vom Wesen der politischen Umwandlungen, die notwendig sind, um an die Macht zu kommen; sie denken zuweilen nicht einmal an eine solche Möglichkeit. In dieser Etappe wird die politische Vorherrschaft der Bürokratie von allen als das Selbstverständliche und das einzig mögliche angesehen. Unter solchen Umständen wird hauptsächlich für wirtschaftliche Zugeständnisse und nur in extremen Fällen (wenn die Bürokraten unter keinen Umständen bereit sind, diese Anforderungen zu erfüllen) für die Ablösung des Kaderbestands des jeweiligen Staatsapparats gekämpft (wenn z.B. ein nachgiebigerer Monarch inthronisiert wird).

2)   Die Bourgeois wissen im Prinzip, wie der Staatsapparat ohne Revolutionen zu zähmen ist, sind aber größtenteils noch nicht imstande, dieses Wissen in der praktischen Politik angemessen umzusetzen. Die politische Herrschaft der Bürokratie (d.h. die monarchische Machtorganisation) wird in dieser Etappe als illegal erkannt, dennoch bleibt die Macht de facto doch bei den leisetretenden Bürokraten. Etwas Ähnliches geschieht im heutigen, formell „demokratischen“ Russland (wohlgemerkt in einer wesentlich anderen sozialen Situation und Weltlage), wo die reale Macht aufgrund der Unfähigkeit der Wähler, die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu nutzen, durch den Staatsapparat ergriffen worden ist. Um auf die beschriebene Etappe bei der Entwicklung der politischen Kultur der Bourgeoisie zurückzukommen: Hierbei wird nicht nur für die marktwirtschaftliche Ordnung und nicht einmal nur für den Wechsel gewisser Persönlichkeiten im Staatsapparat, sondern auch für dessen Unterordnung unter die Bourgeoisie gekämpft, u.a. für den Wechsel des politischen Systems, das nun die bourgeoise Herrschaft sichern soll.

3)   Die Bourgeois meistern die politische Kultur, die notwendig ist, um die Macht in der Gesellschaft in vollem Umfang zu erhalten; sie stellen hierbei endlich den Staatsapparat unter ihre Kontrolle (unter der Voraussetzung, dass das politische System entsprechend angepasst wird).

         In der realen Geschichte sind natürlich alle diese Phasen in der Entwicklung der einfachen Kraft und der politischen Kultur der Bourgeoisie (die wir bedingt und separat behandelt haben, ohne viele Zwischenzustände zu berücksichtigen) miteinander vermischt. In jeder konkreten Gesellschaft und in jeder konkreten Epoche gibt es diese oder jene Kombinationen davon, und deswegen haben die Wechselfälle des politischen Lebens in der Übergangszeit von der Herrschaft der Bürokraten zur Herrschaft der Bourgeois überall ihre besonderen Eigenschaften (wie übrigens immer, wenn die Entwicklung der Kultur neuer Klassen hinter dem Wachstum ihrer Stärke zurückbleibt und die beiden Prozesse in mehreren Etappen verlaufen).

3. Politische Revolutionen und revolutionäre Veränderungen

FRAGEN Die Transformation der bürokratischen  in die bourgeoise Ordnung erfolgt also nicht von heute auf morgen, sondern nach und nach (und manchmal sogar in der Art: Zwei Schritte vorwärts, einer  zurück) und als Ergebnis einer ganzen Reihe von Revolutionen, von denen jede (wenn sie erfolgreich ist) nur eine teilweise Veränderung der besagten Ordnung in die richtige Richtung sichert, bis die Bourgeois den endgültigen Sieg erringen. Was sind jedoch diese Revolutionen selbst? Was sind ihre Ursachen, Formen usw.? Lassen Sie uns versuchen, diese Probleme zu begreifen (umso mehr als dies heute äußerst aktuell ist).

DIE MERKMALE DER REVOLUTION Klären wir zunächst die allgemeine Bedeutung des Begriffs „Revolution". Er wird in zwei hauptsächlichen Anwendungen gebraucht.

       Erstens, um eine abrupte, sprunghafte Transformation eines Objekts zu bezeichnen. Hierbei ist die Revolution als eine Antithese der Evolution, d.h. der allmählichen, zeitlich gestreckten, „langsamen" Metamorphose gemeint. Dabei sind  Abruptheit und Allmählichkeit relativ: Alle Veränderungen haben eine zeitliche Dimension und sind daher so oder so graduell. Es gibt kein ständiges Veränderungstempo. Das Wesen der revolutionären Transformationen liegt nicht in ihrer absoluten, sondern in ihrer relativen Geschwindigkeit, also in einer schlagartigen Beschleunigung des Tempos der Veränderung eines bestimmten Objekts. Die Veränderung eines Objekts erfolgt nach und nach und beschleunigt sich dann plötzlich scharf. In diesem Fall werden „träge" Transformationen „Evolution“ und „turbulente" (im Vergleich zu den früheren) „Revolution“ genannt.

         Zweitens werden auch radikale Transformationen als revolutionär bezeichnet. Das bezieht sich aber nicht auf das Tempo, sondern auf die Qualität der Veränderungen. Hierbei stehen die Revolutionen im Gegensatz zu unbedeutenden Transformationen (die im sozialen Bereich Reformen genannt werden). Natürlich sind Radikalität und Bedeutungslosigkeit auch relativ. Die Bewertung einer bestimmten Transformation als wesentlich oder unwesentlich hängt von der Wahl des Kriteriums ab. In unserem Fall, in dem es um die Veränderung der Gesellschaftsordnung geht, ist dieses Kriterium die Klassennatur der Transformation. Wenn eine Transformation die Klassennatur des Nutznießers einer bestimmten Ordnung ändert, ist sie revolutionär, wenn nicht, geht es um eine Reform.

         Diese beiden Merkmale sind jeder Revolution eigen, egal um welches Objekt es sich handelt. Sie werden oft getrennt verwendet (um zu bestimmen, ob eine Transformation revolutionär ist oder nicht), und das ist im Prinzip zulässig, aber in der Praxis erscheinen sie immer zusammen. Wo die Transformation eines Objekts plötzlich scharf beschleunigt wird, erlangt sie gleichzeitig einen anderen qualitativen und darüber hinaus einen viel radikaleren Charakter als die früheren evolutionären Veränderungen. Wo die Veränderungen eines Objekts für seine Bestimmtheit wesentlich sind, verlaufen sie viel schneller als seine unbedeutenden Metamorphosen. Wodurch wird das verursacht?

DER SPRINGENDE PUNKT Es wird durch die Einheitlichkeit von jedem und insbesondere von einem mehr oder weniger geordneten Systemobjekt bestimmt (wobei alle materiellen Objekte systemisch sind), also durch die Verbundenheit, gegenseitige Abhängigkeit aller ihrer Elemente und Eigenschaften, die sich im Objekt naturgemäß in einer bestimmten Balance befinden. Daher können die Veränderungen einiger Eigenschaften andere Charakteristiken (und die dem Objekt als Ganzes innewohnende Ordnung) nur bis zu einer bestimmten Grenze nicht beeinflussen. Jegliche allmählichen und unbedeutenden Veränderungen einiger dieser Parameter, die akkumuliert werden, führen früher oder später zu einer Verletzung des genannten Gleichgewichts und erfordern (wenn der kritische Schwellenwert erreicht wird) entsprechende Veränderungen aller anderen Parameter des Objekts, also des Objektes als Ganzem. Die Balance wird dabei auf eine andere Weise wiederhergestellt.

         Dies geschieht selbstverständlich nicht mehr allmählich, evolutionär, sondern auf eine explosive, revolutionäre Weise, einfach weil kein System lange in einem unausgeglichenen, ungeordneten Zustand bleiben kann. Es verschwindet dann de facto als solches und verwandelt sich in eine chaotische Ansammlung seiner früheren Elemente (und besteht bestenfalls  virtuell, und zwar in der Fähigkeit zur Wiedervereinigung). Die Aushöhlung der Systembalance (Ordnung) kann lange und in kleinen Schritten verlaufen, der Wechsel der Balance dagegen kann entweder „lawinenförmig“ erfolgen oder gar nicht, denn, ich wiederhole, eine Alternative zur schlagartigen Änderung der Ordnung (die durch die Unmöglichkeit der früheren Ordnung verursacht wird) ist nur die irreversible Zerstörung und das vollständige Verschwinden des Objekts als solches.

         Gleichermaßen ist diese Veränderung der Ordnung eines Objekts eine grundsätzlich andere und bedeutendere Transformation als kleine Veränderungen seiner einzelnen Eigenschaften (Elemente), die diese Transformation durch ihre quantitative Akkumulation verursacht haben. (Ich lasse hierbei natürlich die Fälle der schnellen und substanziellen Neuformatierung von Systemen aufgrund starker äußerer Einflüsse aus: Das ist ein anderes Kapitel, und außerdem ist hier die Zerstörung wahrscheinlicher).

         Das einfachste Beispiel für einen solchen Prozess ist die Veränderung der Struktur (und damit der Eigenschaften) eines Systems infolge der zunehmenden Anzahl seiner Elemente. Dieses Wachstum kann über lange Zeit allmählich ohne Konsequenzen für seine Struktur verlaufen, aber irgendwann erreicht es eine Grenze, jenseits derer eine andauernde Existenz des Systems in der gleichen Strukturform nicht mehr möglich ist, so dass es notgedrungen seine Struktur verändert, und zwar abrupt, im Laufe einer schlagartigen Transformation (im Vergleich zum Tempo der vorhergehenden Metamorphosen, die das verursacht haben).

         Wir haben hier etwas Ähnliches: Die schrittweise und zeitlich gestreckte quantitative und qualitative Entwicklung der Bourgeoisie und dementsprechend ihrer Stärke untergräbt allmählich die Stabilität der bürokratischen Gesellschaftsordnung und findet in einem Schwellenmoment ihre Krönung in einer explosiven gewaltsamen Transformation derselben.

DIE BESONDERHEITEN DER REVOLUTIONEN IN DER GESELLSCHAFT Zusätzlich zu den o.g. „gruppenrelevanten“ Eigenschaften haben die Revolutionen in der Gesellschaft auch einige Besonderheiten. Diese Merkmale sind vom gleichen Ursprung und der gleichen Natur wie die im dritten Vortrag behandelten Besonderheiten der Gesellschaftsordnung im Allgemeinen - im Unterschied zu den Ordnungen in den Insekten- und Zellengemeinschaften, wo, wie wir uns erinnern, die Ordnungen „automatisch“ realisiert werden. Genauso erfolgen revolutionäre Veränderungen in allen „natürlichen“ Systemen ganz von selbst und in den menschlichen Gemeinschaften nur infolge bestimmter Handlungen der Menschen. Deutlich gesagt: Während die Ordnungen bei den „natürlichen“ Systemen für einzelne Elemente und Teile des Systems weder vorteilhaft noch nachteilig sind (mangels des Phänomens „Rentabilität“ als solchem, oder nur einer Vorstellung davon), weswegen diese Ordnungen ohne jeglichen Kampf zwischen den Elementen (Teilen) „ihrer“ Ordnungen geändert werden, trägt die Ordnung in den menschlichen Gesellschaften einen Klassencharakter (der jeweils nur für eine bestimmte Klasse profitabel ist); die Veränderung der Ordnung geschieht nicht „automatisch“, sondern im Ergebnis eines Machtkampfes der betroffenen Seiten.

         Während also die Revolutionen in den „natürlichen“ Systemen direkt und ausschließlich auf Transformationen der Ordnungen hinauslaufen, haben sie in unserem Fall zwei Hypostasen: 1) diese Transformation selbst und 2) einen aktiven Kampf dafür. Eine Revolution wird hierbei gewöhnlich mit dem letzteren gleichgesetzt. Im Großen und Ganzen wird als solche folgendes bezeichnet:

1)   nur der Kampf für die Transformation der Gesellschaftsordnung und nicht diese Transformation selbst;

2)   nur der Kampf für die Transformation der Gesellschaftsordnung und nicht bestimmter anderer Aspekte des Lebens der Gesellschaft;

3)   nur der Kampf für Klassentransformationen und nicht für die in diesem Sinne neutralen Transformationen der Gesellschaftsordnung;

4)   nur ein Massenkampf, der die gesamte Gesellschaft umfasst, und nicht einzelne kleine und zu nichts führende Zusammenstöße;

5)   nur der Kampf der fortschrittlichen Klassen für die ihnen vorteilhafte und auch fortschrittliche Ordnung; der Kampf der alten Herren für die Erhaltung oder Wiederherstellung der alten (regressiven) Ordnung wird „Konterrevolution“ genannt;

6)   nur eine direkte, offene Auseinandersetzung der Klassen, die von ihnen die Anspannung aller Kräfte erfordert (und daher unvermeidlich kurz und schnell ist, wie es sich bei einer Revolution gehört), und kein herkömmliches zähes Ringen; es handelt sich also um einen maximal erbitterten, offen gewalttätigen, heftigen, scharfen politischen Kampf.

         Ich hebe das Wichtigste hervor: Es ist üblich, als „Revolution“ im sozialen Bereich nicht so sehr die Ablösung der Gesellschaftsordnung zu bezeichnen (worauf die Revolutionen in allen „natürlichen“ Fällen hinauslaufen), als vielmehr die offen machtvolle Art dieser Ablösung, den harten Kampf dafür; dabei muss dieser nicht einmal erfolgreich sein. Die direkte gewalttätige Auseinandersetzung der herrschenden alten Klasse mit den neuen Klassen, die nun die Herrschaft in der Gesellschaft beanspruchen, kann sogar ergebnislos, ohne Ablösung der Gesellschaftsordnung enden. Die Revolution erleidet hierbei sozusagen eine Niederlage, bleibt aber in unseren Augen doch eine Revolution. Und umgekehrt, wir neigen dazu, eine reale progressive Veränderung des Klassencharakters der Gesellschaftsordnung, die ohne erbitterten Kampf erfolgt, nicht für eine Revolution, sondern für etwas anderes zu halten.

         Wie soll man zu dieser Tradition stehen? Lassen Sie uns einen Kompromiss eingehen. Schließlich ist nicht die Bezeichnung, sondern das Erfassen des Wesens des zu Benennenden wichtig. In dieser Hinsicht haben wir hierbei eindeutig zwei verschiedene Prozesse, die das Recht auf den Titel einer Revolution haben: a) der offene machtvolle Kampf für die Änderung der Gesellschaftsordnung und b) die Änderung der Ordnung an sich. Nennen wir den ersten „politische Revolution“ und den anderen „revolutionäre Transformation“. Wir werden den unbestimmten (und zu allgemeinen) Begriff „Revolution" nur in den Fällen verwenden, in denen eine klare Trennung der genannten Grundinhalte nicht erforderlich ist.

         Darüber hinaus unterscheiden sich revolutionäre Transformationen an sich. Einige von ihnen beziehen sich auf die Änderungen in der Verteilung von (1) Gütern (d.h. auf das Wirtschaftssystem) und andere (2) von kraftmäßigen Faktoren (auf das politische System). Im Zusammenhang damit werden die letzteren Änderungen manchmal auch „politische Revolution“ genannt. Aber ich werde sie einfach „politische Transformation“, Änderung des politischen Systems usw. nennen, um Verwirrung zu vermeiden.

         Die politische Revolution ist also eine großangelegte, machtvolle Konfrontation der neuen  und der alten Klasse mit dem Ziel, die Gesellschaftsordnung zu ändern. Im Falle des Sieges dieser Revolution erfolgen die genannten revolutionären Veränderungen, einerseits des wirtschaftlichen und andererseits des politischen Systems.

ANDERE ARTEN DES POLITISCHEN KAMPFES Politische Revolutionen sollten nicht mit anderen Arten des politischen Kampfes verwechselt werden. Sie unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Erstens nach den Subjekten: der Kampf von (1) Klassen, (2) „Unterklassen“, (3) Ethnien, (4) Konfessionen etc. Zweitens nach dem Umfang: die (1) die gesamte Gesellschaft, (2) ihre einzelnen Teile, (3) einzelne Fragmente dieser Teile umfassen. Drittens nach der Form: sowohl gewalttätig, als auch gewaltfrei, sowohl friedlich, als auch nicht (wobei der gewaltfreie Kampf immer friedlich ist, während der gewalttätige Kampf sowohl friedlich als auch nicht friedlich sein kann). Viertens nach den Zielen: als der Kampf für (1) wesentliche (Klassen-) und (2) unwesentliche Veränderungen in der Gesellschaftsordnung, (3) für die nationale Befreiung, (4) für die Dominanz einer bestimmten Religion oder einer Richtung darin usw. Die eigentliche politische Revolution weist  nur einige von den genannten Merkmalen auf (das ist, wie gesagt, der großangelegte, machtvolle Klassenkampf für die Änderung der Gesellschaftsordnung). Aber es sind auch andere Kombinationen und Konfigurationen möglich, die ganz andere Arten des politischen Kampfes schaffen.

         Es ist für uns nützlich, diejenigen davon wahrzunehmen, die den politischen Revolutionen mehr als andere ähneln und deshalb oft als solche gelten. Meistens werden großangelegte, machvolle Auseinandersetzungen (die die ganze Gesellschaft umfassen) damit gleichgesetzt. Das Vorhandensein dieser beiden Merkmale scheint vielen ausreichend zu sein, um solche Ereignisse zu einer Revolution zu erklären. Dabei wird fälschlicherweise für zweitrangig gehalten, wer mit wem und wofür kämpft.

         So gelten manchmal als Revolutionen umfangreiche (insbesondere siegreiche) Aufstände, deren Hauptsubjekte („treibende Kräfte") in der Praxis die „Unterklassen“ und bei denen die praktisch umsetzbaren und sogar teilweise proklamierten Ziele nur personale Veränderungen im Staatsapparat sind (wenn auch das Thema „Parolen“, d.h. Ideologeme, die gewollt oder ungewollt das Wesen der Sache maskieren, getrennt behandelt werden soll). Ein krasses Beispiel für einen solchen Aufstand sind die Ereignisse in Russland in den Jahren 1917 - 20.

         Außerdem beschönigen manche Propagandisten gerne die Ereignisse und erklären alle Arten der zeitgenössischen nationalen Befreiungs- (und selbst religiösen, dabei nicht nur Reformations-) kriege und Bewegungen zu Revolutionen. Das bezieht sich verständlicherweise nicht auf ähnliche Erscheinungen in der Vergangenheit, sowohl wegen der Nutzlosigkeit der Propaganda in Bezug auf das Vergangene, als auch wegen der Zweifelhaftigkeit ihrer Folgen, die im Zeitverlauf offensichtlich geworden ist. Es gibt hierbei nämlich meist keine Spur von sozialem Fortschritt. Der nationale Befreiungskampf hat mit Revolution nur dann etwas zu tun, wenn dieser zugleich einen bürgerlich-antibürokratischen Charakter hat. Als der Kampf einer Ethnie für die Befreiung von der Herrschaft einer anderen Ethnie ist er in keiner Weise revolutionär. Wenn dieser Kampf siegreich ist, ändert sich der Klassentyp der Gesellschaftsordnung entweder überhaupt nicht (es ändert sich nur die ethnische Zusammensetzung des Staatsapparats) oder es gibt leider eine Änderung zum Schlechten. Das Letztere geschieht z.B. in den meisten Gesellschaften des modernen Afrikas, wo die Vertreibung der europäischen Kolonialherrscher mit ihrer bürgerlichen Ordnung naturgemäß zur Wiederherstellung der bürokratischen oder gar primitiven traditionellen Stammesordnung führt, die dem jeweiligen Entwicklungsniveau der Urbevölkerung entspricht. Eine solche Degradierung der gesellschaftlichen Organisation hat natürlich verheerende Folgen. (Das Gleiche, mit einigen Abweichungen, kann über den Charakter und die Ergebnisse der religiösen Bewegungen gesagt werden).

4. Ursachen und Formen der Revolutionen

URSACHEN UND ANLÄSSE DER REVOLUTIONEN Aus der dargelegten Übersicht über die Revolutionen ergibt sich, dass ihre Hauptursachen evolutionäre Veränderungen in den Gesellschaften sind, die im quantitativen Wachstum und der qualitativen Entwicklung neuer Klassen zum Ausdruck kommen und von der Akkumulation der politischen Macht bei denselben begleitet werden. In einem bestimmten Moment dieses Prozesses erreicht das Kräfteverhältnis der neuen und der herrschenden alten Klassen ein Niveau, bei dem der Kampf der neuen Klassen um die Macht und die ihnen vorteilhafte Wirtschaftsordnung beträchtliche Erfolgschancen erlangt. In einer solchen Situation des ungefähren Kräftegleichgewichts und einer entsprechenden Instabilität der früheren Ordnung ist diese Ordnung erstens dem Zusammenbruch und der Transformation geweiht. Zweitens wird der Verlauf der Ereignisse durch weniger bedeutende und meistens zufällige Gegebenheiten und Faktoren bestimmt, die entweder die Balance zugunsten einer der Parteien beeinflussen (z.B. durch den „Fahnenwechsel“ anderer sozialer Gruppen) oder Öl ins Feuer des Kräftemessens gießen oder auf eine andere Art die Situation verschärfen und diese in Richtung einer machtvollen Entscheidung drängen. All diese Momente schaffen bereits günstige Bedingungen und Anlässe für den Ausbruch des Revolutionsbrandes.

         Ich betone dabei, dass die Entwicklung und Stärkung der neuen Klasse, in unserem Fall der Bourgeoisie, direkt mit dem Aufblühen des Wirtschaftslebens, der Entstehung einer komplizierteren sozialen Struktur der Gesellschaft, der Bereicherung der genannten Klasse usw. zusammenhängen. In einer Situation des Verfalls, des Marktzusammenbruchs, der Massenarmut und des sonstigen wirtschaftlichen und sozialen Elends ist eher die Degradierung und Schwächung der Bourgeoisie zu bemerken (genauso wie einer anderen beliebigen fortschrittlichen Klasse, die auf den neuesten, höchsten Errungenschaften der Gesellschaft basiert). Die Revolutionen werden, entgegen der (auf Anregung von Lenin) verbreiteten Meinung, durch die Prosperität und nicht durch den Ruin vorbereitet und ausgelöst. Wenn die Bourgeoisie reif und mächtig genug ist, kann allerdings dieses oder jenes Versagen bei der erfolgreichen Verwaltung der Gesellschaft der Anlass (der „Abzugshaken“) dafür sein. Die Bourgeois schieben dann natürlich den Bürokraten die Schuld dafür in die Schuhe (und zwar gewöhnlich zu Recht), weil die Bürokratie Hindernisse der Produktionsentwicklung errichtet, sich bei der Verwaltung der Gesellschaft egoistisch verhält usw. Allerdings lösen das Elend und die Massenarmut an sich (ohne entwickelte Bourgeoisie) durchaus keine Revolutionen aus, sondern Unruhen, Meutereien, Aufstände und ähnliche politische Kataklysmen. In heruntergekommenen Gesellschaften, wo Habenichts und Hungrige überwiegen, sind Revolutionen (also kraftmäßige Auftritte, die eine progressive Umgestaltung der Gesellschaftsordnung zum Ziel haben) unmöglich; nur reiche und starke Menschen können sie vollbringen.

DIE NOTWENDIGKEIT DER GEWALT Und was sind die Formen politischer Revolutionen? Um sie zu verstehen, soll man davon ausgehen, dass:

1)   der durchschnittliche Mensch nach der biologischen Natur sein persönliches Wohlergehen (die Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse) über alles setzt;

2)   Klassen Massengemeinschaften von Menschen sind;

3)   die Aktionsart von Massengemeinschaften die Aktionsart ihrer Durchschnittselemente widerspiegelt.

        Daher die Schlussfolgerung: Das Verhalten der Klassen ist zwangsläufig egoistisch.

In unserem Fall bedeutet dies, dass

a)   alle Klassen unentwegt nach Privilegien und folglich nach deren notwendiger Vorbedingung, der Herrschaft und der Macht in der Gesellschaft streben;

b)   keine herrschende Klasse diese Macht (und die damit verbundenen Präferenzen) ohne Kampf abgibt; sie kann ihr nur mit Gewalt genommen werden.

Oder mit anderen Worten:

a)   politische Revolutionen sind immer Gewaltakte

b)   revolutionäre Transformationen tragen einen Zwangscharakter.

Man kann das sogar das Grundgesetz der Ablösung von Gesellschaftsordnungen nennen.

         Dies gilt natürlich voll und ganz auch für die Bürokratie. Überall und jederzeit steht sie für die ihr vorteilhafte Ordnung bis zum Letzten (allerdings wiederum wie jede andere Klasse). Es ist naiv, von ihr etwas anderes zu erwarten, d.h. die freiwillige Aufgabe von Klassenpositionen zugunsten von „abstraktem Humanismus" und sozialer Gerechtigkeit. Die Bourgeoisie (und andere Klassen) können sie nur durch Gewalt von der Macht abbringen.

DIE MÖGLICHKEIT, DIE BEDINGUNG UND DIE URSACHE DER FRIEDLICHEN REVOLUTIONEN Gleichzeitig sollte man die Gewalttätigkeit einer Revolution mit ihrem nicht-friedlichen Charakter nicht verwechseln. Die unerlässliche Gewalt muss nicht unbedingt in Form von direkten militärischen Zusammenstößen, bewaffneten Aufständen usw. auftreten. Sie kann auch in Form von Massendemonstrationen, Generalstreiks und anderen Formen des zivilen Ungehorsams realisiert werden. Die genannten friedlichen Druckmittel müssen nur ausreichend sein, um die von ihnen verfolgten Ziele zu erreichen.

         Und wann sind sie ausreichend? Wenn ihre Stärke die Fähigkeit der Herren, Widerstand zu leisten, deutlich übersteigt. Der friedliche oder nicht-friedliche Charakter der Gewalt z.B. der Bourgeoisie über die Bürokratie (und überhaupt jeder neuen Klasse über die alte) wird in der Praxis allein durch das Verhältnis ihrer Kräfte bestimmt. Wenn sie ungefähr gleich sind (oder zumindest wenn ihr Verhältnis unklar ist), dann ist ein bewaffneter Kampf (oder wenigstens ein Versuch, das Problem machtvoll zu lösen) unvermeidlich. Ich wiederhole: Niemand gibt die Macht einfach so ab. Der Verzicht auf den Kampf ist nur möglich, wenn der Gegner eindeutig stärker ist, wenn es offenkundig sinnlos ist, sich an die alte Ordnung zu klammern oder wenn das gar bedeutende Verluste bis hin zum Lebensverlust mit sich bringen kann. Nur unter diesen Bedingungen gibt es Chancen auf eine friedliche Transformation der Gesellschaftsordnung. Die Massenaktionen sind eben nichts anderes als die Machtdemonstration, als die Drohung mit Gewalt, als der Beweis gegenüber der herrschenden Klasse, dass ihr Widerstand sinnlos ist. Wenn diese Beweise überzeugend genug sind, machen die Herren Zugeständnisse und die Revolution ist friedlich, wenn nicht, kann man leider ohne Blutvergießen nicht auskommen.

         Friedliche Revolutionen sind also keineswegs gewaltfrei; es geht nur um die erzwungene Kapitulation ehemaliger Herren (in unserem Fall der Bürokraten) unter den Bedingungen eines offensichtlichen Kräfteübergewichts der neuen Machtanwärter (in unserem Fall der Bourgeois). Nun, und der Grund für den friedlichen Verlauf der Ereignisse ist hierbei selbstverständlich die natürliche Neigung aller Menschen (und aller Lebewesen im Allgemeinen), ihr Leben zu retten, d.h. sich zurückzuziehen, wo es sich nicht lohnt anzugreifen. Der Kampf für eine hoffnungslose Sache kann nur Einzelgänger (mit ihren individuellen psychischen Abweichungen), aber keine Klassen inspirieren.

DIE KRÄFTEKONSTELLATION IM HISTORISCHEN RÜCKBLICK Im Zusammenhang damit, dass (a) die Revolutionen nur bei einem erheblichen Übergewicht der Kräfte der „Revolutionäre“ über die Kräfte der „Wächter“ der alten Ordnung friedlich sind und (b) dass dieses Kräfteübergewicht allmählich akkumuliert wird und nur in relativ späten Epochen den „Soll-Zustand“ erreicht, ist  klar, dass fast alle frühen (primären und sekundären) bürgerlichen Revolutionen nicht-friedlich waren. Die Möglichkeit, der Bürokratie friedlich die Macht zu nehmen, erschien hierbei erst in den letzten Entwicklungsetappen, als die Bourgeoisie tatsächlich zur mächtigsten Gesellschaftsklasse wurde.

         So verhält es sich selbst bei einem rein allgemeinen theoretischen Herangehen ohne Berücksichtigung externer sozialer Einflüsse. Angesichts des aggravierenden Umstandes, dass die ersten Bourgeois nicht nur mit relativ starken inländischen Bürokratien, sondern auch in der feindseligen Umgebung fremder bürokratischer Staaten um die Macht in ihren Gesellschaften kämpfen mussten, war der militärische Charakter früher Revolutionen unvermeidlich. Umgekehrt erhöhte die Bildung und Stärkung des bürgerlichen Lagers in der Welt die Chancen auf eine friedliche Lösung des Problems in den benachbarten bürokratischen Ländern. Neben der Macht der eigenen Bourgeoisie müssen die Bürokraten in dieser Situation auch das Druckpotenzial von externen Verbündeten der Bourgeois berücksichtigen. Die Bourgeoisie erreicht hierbei die notwendige kritische Überlegenheit der Kräfte viel früher, als wenn sie „Mann gegen Mann“ mit dem bürokratischen Staatsapparat kämpfen würde.

DIE BESONDERHEITEN DER WIEDERHERSTELLUNG DES BÜROKRATISMUS Etwas andere Eigenschaften sind der Wiederherstellung des Bürokratismus eigen. Sie stellt natürlich oft auch die politische Gegenrevolution dar, also sie ist das Ergebnis militärischer Siege, der rein kraftmäßigen Vorherrschaft alter oder neuer Bürokratien (der personellen Zusammensetzung nach). Aber nicht selten findet die Wiederherstellung auch friedlich statt, bei minimalem Widerstand der regierten Massen. Dies ist hauptsächlich auf die niedrige politische Kultur der letzteren zurückzuführen, was die Bürokratie auch ausnutzt, und zwar natürlich genau so, wie es diese Schwäche erlaubt.

         Hierbei gewinnt die Allmählichkeit an Bedeutung, mit der sich die Apparatschiks wieder ihre Machtbefugnisse aneignen. Ein friedlicher bürokratischer Umsturz hat gewöhnlich einen schleichenden Charakter. Je weniger die einzelnen Transformationen das System als Ganzes ändern und je mehr Zeit zwischen ihnen vergeht (je mehr sich die Menschen daran gewöhnen, nach veränderten Regeln zu spielen), desto leichter ist es, sie ohne Widerstand durchzuführen. Der unauffällige, langsam verlaufende Verlust von politischen Rechten und Möglichkeiten bringt die Gesellschaft nicht so in Aufruhr wie scharfe katastrophale Transformationen. Die Stärke des Widerstands ist direkt proportional zum Ausmaß der Verletzung des Status quo. Es ist immer leichter, sich mit einzelnen unbedeutenden Übergriffen abzufinden. Wenn sie sich jedoch zu einer kritischen Masse ansammeln, ist es bereits zu spät.

         (Übrigens erfolgt auf diese Art und Weise, nach und nach, also nach eigenem Ermessen oft nicht nur die Wiederherstellung der bürokratischen Regime, sondern, ich möchte daran erinnern, im Allgemeinen die primäre historische Machtübernahme in der Gesellschaft durch die Bürokraten. Es geht hierbei eben nicht um eine politische bürokratische Revolution, weil die natürliche Evolution der Gesellschaftsordnung unter den Bedingungen der allseitigen Schwäche der regierten Massen die Aufgabe dieser Revolution ohne weiteres bewältigt).

Vortrag neun. „DIE REVOLUTIONEN VON OBEN"

1. Das Phänomen der Revolutionsreformen

DIE NACH IHREM SUBJEKT BESONDEREN ARTEN VON REVOLUTIONÄREN TRANSFORMATIONEN Bisher haben wir nur von den Revolutionen gesprochen, die durch neue Klassen, in unserem Fall die Bourgeoisie, durchgeführt werden. Es ist klar, dass das der normale theoretische Fall ist. In der allgemeinen Theorie kann das nicht anders sein. Allerdings gab es in der Geschichte auch ungewöhnliche Fälle, wenn nämlich bürgerliche Transformationen durch den Staatsapparat initiiert wurden. Es gab in solchen Fällen keine politischen Revolutionen, aber die Gesellschaftsordnung änderte sich doch, und die Veränderungen waren revolutionär, probürgerlich und antibürokratisch. Dabei wurden sie von niemand anderem als den Bürokraten selbst durchgeführt.

         Beispiele hierfür sind die „Großen Reformen" von Alexander II in Russland, die „Meiji-Revolution" in Japan, Gorbatschows „Perestroika" (Umgestaltung) usw. Hierbei änderte sich überall das Klassenwesen der Gesellschaftsordnung (allerdings meist nur in ihrem wirtschaftlichen Teil), und überall waren die Lokomotiven des Prozesses nicht die Bourgeois (teils wegen ihrer Schwäche oder auch wegen eines Mangels an Bourgeoisie überhaupt), sondern die Apparatschiks (zumindest ihre entscheidenden, höchsten Schichten). Deshalb werden diese Transformationen „Revolutionen von oben" genannt, obwohl, ich wiederhole, von Revolutionen nach dem weit verbreiteten Verständnis, d.h. von politischen Revolutionen, hierbei nicht im Geringsten die Rede sein kann. Dies sind nur revolutionäre Transformationen (die nicht nur ohne erbitterten Klassenkampf, sondern auch in einem relativ langsamen Tempo verlaufen, also den „normalen“ Revolutionen auch nach diesen Parametern nicht ähneln; nur der Inhalt der Veränderungen ist hierbei revolutionär).

       Dieses merkwürdige Phänomen ist also einer gesonderten Behandlung wert.

DAS PROBLEM DER BEZEICHNUNG Einigen wir uns zunächst auf die Bezeichnungen, um es einfacher zu machen, darüber Betrachtungen anzustellen. Revolutionäre Transformationen, die durch die genannten, grundsätzlich verschiedenen Subjekte (neue oder alte Klassen) implementiert werden, verdienen auch gesonderte Namen, aber die fehlen leider im Lexikon, und daher entsteht Verwirrung. Im Einzelnen: In der Regel wird der Begriff „Reform“ verwendet, um bourgeoise Änderungen der Ordnung zu bezeichnen, die durch die Bürokratie realisiert werden (anscheinend orientiert man sich dabei an dem für diese Änderungen und für echte Reformen gemeinsamen Merkmal, dass beide durch die herrschenden Klassen durchgeführt werden). Aber manchmal werden sie auch Revolutionen genannt (erinnern wir uns an die „Meiji-Revolution"), wobei die Reformen dagegen oft mit unbedeutenden Transformationen gleichgesetzt werden, die „die Staatsordnung nicht ändern“, sie  werden also als Antithesen von Revolutionen aufgefasst. Wir haben es hierbei mit einer kompletten Begriffsverwirrung zu tun: Zuerst werden politische Revolutionen und revolutionäre Transformationen auf einen Haufen geworfen, die in Wirklichkeit gar nicht nach der Bedeutung der jeweiligen Begriffe, sondern eher als Ursache und Wirkung korrelieren. Ferner werden nicht-revolutionäre Transformationen hinzugefügt, die angeblich den Revolutionen gegenüberstehen, obwohl sie logischerweise nur den revolutionären Transformationen gegenüberstehen können und mit den politischen Revolutionen überhaupt nichts zu tun haben, weder begriffsmäßig noch in der Realität.

         Kurz gesagt ist es wünschenswert, jeder Erscheinung ihren Namen zu geben. Daher nenne ich von nun an (1) nur unwesentliche (nicht-revolutionäre) Veränderungen „Reformen“, (2) standardmäßige revolutionäre Transformationen (die im Laufe und im Ergebnis von politischen Revolutionen durch neue Klassen durchgeführt werden) „revolutionäre Transformationen“; (3) in Bezug auf revolutionäre Transformationen, die ohne politische Revolutionen durch herrschende Klassen durchgeführt werden, werde ich den Begriff „revolutionäre Reformen“ verwenden (indem ich ein weiteres Mal einen Kompromiss mit dem üblichen Wortgebrauch eingehe).

DIE HAUPTURSACHE DER REVOLUTIONÄREN REFORMEN Woher kommen diese revolutionären Reformen? Wie sind sie überhaupt möglich? Schließlich geschieht da etwas gleichsam Absurdes: Die Bürokratie benimmt sich unlogisch, indem sie plötzlich die ihr vorteilhafte Gesellschaftsordnung zugunsten der Bourgeoisie verändert. Das kann ja einfach nicht wahr sein: Nach dem o.g. „Grundgesetz" sind alle Klassen egoistisch; sie können ihren eigenen Interessen nicht schaden. Oder wird etwa das genannte Gesetz in diesem Fall verletzt?

         Natürlich nicht. Es geht hierbei einfach um einen „Interessenkonflikt" verschiedener Prioritäten, der die jeweilige Klasse dazu treibt, aus mehreren Übeln das Kleinste zu wählen. Die Bürokratie sieht sich genötigt, weniger bedeutende Interessen (z.B. einzelne ökonomische Normen der bürokratischen Ordnung) zugunsten von wichtigeren (z.B. dem Erhaltung der Bürokratie als herrschende Klasse im Allgemeinen) zu opfern. Oder gar die ganze Ordnung im Allgemeinen zu opfern, um das Leben konkreter Bürokraten zu retten (das Letztere gilt allerdings nicht mehr für revolutionäre Reformen, sondern für friedliche Revolutionen).

         Aktuell wird dieser Konflikt ausgelöst durch eine besondere Verkettung von Umständen, und zwar eine, die im Rahmen der allgemeinen Theorie (jedoch verständlicherweise nicht in der Praxis) ausgeschlossen ist. Gesellschaften funktionieren und entwickeln sich ja nicht im luftleeren Raum (also nur gemäß ihren eigenen Potenzen und Tendenzen), sondern unter den Bedingungen zahlreicher Einflüsse von außen. Alle diese Einflüsse der äußeren sozialen Umwelt sind eben gerade die Ursachen für das angeblich antibürokratische Verhalten der Bürokraten. Keine Bürokratie führt revolutionäre Reformen aus altruistischen Überlegungen durch; die Bürokraten retten dadurch einfach ihre Haut. Der Druck der äußeren Umwelt, also wiederum die Gewalt, zwingt sie, Transformationen durchzuführen, aber in diesem Fall geht es nicht um den Druck seitens der inneren Bourgeoisie, sondern seitens der äußeren Feinde, besonders der bourgeoisen Staaten, die mit den o.g. Bürokraten auf der politischen Weltbühne konkurrieren. Was genau ist damit gemeint?

DROHENDER UNTERGANG UND WEGE ZUR RETTUNG Verzichten wir zunächst einmal aus Gründen der Klarheit auf die Fälle, in denen bourgeoise Transformationen den bürokratischen Gesellschaften direkt von außen aufgezwungen werden. Dies geschieht bei militärischen Niederlagen, wenn sie vollständig unter Kontrolle der bourgeoisen Staaten geraten. Das geschah beispielsweise in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, als in Deutschland und in Japan die bourgeoise Ordnung durch die USA etabliert wurde (ein Gegenbeispiel dafür ist übrigens die Wiederherstellung des Bürokratismus durch die UdSSR in  bourgeoisen Ländern, so in den baltischen Staaten, in Tschechien und Polen) sowie das jahrhundertelange Aufzwingen von bourgeoisen Rechtsnormen in verschiedenen Kolonien durch entwickelte europäische Länder (das ist der Grund dafür, dass Indien jetzt demokratischer als China ist). Diese Option gehört jedoch nicht zu unserem Thema, weil revolutionäre Transformationen hier nicht durch die Bürokratie, sondern wiederum durch die Bourgeoisie durchgeführt werden, allerdings durch eine fremde, ausländische.

         Die echten revolutionären Reformen werden durch den indirekten Druck des äußeren sozialen Umfelds hervorgerufen (nicht die Eroberung, sondern ihre Bedrohung), also die Situation, in der sich das gesetzmäßige Zurückbleiben der sozioökonomischen Entwicklung der bürokratischen Gesellschaften von den bourgeoisen zu einem bestimmten Zeitpunkt deutlich in ihrer politischen (militärischen) Schwäche offenbart, deren Überwindung für die Bürokratie zu einer Frage von Leben und Tod wird. Und wie kann man sie überwinden? Die Hauptaufgabe der Bürokratie in diesem Bereich ist natürlich die Anschaffung der neuesten Rüstung (und parallel dazu die Umwandlung der Armee). Hierbei gibt es zwei Möglichkeiten:

1)   der Ankauf der genannten Waffen anderswo (wiederum in bourgeoisen Staaten) und

2)   die Organisation einer eigenen Waffenproduktion.

WELCHER WEG IST DER BESSERE? Die erste Möglichkeit ist einfacher und erlaubt scheinbar schädliche (für die Herrschaft der Bürokraten) Reformen zu vermeiden. Es gibt hierbei jedoch auch  Nachteile. Zunächst einmal ist es offensichtlich, dass man sich (1) anderswo, wenn auch „nicht mehr ganz so neue“ Waffen verschaffen kann. Niemand wird dem „potenziellen Gegner" die modernsten und effektivsten Waffenmodelle verkaufen. Das verursacht einen technologischen Rüstungsrückstand, folglich kann die relative militärische Schwäche auf diesem Wege nicht beseitigt werden. Außerdem (2) ist das im Allgemeinen der Weg zur immer größeren Abhängigkeit von den Waffenherstellern, der Weg in den Abgrund, weil der reale Rückstand dabei immer größer wird - mit all seinen Folgen.

         Schon diese beiden Aspekte reichen aus, damit mehr oder weniger zurechnungsfähige Bürokraten, die sich um ihr langfristiges Überleben kümmern, diese „einfache Lösung" mit Vorsicht behandeln und sie nicht favorisieren. Ihre Skepsis wird noch durch folgende Umstände verstärkt: Erstens dadurch, dass der Kauf von Rüstungsgütern anderswo nicht etwa die Notwendigkeit von gefährlichen Reformen beseitigt. Es reicht nicht, moderne Waffen zu kaufen, man muss auch verstehen, sie zu anzuwenden, sowohl technisch als auch in Bezug auf die Strategie und Taktik der Kriegsführung. Dies erfordert eine angemessene Bildung, Kultur, Mentalität (einschließlich des Wertesystems), also qualitätsmäßig andere Soldaten und Offiziere, und eine solche Qualität ist ohne bestimmte Veränderungen in den traditionellen bürokratischen Beziehungen nicht zu erreichen.

         Zweitens ist dieser Weg oft einfach unmöglich zu beschreiten, manchmal de jure (so war der Verkauf von Waffen nach Sowjetrussland im Westen verboten), in der Regel de facto. Man braucht ja Mittel, um Waffen zu kaufen, und wo sollen sie herkommen, wenn die Wirtschaft des Landes im Verfall begriffen ist? Die heutigen Realitäten Russlands, Saudi-Arabiens und Venezuelas geben natürlich eine Antwort auf diese Frage: Es ist angeblich möglich, einfach Rohstoffe zu verkaufen. Aber dies erfordert, dass: 1) sie überhaupt vorhanden und 2) in der Welt gefragt sind, 3) entsprechende Vorkommen erkundet und schließlich 4) deren Förderung organisiert worden ist (was auch Investitionen erfordert). In all diesen Punkten stand die Sache bis zur zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht zum Besten. Rückständige Regime konnten in den entwickelten Ländern keine größeren Mengen von Rüstungsgütern kaufen: Sie hatten kein Geld dafür. Auch aus diesen Überlegungen heraus war es also nötig, die Entwicklung der eigenen Wirtschaft voranzutreiben.

         Doch dieser Zwang zur wirtschaftlichen Entwicklung zwecks Beschaffung von Mitteln für den Kauf von Waffen im Ausland wirkt seltsam. Ist es nicht einfacher und vernünftiger (unter Berücksichtigung der ersten beiden oben beschriebenen Aspekte), unmittelbar eine eigene Waffenproduktion zu schaffen, also direkt den zweiten Weg zu gehen? Für Bürokraten ist das natürlich viel attraktiver, und es ist klar, dass alle traditionellen (d.h. diejenigen, die sich nicht nur vorübergehend auf dem Thron fühlten) und mächtigen Bürokratien (d.h. diejenigen, die an der Spitze der Gesellschaften standen, die unabhängig sein konnten) der letzten drei Jahrhunderte eben diesen Weg gingen. Sie versuchten, ihre eigene Produktion moderner Waffen auf die Beine zu stellen. Was ist für diesen Weg charakteristisch?

DER INHALT DER TRANSFORMATIONEN UND DIE METHODEN IHRER UMSETZUNG Die Produktion von Waffen, beginnend mit der Neuzeit (und mit der Zeit immer mehr), trägt industriellen Charakter; ihre Vervollkommnung ist auch mit der Entwicklung der Industrie stark verbunden. Wer also im militärischen Bereich mit der Zeit Schritt halten will, kann nicht umhin, dem große Aufmerksamkeit zu widmen. Das ist auch bei der Bürokratie der Fall: Sie ist gezwungen, sich um den Aufstieg der heimischen Industrie und die Industrialisierung der Gesellschaft zu kümmern, um nicht zurückzubleiben und am Ende nicht die Macht zu verlieren.

         Zu diesem Zweck braucht man erstens Ausrüstungen (Werkzeugmaschinen, Anlagen, Hochöfen etc.), zweitens Technologien, drittens Produktionspersonal (ausgebildete Facharbeiter verschiedener Berufe, Ingenieure etc.), viertens Entwickler von sowohl rein industriellen, als auch eigentlich militärischen Anlagen und Technologien (Erfinder und Wissenschaftler) und schließlich fünftens Leute, die die Ausbildung und das ordnungsgemäße Funktionieren dieses ganzen Heeres von Arbeitnehmern sichern (Lehrer, Pädagogen, Ärzte usw.) Die Aufgabe der bürokratischen Industrialisierungspolitik läuft also darauf hinaus, dass die oben aufgeführten Elemente irgendwie in ihrer rückständigen Gesellschaft erscheinen, sie müssen beschafft (gekauft, weggenommen, gestohlen, selbst erzeugt) werden; die funktionale Struktur der Gesellschaft muss dementsprechend neu formatiert werden.

         Wie lässt sich das bewerkstelligen? Auch hierbei sind zwei grundsätzliche Herangehensweisen möglich: Die Erzwingung der industriellen Entwicklung entweder (1) direkt und hauptsächlich (vielleicht sogar ausschließlich) durch die Bürokraten selbst oder (2) überwiegend (wenn nicht nur) durch die regierten Massen. Im ersten Fall übernimmt der Staatsapparat alles: Die Transformationen erfolgen nur nach seinen Vorgaben und unter seiner wachsamen Leitung ohne eine überflüssige (unautorisierte) Initiative der Untertanen, die nur als Vollstrecker des Willens und der Entscheidungen ihrer Vorgesetzten auftreten. Der private Charakter der Wirtschaftstätigkeit, geschweige denn das Privateigentum werden negiert. Ebenso wird dann die laufende Verwaltung der auf diese Weise geschaffenen „nationalen“ Industrie (vielleicht sogar der „Volkswirtschaft“ als Ganzem) ganz natürlich zur Sache der Apparatschiks, (mit allen „Spezialitäten“ der bürokratischen Verwaltung, Zentralisierung und Planung).

         Im zweiten Fall wird die Tätigkeit der Bürokraten hauptsächlich darauf reduziert, breite Massen von Menschen in die Industrialisierung einzubeziehen, indem günstige Bedingungen für die beschleunigte „natürliche" Entwicklung der Industrie geschaffen werden („natürlich" im Sinne des freiwilligen Einsatzes der Bevölkerung und nicht ihres Zwanges im Zuge der „großen Wenden"[35]). Hierbei wird die beschleunigte Bewegung in die notwendige Richtung dadurch erzielt, dass entsprechende Aktivitäten der Untertanen zur Entwicklung der Industrie und im Allgemeinen der Wirtschaft erlaubt und gefördert werden.

2. Das Dao der bürokratischen Zentralisierung

BEDINGUNGEN, DIE DIE ERSTE HERANGEHENSWEISE ERMÖGLICHEN Die formale (theoretische) Möglichkeit der beiden genannten Optionen bedeutet jedoch nicht automatisch ihre praktische Äquivalenz: Die Durchführbarkeit des einen oder des anderen Weges wird durch konkrete Bedingungen bestimmt. In dieser Hinsicht ist die erste Herangehensweise anspruchsvoller (und somit weniger leicht umsetzbar). Man braucht eine Reihe von besonders seltenen und spezifischen Umständen, um sie zu implementieren.

         Erstens geht es um die entsprechende ideologische Unterstützung. Die Idee, die Verwaltung der Produktion innerhalb der Gesellschaft zu zentralisieren, ist nicht simpel und eigentlich sogar extravagant, zumindest für die überwiegende Mehrheit der bürokratischen und noch mehr der keimenden bourgeoisen Gesellschaften. Damit wird ja nicht nur das bürgerliche Privateigentum, sondern überhaupt die Individualität einer beliebigen mehr oder weniger bedeutenden wirtschaftlichen Existenz bestritten. Solch eine Ordnung wurde nur in der Mentalität der alten Ägypter für natürlich gehalten; alle anderen Völker der Welt tendierten mehr oder weniger zur privaten Wirtschaftsführung. In dieser Situation ist selbst der Gedanke an die Verstaatlichung der ganzen Wirtschaft oder zumindest eines wesentlichen Teils davon (nicht als Fantasie, sondern als eine reale politische Strategie) kaum wahrscheinlich: Das erfordert die Anhäufung eines erheblichen Negativismus in Bezug auf das Privateigentum, also eine lange Herrschaft und ein hohes Entwicklungsniveau des bürgerlichen Systems zuvor, das alle seine Mängel erkennen lässt. Daher kann sich die o.g. Idee einerseits nur in einer relativ späten Epoche und andererseits nicht auf der Grundlage von bürokratischen Gesellschaften selbst herausbilden. Unvermeidlich ist eine lange historische Periode, in der das Problem einer nachholenden Modernisierung für bestimmte bürokratische Regime bereits aktuell ist, und die „Ideologie“ ihrer Lösung im Rahmen der ersten Herangehensweise entweder noch gar nicht vorhanden oder aus den bürgerlichen Ländern noch nicht importiert ist (dabei ist klar, dass die Gesellschaften, die in einem näheren Kontakt mit der bürgerlichen Welt sind, diese „Ideologie“ früher als die peripheren meistern).

         Zweitens reicht es nicht aus, dass eine Idee überhaupt aufkommt; es ist notwendig, dass sie die Massen und vor allem die Bürokratie selbst als die Klasse ergreift, die diese Idee hauptsächlich realisiert. Wer sonst, wenn nicht der Staatsapparat, soll die Verstaatlichung durchführen? Und welcher Staatsapparat ist zu solch einer „Heldentat“ fähig? Nur derjenige, der nicht am Gegenteil interessiert ist, dem das Privateigentum fremd ist, der keine separate materielle Existenz hat, der sein Einkommen ausschließlich seiner Dienststellung verdankt usw., der also weder mental (aus Überzeugung) noch praktisch (nach seiner Stellung, und das ist noch wichtiger) individualisiert ist. Das kann, muss jedoch nicht, (hierbei spielt, ich wiederhole, auch die Mentalität eine Rolle, die an sich individualistisch sein kann) nur die Bürokratie der anfänglichen zentralisierten Evolutionsperioden bestimmter bürokratischer Staaten sein, wenn die Mitglieder dieser Klasse (des Staatsapparats) soeben gemeinsam die Macht ergriffen haben und in ihrer sozialen Stellung noch nicht richtig verwurzelt sind, die Massenbestrebungen zur Festigung ihrer (vor allem materiellen) Unabhängigkeit vom Hierarchen noch nicht erkannt haben, sich nicht vom reinen Dienstadel zu Bojaren, Landbesitzern und anderen ähnlichen Eigentümern des Landes und der Leute verwandelt haben, die ihnen zugewiesen wurden. Kurz gesagt, kann die zentralisierte bürokratische Industrialisierung nur durch eine völlig neue, ihrer Zusammensetzung nach „frische" und somit noch nicht verrohte, relativ eingespielte Bürokratie ausgeführt werden, die ein gehorsames Werkzeug des Zentrums ist. Ihr Aufkommen kann nur das Ergebnis von Folgendem sein:

a)   entweder der Eroberung durch rückständige Stämme, die noch keine erfahrene Bürokratie haben (was eindeutig nicht unser Fall ist, weil sich das auf Epochen bezieht, in denen das Problem der Industrialisierung noch nicht bestand);

b)   oder der siegreichen Bauern- sowie der nationalen und religiösen Aufstände, die frühere Dynastien und ihren Staatsapparat stürzen und sie durch neue ersetzen.

         In allen anderen Fällen, d.h. bei den bereits etablierten und daher individualisierten Bürokratien, können die Bürokraten (in der Masse) keine Anhänger und dementsprechend keine Werkzeuge der bedeutenden und umso weniger totalen Verstaatlichung der Wirtschaft sein.

         Allerdings sind drittens auch die Schärfe und die Dringlichkeit der Notwendigkeit von Bedeutung, die Rückständigkeit zu überwinden, und zwar: (1) das Ausmaß der externen Bedrohung und die Größe der dem Staat zur Verfügung stehenden (2) Ressourcen und (3) Zeit. Wenn die Bedrohung groß ist, die Ressourcen und die Zeit aber knapp sind, kann sich selbst eine tief verwurzelte Bürokratie, die sich vom Instinkt der Selbsterhaltung leiten lässt, auf Kosten der privaten Interessen ihrer Mitglieder mobilisieren. Bei einer tödlichen Gefahr, der man nur durch gemeinsame Anstrengungen, durch die Anspannung aller Kräfte der Klasse (der „Mobilisierung der Wirtschaft") entgegenstehen kann, erhält die Idee der Zentralisierung unter den Bürokraten eine zusätzliche Motivation und Anreize für die Umsetzung.

         Schließlich ist viertens auch die Stärke des Staatsapparats wichtig (unter Berücksichtigung seiner radikalen Zentralisierungspolitik), u.a. im Zusammenhang damit, ob es ernsthafte Verbündete in der Bevölkerung gibt (die gegen das Privateigentum eingestellt sind). Solche Transformationen erfordern ja nicht nur besondere Qualitäten der Bürokratie selbst, sondern beeinflussen auch dramatisch das Leben ihrer Untertanen. Es ist notwendig, sowohl (a) Ressourcen von ihnen abzuziehen, als auch (b) sie zu zwingen, massenhaft auf ihre traditionelle Lebensgestaltung zu verzichten und Mitarbeiter der neuesten Industrie zu werden, und (c) ihre gewohnheitsmäßige Neigung zur individuellen Wirtschaftsführung und zum Privateigentum zu unterdrücken. All das sind schmerzhafte Operationen ohne Anästhesie, also extrem schwierige Aufgaben, die ohne radikale Gewalt und dementsprechend ohne eine signifikante Gewaltprävalenz des Staatsapparats gegenüber der gewaltsam umgestalteten Gesellschaft unlösbar sind.

         Dies sind die Bedingungen, ohne die eine zentralisierte bürokratische Modernisierung der Wirtschaft nicht möglich ist. Es ist offenbar, dass

1)   die meisten das Produkt einer relativ späten Epoche (der Neuzeit) sind; darum konnten alle Bürokratien nur den zweiten Weg (auf dem Gebiet der Industrialisierung) gehen und gingen auch gesetzmäßig diesen Weg;

2)   selbst in der neuesten Epoche finden sich diese Bedingungen (insbesondere in ihrer Gesamtheit) bei weitem nicht immer, weshalb auch hierbei die meisten Bürokratien zum zweiten Weg tendieren.

BESONDERHEITEN DER ERSTEN HERANGEHENSWEISE Doch beenden wir unser Gespräch über die erste Herangehensweise. Es ist wichtig, ihre charakteristischen Eigenschaften zu behandeln. Ich werde hierbei auf Folgendes eingehen.

       Erstens auf die Tatsache, dass in diesem Fall die Transformationen keineswegs revolutionäre Reformen sind, also Veränderungen des bürokratischen Klassencharakters der Gesellschaftsordnung. Alle Metamorphosen, die durch den Staatsapparat durchgeführt werden, betreffen nur die „Technik“, die funktionale Struktur der Gesellschaft und das Niveau der speziellen (professionellen) Kenntnisse der Massen, wobei die Gesellschaftsordnung nach wie vor bürokratisch bleibt, sowohl in der Organisation des politischen, als auch des wirtschaftlichen Systems. Die enge Produktionsspezialisierung wird hierbei nicht nur durch die Bürokratie inspiriert (sie entwickelt sich nicht etwa auf natürliche Weise), sondern selbst das Funktionieren einer solchen differenzierten Produktion steht unter ihrer Kontrolle. Ihre Zellen werden gar nicht durch den Markt, sondern durch den Staatsapparat verbunden, der alle wirtschaftlichen Prozesse verwaltet.

         Zweitens sind gleichzeitig (1) die genannte Verkomplizierung der funktionalen Struktur der Gesellschaft und (2) die Erhöhung der fachlichen Kompetenzen der Massen (die dadurch veranlasst wird, dass komplexe Ausrüstungen zu betreiben sind), zusammen mit der (3) beschleunigten Verstädterung eine Basis für die Bildung von (a) neuen sozialen Schichten, die für die Bürokratie viel gefährlicher als früher die Bauern sind, und (b) neue Umstände, die viel schwieriger zu kontrollieren sind als das primitive soziale Leben der Naturalwirtschaft. Die Bürokratie, die den Weg der Zentralisierung geht, bewahrt natürlich die Klassenreinheit ihrer Gesellschaftsordnung (was ja diesen Weg für sie attraktiv macht), ändert allerdings die Gesellschaft selbst, und diese Veränderungen bewirken in jedem Fall die Unterminierung ihrer Herrschaft und die Zunahme der Stärke ihrer Untertanen. Um unter diesen extremen Bedingungen die Macht zu erhalten, benötigt daher der Staatsapparat ebenso extreme Maßnahmen: Massiven Terror und enorme Propaganda, vorbeugende Unterdrückung der geringsten Unzufriedenheit der Bevölkerung, verzweifelten Kampf gegen Andersdenkende usw. Noch nicht genug, dass, wie schon erwähnt, für die vorgenommene grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft eine kolossale Gewaltanwendung (und folglich die erhöhte Stärke der Klasse) nötig ist; die Ergebnisse dieser Umgestaltung verlangen dies auch, nun allerdings mit dem Ziel, die Macht der Bürokraten zu schützen. In der entstehenden komplexen Situation ist das bürokratische Regime gezwungen, zehn Mal härter durchzugreifen als zuvor, also totalitär zu werden; sonst kann man den aus seiner Flasche herausgelassenen Dschinn der (strukturell und kulturell) neuen Gesellschaft nicht beherrschen.

         Schließlich drittens kann die Bürokratie diesen Weg nicht dauerhaft gehen, weil die effektive Verwaltung der komplexen Produktion und Gesellschaft, wie im siebten Vortrag erwähnt, für sie zu anspruchsvoll ist. Die Bürokratie arbeitet mit ihren Methoden und Potenzen zwangsläufig in Richtung Totalzusammenbruch. Dieser Zusammenbruch von Allem (als Endergebnis) ist unvermeidlich, es geht nur darum, wann er erfolgt. Dabei wird die Lage weder durch das lokale Vorhandensein der gefragten Rohstoffe noch durch die günstige Konjunktur auf dem Rohstoffmarkt gerettet. Dies kann den Ruin des Regimes nur hinauszögern, aber nicht seine Agonie und den wirtschaftlichen Zusammenbruch stoppen: Die Verlagerung der Priorität von der Güterproduktion auf die Rohstoffgewinnung gibt der Wirtschaft im Gegenteil eher einen Fangschuss. Kurz gesagt, bürokratisierte Gesellschaften sind nicht in der Lage, mit dem technologischen Fortschritt Schritt zu halten und qualitativ hochwertige neueste, einschließlich militärische Produkte, herzustellen (und das ist ja der Dreh- und Angelpunkt von allem), und je weiter (sowohl in Bezug auf die Komplexität von Technologien, als auch in Bezug auf das Ausmaß der Degradierung der Bürokraten und der von ihnen kontrollierten Produktion und Gesellschaft), desto weniger. Deswegen müssen sie entweder erneut moderne Rüstungsgüter in den bürgerlichen Staaten kaufen (z.B. für den Erlös aus dem Rohstoffverkauf, mit allen gefährlichen Folgen einer solchen Problemlösung) oder müssen versuchen, die heimische Produktion auf andere Weise auf die Beine zu stellen. Die Auswahl an Möglichkeiten ist hierbei recht klein: Eine Alternative zur bürokratischen Zentralisierung der Verwaltung der „Volkswirtschaft" kann nur die Erzwingung der wirtschaftlichen Aktivitäten der Untertanen sein, also die Befreiung und Aktivierung ihrer Initiative durch entsprechende revolutionäre Veränderungen.

EINE DER URSACHEN DER PERESTROIKA Die genannte Unvermeidbarkeit des Zusammenbruchs ist übrigens eine weitere Ursache der revolutionären Reformen und eine wertvolle Ergänzung der militärischen Bedrohung durch die fortgeschrittenen bourgeoisen Staaten. Die Notwendigkeit, den Rückstand zu überwinden, spielt natürlich auch hierbei eine führende Rolle, erstens aufgrund seines historischen und logischen „Geburtsrechts"; der Niedergang der Wirtschaft ist ja eine Folge der bürokratischen Zentralisierung der Verwaltung, und die Zentralisierung selbst ist die Ausgeburt des Rückstandes, nämlich ein Weg, diesen zu beseitigen. Zweitens trifft der Verfall durch den Rückstand (mit all seinen Gefahren) auch augenblicklich den durch den zentralisierten Bürokratismus betroffenen gesellschaftlichen Organismus, selbstverständlich noch vor seiner vollständigen Zerstörung. Deswegen kommt die Reaktion der Apparatschiks auf diese „Krankheit“ natürlich ihrer Reaktion auf das Näherkommen des allgemeinen „Aus“ zuvor. Allerdings ist das ein Kapitel für sich, eine separate große Bedrohung, und das zwingt auch die vernünftigen Bürokraten, einen Ausweg aus der katastrophalen Situation zu suchen.

         Ein solches Heranreifen der Apokalypse wurde z.B. in der späten Sowjetunion deutlich. Die Wirtschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch, der Staat lebte hauptsächlich vom Handel mit den Energieressourcen, deren Preise sanken; auf lange Sicht zeichneten sich klar Verarmung, Hunger, wachsende soziale Spannungen, Unruhen und ähnliche Katastrophen ab, und deren Gefahr für die sowjetische Bürokratie war sogar gewichtiger als die Drohung einer militärischen Invasion von außen, die wegen des „nuklearen Schirmes" praktisch ausgeschlossen war. Daher also wurde die Gefahr des Zusammenbruchs zur Hauptursache für die sogenannte „Perestroika". Man musste etwas tun, weniger  um Konkurrenten einzuholen (davon träumte schon lange keiner mehr), sondern einfach, um nicht in den Abgrund zu fallen (auf den Kopf Nordkoreas, das da schon saß). Die Gesellschaft im Allgemeinen, aber vor allem die Bürokraten selbst mussten schlicht überleben.

         Und was konnte man da tun? - Im Grunde genommen nur revolutionäre Umwandlungen der Gesellschaft durchführen. Man kann beim besten Willen nicht ein zweites Mal auf dieselbe Harke treten, wenn man immer noch darauf steht. Obwohl Andropow versuchte, in der kurzen Zeit seiner Herrschaft die zentralistische Ordnung irgendwie wieder zu beleben, ihr einen zweiten Anstoß zu verpassen, hatte diese krampfhafte Konvulsion des im Sterben liegenden Regimes keine Chance auf Erfolg und brachte nichts zuwege. Die Notwendigkeit, das bestehende System zu demontieren, wurde nur deutlicher.

         Doch insgeheim hatten unsere Apparatschiks natürlich auch einen dritten Backup-Plan: Bis zum letzten durchzuhalten, ohne etwas zu ändern, und wenn es schließlich kurz „vor 12“ wäre, mit dem Gestohlenen irgendwohin ins Ausland abzuhauen. Allerdings war das:

a)   bereits kein Klassenverhalten mehr, sondern privates Handeln (jeder stirbt für sich allein);

b)   „geografisch“ beschwerlich: Für die Masse der sowjetischen Bürokraten mit ihrer Ideologie, der Last ihrer Vergangenheit und ihrer Politik der harten Konfrontation mit der westlichen Welt im Laufe von mehr als einer Hälfte des Jahrhunderts gab es im Prinzip kein Entrinnen (wenn man die mehr oder weniger anständigen Orte meint). Und schließlich

c)   das Ergebnis des bürokratischen Zentralismus, zusätzlich zu der Krise von Allem, war auch (wegen der Besonderheiten des jeweiligen Verteilungssystems), dass es bei der Mehrheit der Apparatschiks keine wesentlichen privaten Ersparnisse gab.

       Daher, ich wiederhole, war der Weg der revolutionären Reformen der am stärksten akzeptable (wenn nicht der einzig mögliche) Ausweg aus der Sackgasse für die Bürokraten der späten Sowjetunion.

 

3. „Wir gehen einen anderen Weg“[36]

NOCH EINE WEGGABELUNG Es stellt sich also heraus, dass das einzig Mögliche der Rückgriff der Bürokratien auf die zweite Herangehensweise ist, d.h. auf die Modernisierung der Industrie durch die Massen, die dazu künstlich ermuntert und zu entsprechenden Aktivitäten ermutigt werden. Das geschieht beides da, wo es ursprünglich keine Bedingungen für die Realisierung der Industrialisierung durch den Staatsapparat gibt und wo dieser Weg nach und nach immer weniger begehbar wird (sowohl wegen der praktischen Ergebnisse und der dadurch verursachten Diskreditierung dieses Weges in den Augen der Öffentlichkeit, als auch im Zusammenhang mit dem natürlichen Schwund der Bedingungen, die die Entscheidung für ihn absichern). Wie kann die Aktivierung der Massen erreicht werden? Formal (de jure) wiederum auf zweierlei Weise.

         Erstens indem die zentralisierte Verwaltung der „Volkswirtschaft" erhalten wird. Hierbei wird das gewünschte Ergebnis durch Veränderungen im politischen System erreicht, die die Macht dem „Volk" übergeben und die unbürokratisch geführte Verwaltung zur Angelegenheit der gesamten Gesellschaft machen. Sie hat die Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft (oder zumindest ihrer überwiegenden Mehrheit) zum Ziel. Also wird die Höherentwicklung der Wirtschaft gemeinschaftlich in Angriff genommen.

         Zweitens indem die Verwaltung dezentralisiert wird, also indem bourgeoise Wirtschaftsreformen durchgeführt werden: Der Markt, die Privatinitiative, das Privateigentum, die Privatproduktion usw. werden nicht nur erlaubt, sondern auch gefördert, alle für ihr normales Funktionieren notwendigen rechtlichen Garantien, unabhängige Gerichte etc., werden gegeben. Das ist natürlich auch (genauso wie bei der ersten Herangehensweise) nichts anderes als eine antibürokratische Reform des politischen Systems; sie ist allerdings bei weitem nicht vollständig und nimmt dem Staatsapparat auch nicht die wichtigsten Machtpositionen, also durchaus nicht die Herrschaft in der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang ist es verständlich, dass all diese Transformationen eher instabil sind (insbesondere, wenn sie keine breite Unterstützung in der Bevölkerung finden, also wenn in kurzer Zeit keine starke Massenbourgeoisie gebildet wird) und jederzeit rückgängig gemacht werden können. Aber das ist nur aus der Sicht der Bourgeoisie nachteilig. Die Begrenzungen des zweiten Weges heben ihn als solchen nicht auf. Die Bürokraten sind durchaus imstande, diesen Weg zu gehen.

WOFÜR STIMMT DER STAATSAPPARAT AB Der erste Weg dagegen ist für sie gesperrt.

       Zum einen, weil er sich an dem Heiligsten, der Macht des Staatsapparates, vergreift, also an seiner Existenz als herrschender Klasse überhaupt. Die Bürokraten können auf solche Weise die Macht nur im Ergebnis einer politischen (wenn auch friedlichen) Revolution verlieren, die sie stürzt, aber keineswegs im Ergebnis revolutionärer Reformen, die sie selbst durchführen (eben um sich  zu retten). Bei dem Ausmaß der Bedrohung, das die Bürokraten zu revolutionären Reformen zwingt, müssen sie noch nicht abdanken (sich selbst vernichten); das kann keinesfalls eine freiwillige Entscheidung sein. Die Bürokratie wird nie darauf eingehen, solange sie als Klasse nur die geringste Überlebenschance hat. Das wäre ja das Gleiche, als wenn man die Diarrhöe mit Harakiri heilen würde. Wenn es also nicht um eine Revolution, sondern lediglich um bürokratische revolutionäre Reformen geht, können sie sicherlich nur auf bürgerliche Transformationen des Wirtschaftssystems hinauslaufen.

         Mehr noch, zweitens, selbst unter den Bedingungen einer friedlichen politischen Revolution, wenn der Staatsapparat nicht imstande ist, die Macht zu erhalten, aber immer noch im Wesentlichen als solcher weiter existiert (bei einer nicht-friedlichen Revolution ist das unmöglich), ist es für ihn von entscheidender Bedeutung, dass die sich hierbei abspielenden antibürokratischen Transformationen des politischen Systems parallel zu den bürgerlichen Wirtschaftsreformen ablaufen (und er kämpft auch dafür). Warum? Nur bei  einem solchen Kompromiss erlangen die Apparatschiks (als Privatpersonen ) die Möglichkeit, ihre frühere Macht (die sie nun verlieren) gegen Besitz zu tauschen, sich also in der Tat von Bürokraten in Bourgeois zu verwandeln und damit von einer Form ihrer Herrschaft in der Gesellschaft zu einer anderen überzugehen, während der Machtverlust bei der Aufrechterhaltung der zentralisierten Verwaltung der „Volkswirtschaft“ den ehemaligen Bürokraten alles entzieht.

ANDERE URSACHEN DER UTOPIE Dies sind die Interessen und Ziele der Bürokratie als des Hauptsubjekts (im Falle der revolutionären Reformen) oder zumindest als eines wichtigen Spielers auf diesem „Minenfeld“ (im Falle der friedlichen Revolutionen). Die Bürokratie ist allerdings nicht der einzige Spieler auf diesem Feld, und deswegen werden die Realität bzw. die Utopie dieses Weges auch durch den Charakter der anderen Kräfte in der Gesellschaft bestimmt.

         In diesem Sinne ist drittens der Übergang zu einem unbürokratischen Zentralismus nicht möglich, u.a. weil eine Gesellschaft, in der die Bürokraten herrschen (und wenn sie dabei ihre letzten „goldenen Tage“ erleben), zwangsläufig rückständig ist, sowohl ihrer sozialen Zusammensetzung nach, als auch in Bezug auf das Niveau der politischen Kultur der Massen (sonst würden die Bürokraten dort nicht herumkommandieren können). Deshalb gibt es selbst im Falle einer Revolution einfach niemanden, der die „Zügel“ ergreifen und sich an der Macht etablieren könnte, mit Ausnahme der neuen Bürokratie, eines neuen Bonaparte. In einer solchen Situation ist die Erhaltung des Zentralismus in der Wirtschaft einerseits sinnlos und schädlich (da er nach wie vor bürokratisch bleibt). Andererseits (und das ist für uns das Wichtigste) handelt es sich keinesfalls um eine Bewegung in die „richtige“ (demokratische) Richtung, sondern nur um einen Personenwechsel im Staatsapparat (wobei sich sonst überhaupt nichts ändert).

         Schließlich viertens besteht die Utopie dieser Option auch darin, dass sie keine klare Ideengestaltung hat. Der ökonomische Zentralismus wird im Moment von den Massen ausschließlich in seiner bürokratischen Form identifiziert, und deswegen greifen alle bewussten Bürger bei dessen Erwähnung reflexartig nach den Pistolen. Das Beispiel der Sowjetunion ist noch zu frisch und zu blutend, als dass die dort kompromittierten Ideen zum Gegenstand einer unvoreingenommenen wissenschaftlichen Analyse werden, geschweige denn ihre Popularität wiedergewinnen könnten. Daher gibt es noch keine der nötigen Ideen, die die Massen ergreifen könnten, ganz zu schweigen davon, dass es (zumindest, in den bürokratischen und postbürokratischen Gesellschaften) keine Massen selbst gibt, die dazu fähig wären, diese Ideen unverzerrt zu erfassen und richtig anzuwenden, während die Ideen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung im Gegenteil allgemein bekannt und repliziert sind; darüber hinaus trumpft man dabei mit einer Vielzahl von Beispielen auf, die die Überlegenheit dieser Ordnung gegenüber der bürokratischen deutlich zeigen.

 ZUSAMMENFASSUNG Also ist nur die zweite, bürgerlich-wirtschaftliche Variante der revolutionären Reformen möglich, sowohl nach dem Stand: a) der Menschheit, die bislang nichts Besseres kennt (in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit), als auch b) der zu reformierenden Gesellschaften, die wegen ihrer Rückständigkeit nicht einmal in der Lage sind, einfache bürgerliche, geschweige denn „ultrabürgerliche“ Reformen durchzuführen und c) der Bürokratie selbst mit ihren egoistischen Interessen. Die Transformationen von Alexander II, Meiji, Gorbatschow hatten genau diesen Charakter; das Gleiche passiert im modernen China. Dagegen stellt der erste Weg (die demokratische Zentralisierung) eine Utopie dar, in jedem Fall unter den gegebenen Umständen, die wir behandeln, wenn die Bürokraten alles beherrschen, wenn die Gesellschaft rückständig ist usw. Jedoch bleibt die Frage offen, ob dieser Weg im absoluten Sinne (also unter allen möglichen Umständen, z.B. als Ziel der politischen Revolution einer superfortschrittlichen postbürgerlichen Klasse) utopisch ist. Das Problem der zentralisierten unbürokratischen Produktionsverwaltung erfordert eine separate Diskussion und viel mehr Wissen als das, worüber wir derzeit verfügen.

DAS PROBLEM DER EFFIZIENZ VON REVOLUTIONÄREN REFORMEN Abschließend möchte ich kurz auf die Effizienz der „Revolutionen von oben" eingehen. Natürlich ist sie in jedem Fall anders, abhängig von den Umständen, wobei der wichtigste Faktor die Bereitschaft zu revolutionären Reformen der zu transformierenden Gesellschaft ist.

         Da sie „von oben" und nicht „von unten" durchgeführt werden, bedeutet dies, dass die Gesellschaft im Großen dazu nicht bereit ist. Aber zwischen „nicht bereit“ und „nicht bereit“ ist ein großer Unterschied. Der Erfolg oder Misserfolg von revolutionären Reformen wird genau durch den Grad dieser (Nicht-)Bereitschaft der Gesellschaft bestimmt, also durch ihre (Un-)fähigkeit, diese zu akzeptieren.

         Demnach ist für bürgerliche Reformen die eigene anfängliche „Bürgerlichkeit“ der zu reformierenden Gesellschaft von Bedeutung. Selbstverständlich ist es einfacher, die bürgerliche Ordnung dort einzuführen, wo es bereits eine mehr oder weniger deutlich herausgebildete Bourgeoisie gibt, die in der Lage ist, bestimmte Arbeitsfähigkeiten, die Arbeitsethik, die individualistische Mentalität usw. ohne weiteres aufzugreifen. Wenn es jedoch nichts davon gibt (wie in der späten Sowjetunion mit ihrer marsähnlich wüsten antibürgerlichen und sogar mitunter überhaupt antiökonomischen Landschaft), dann hat der Markt kaum Chancen, Fuß zu fassen. Seine Sprossen bringen hierbei verkrüppelte und hässliche Triebe hervor. Veränderungen werden durch die marginalisierte Population massenhaft abgelehnt. In diesem Fall ist es äußerst schwierig, Reformen erfolgreich durchzuführen (nicht in Form einer räuberischen Verteilung und Plünderung des „nationalen Gutes" durch ehemalige und neue Apparatschiks, sondern im Sinne eines echten Übergangs zur Marktwirtschaft).

         Nun, und im politischen Bereich bleibt verständlicherweise die Macht allenfalls in den Händen der Bürokraten, ob es in der Gesellschaft eine Bourgeoisie gibt oder nicht, nur dass dort, wo wirtschaftliche und soziale Transformationen auf einen fruchtbaren Boden fallen und erfolgreich sind, die Herrschaft des Staatsapparates einen schonenderen und weniger langlebigen Charakter trägt.

Vortrag zehn. DAS POLITISCHE SYSTEM DER BOURGEOISIE: SEIN ALLGEMEIN ANTIBÜROKRATISCHER INHALT

         Das nächste Thema ist der Charakter (der Inhalt) der Ordnung, in der die Macht in der Gesellschaft der Bourgeoisie gehört. Oben ist bereits einiges darüber gesagt worden; jetzt ist es an der Zeit, die Sache genauer zu behandeln. Wir wollen uns vor allem daran erinnern, was die Ziele dieser Ordnung sind. Wonach strebt die Bourgeoisie, wovon träumt sie?

1. Ziele und Wege

        Die Bourgeois gehören zu den Marktschichten. Ihr Wohlergehen hängt vom normalen Funktionieren des Marktes ab (also einem freien Funktionieren, das durch keine äußeren Einflüsse verzerrt wird und gemäß eigenen Gesetzen erfolgt), und sie bemühen sich auch, dies als ihr Endziel zu erreichen. Aber wodurch wird dieses normale Funktionieren bestimmt? Beziehungsweise: Was macht das Funktionieren des Marktes unmöglich?

WORAUF BERUHT DER MARKT? Der Markt ist ein Produkt einerseits des privaten und andererseits des spezialisierten Charakters der Produktion. Ich nenne hierbei zuerst den privaten Charakter einfach aus Gründen des historischen Primats: Es ist klar, dass die Isoliertheit der Hersteller noch in der Naturalwirtschaft, also vor deren Spezialisierung, vorhanden war. Allerdings ist die Spezialisierung logischerweise wohl wichtiger, da der Markt eine besondere Form der Verbindung von Wirtschaftszellen der Gesellschaft ist (als Austausch von Arbeitsprodukten und der Arbeit selbst, der in Form von An- und Verkauf verwirklicht wird). Die Spezialisierung entspricht hierbei dem Inhalt, also der Notwendigkeit der Verbindung im Allgemeinen, und der private Charakter nur der Form. Eben die Spezialisierung macht die Hersteller in ihrer Reproduktion (die sich sowohl auf die Produktion als auch auf das Leben überhaupt bezieht) voneinander abhängig. Sie erfordert darüber hinaus den Austausch der Arbeitsergebnisse. Die Isoliertheit jedoch, d.h. die Organisationsautonomie der einzelnen Produktionsstrukturen, bedingt, dass dieser Austausch nur in Form von An- und Verkauf, also nicht durch organisierte Verwaltung erfolgt.

DIE NATÜRLICHKEIT DER GENESIS Die beiden „grundlegenden" Merkmale zeigen sich in der Produktion auf natürliche Weise. Als erstes bildet sich, wie gesagt, ihr privater (individuell-familiärer) Charakter heraus. Er reift gesetzmäßig auf der Basis von individuellen primitiven Mitteln und Werkzeugen heran, die keine kollektive Anwendung erfordern. Dann entwickelt sich im Zuge der allgemeinen Vervollkommnung der Produktion (und dies insbesondere bei der Steigerung ihrer Produktivität) auch ihre Spezialisierung, sowohl durch das Erscheinen von Fachleuten in verschiedenen Wirtschaftszweigen, als auch in Form der entsprechenden Diversifikation der genannten Werkzeuge (während der individuelle Charakter beibehalten wird). Im Ergebnis entwickelt sich die Produktion en masse zur privaten Produktion für andere, d.h. zum Verkauf (weil es, ich wiederhole, bei der Isoliertheit der Hersteller nur in dieser Form überhaupt Austausch geben kann).

         Gleichzeitig ist das - auf andere Art - die Entstehung des Marktes und der Bourgeoisie. Es sind dies nur verschiedene Aspekte eines Prozesses, weswegen sie miteinander eng verbunden sind. Das erklärt auch, warum die Interessen der Bourgeoisie letztlich darauf hinauslaufen, das normale Funktionieren (a) der privaten Wirtschaftsführung und (b) des Marktaustausches zu gewährleisten.

DIE BEDINGUNGEN FÜR DIE BEIDEN ASPEKTE Was wird für den ersten benötigt? Zunächst einmal die Freiheit der Produzenten, über sich selbst und über ihre Arbeit zu verfügen, also ihre persönliche Freiheit und, im Allgemeinen, ihre politische Unabhängigkeit (wo es eine persönliche Abhängigkeit gibt, von wem auch immer, gibt es auch eine politische, wobei die letztere auch unpersönlich, ständemäßig sein kann). Anders gesagt bedeutet dies das Unvermögen irgendeiner Instanz (sowohl praktisch, als auch gesetzlich), die Produzenten etwas gegen ihren Willen tun zu lassen.

         Dies ist einerseits realistisch, wenn keiner über den Produzenten als Gruppe steht (in unserem Fall über den Eigentümern der privaten Industrie), d.h. wenn gerade sie in der Gesellschaft dominieren und alle vollen bürgerlichen (hauptsächlich politischen) Rechte besitzen (dabei ist es natürlich möglich, dass es jemanden gibt, der „unter ihnen" steht, dessen Rechte im Gegenteil geschmälert werden: Für die Freiheit der privaten Produktion ist nur wichtig, dass es niemanden „über“ deren Eigentümern gibt). Andererseits ist es auch notwendig, dass die Produzenten selbst gleichberechtigt sind, dass keiner einem anderen untergeordnet ist.

         Darüber hinaus ist für das normale Funktionieren der privaten Produktion außer der persönlichen Freiheit noch die Freiheit der Produzenten erforderlich, über die Gegenstände, Mittel und Werkzeuge ihrer Arbeit (d.h. über die Produktionsmittel) zu verfügen.

       Und was braucht man für einen normalen An- und Verkauf? Das Gleiche, vor allem die Freiheit der Verwirklichung, die Freiwilligkeit dieser Handlung. Dafür ist es wichtig, dass:

a)   niemand von außen ins Geschäft eingreifen und willkürlich dessen wesentliche Parameter (Preise, Volumen, Angebot) bestimmen kann;

b)   die Verkäufer und Käufer persönlich voneinander unabhängig sind und sich gegenseitig nicht die Bedingungen des Geschäfts mit marktfremden (politischen) Mitteln diktieren können.

         Die erste Bedingung erfordert wiederum die tatsächliche Dominanz der Marktschichten in der Gesellschaft, die de jure in ihrer Vollberechtigung zum Ausdruck kommt; die zweite setzt die Gleichberechtigung der Marktagenten voraus. Mit anderen Worten, man braucht hierbei auch ihre Unabhängigkeit, sowohl von Dritten, als auch voneinander.

        Nun, und natürlich ist außerdem die Freiheit (die Fülle der Rechte) aller notwendig, über die Produkte ihrer Arbeit und überhaupt über ihre Waren zu verfügen.

         Für das normale Funktionieren sowohl der privaten Produktion, als auch des Marktaustausches benötigt die Bourgeoisie also: a) die politische Voll- und Gleichberechtigung und b) die Freiheit, über die Produktionsmittel und -produkte zu verfügen, die de jure als das Recht auf Privateigentum formalisiert wird.

DAS VERHÄLTNIS DER BEDÜRFNISSE Ich betone die unabhängige Bedeutung des letzten Passus „b". Es mag den Anschein erwecken, als ob die politische Voll- und Gleichberechtigung an sich schon das Privateigentum sichert, weshalb eine gesonderte Erwähnung ihrer Notwendigkeit überflüssig ist. Dem ist jedoch nicht so. Natürlich ist es unmöglich, ohne politische Unabhängigkeit über die Produktionsmittel und -produkte frei zu verfügen (sowie über die private Wirtschaftsführung als Ganzes zu reden). Es kann kein Recht auf Privateigentum geben, wenn die Erzeuger grundsätzlich rechtlos sind. Das Eine ist hierbei eine obligatorische Bedingung für das Andere. Ohne „A" kann es kein „B" geben. Allerdings folgt daraus logischerweise nur folgendes: 1) wo es kein „A" gibt, existiert auch kein „B", und 2) wo es ein „B" gibt, ist auch ein „A". Keineswegs sicher ist aber, dass es unbedingt ein „B“ gibt, wo es ein „A" gibt.

         Aus dem bloßen Vorhandensein der Voll- und Gleichberechtigung von Produzenten ergibt sich keinesfalls der private Charakter der Produktion. Sie kann auch sozialisiert, zentralisiert, d.h. gemeinschaftlich verwaltet sein, indem der Austausch von hergestellten Produkten entsprechend organisiert wird. Damit dieser marktgerecht abläuft, ist es nicht nur notwendig, dass die Produzenten weder einander oder sonst jemandem unterstehen, sondern dass sie produktionsmäßig getrennt sind, also dass der private Charakter der Verfügung über die Produktionsmittel und -produkte gewahrt wird, was formal eben durch das Prinzip der Unverletzlichkeit des Privateigentums festgelegt wird. Deswegen muss man darauf hinweisen, dass nicht nur die politische Voll- und Gleichberechtigung, sondern auch, separat und zusätzlich, das Recht des Privateigentums eingehalten werden muss, damit die private Produktion und der Marktaustausch normal funktionieren. Es ist sogar sinnvoll, dieses Recht als das Hauptziel und die politische Unabhängigkeit als eine Bedingung dafür (Garantie) oder als Mittel anzugeben, um dieses Ziel zu erreichen. Schließlich bedient ja, wie wir wissen, die „Politik“ letztlich immer die Bedürfnisse der „Wirtschaft", d.h. sie sichert einen bestimmten Modus der Verteilung von öffentlichen Gütern (der Marktaustausch stellt eben einen solchen Modus dar).

DIE SCHLÜSSELAUFGABE UND DIE WEGE, SIE ZU LÖSEN Das grundlegende (ursprüngliche) Interesse der Bourgeois ist also die Freiheit, über ihre Arbeit sowie über die Produktionsmittel und -produkte zu verfügen; das ist ihr Endziel. Um es zu erreichen, ist wiederum die politische Unabhängigkeit der privaten Eigentümer notwendig, sowohl voneinander als auch von jemand anderem, also die verschiedensten Freiheiten (die Bewegungs-, Rede-, Versammlungsfreiheit usw.) und Rechte, nur jetzt rein politischer Art. Das ist sozusagen ein Zwischenziel der Bourgeoisie (die Voraussetzung für die Verwirklichung des Endziels), und danach strebt diese Klasse. Wie kann sie jedoch ihre Träume in der Praxis realisieren?

         Dazu ist es erstens notwendig, alle diese Freiheiten und Rechte als verbindliche Normen des Gemeinschaftslebens zu deklarieren, geeignete Spielregeln zu entwickeln sowie Gesetze zu verabschieden, die die öffentliche Ordnung entsprechend bestimmen. Zweitens ist es notwendig, die tatsächliche zwanghafte Durchsetzung dieser Gesetze zu gewährleisten. Beides wird maßgeblich durch professionelle Verwalter, nämlich den Staatsapparat, durchgeführt. Die Hauptaufgabe der Bourgeoisie besteht daher darin, die Kontrolle über diesen Apparat zu übernehmen (ich erinnere daran, dass dies für Bürokraten verständlicherweise nicht relevant ist).

         Und wie kann diese Aufgabe gelöst werden? Grundsätzlich natürlich durch die Verstärkung der Bourgeoisie. Sie kann nicht einmal daran denken, sich die Bürokraten unterzuordnen (und sie damit in Beamte zu verwandeln), ohne dass die Bourgeoisie eine ausreichende Kraft erlangt (bezüglich solcher Faktoren wie z.B. Kopfstärke, Zusammenhalt, Reichtum, Bewaffnung usw.) Dies ist die notwendige Voraussetzung, jedoch reicht sie allein nicht aus. In diesem Fall werden die Bürokraten, wie vorher erwähnt, bestenfalls gezwungen sein, auf die Bourgeoisie in ihrer bonapartistischen Politik Rücksicht zu nehmen (z.B. entsprechende Gesetze zu verabschieden), aber im Grunde genommen werden sie in der Praxis nach wie vor in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgen (u.a. bei der Erfüllung dieser Gesetze, nach dem Prinzip „Den Freunden alles, dem Rest das Gesetz"). Damit der Staatsapparat zu einem gehorsamen Diener der Bourgeois wird und für sie und nicht für sich selbst arbeitet, ist zusätzlich zur reinen Potenz auch ein spezielles System der Unterwerfung von Bürokraten nötig.

         Dabei muss das (wie ebenfalls schon angemerkt wurde) ein System sein, das die Verwalter eben nur der Bourgeoisie unterordnet, mit gewissen Präferenzen in dieser Hinsicht für die besagte Klasse, mit der ausschließlichen Kontrolle über die Staatsbeamten in ihren Händen, unter Ausschluss aller anderen konkurrierenden sozialen Schichten (wenn es diese gibt).

         Die Ausarbeitung und Durchsetzung eines solchen politischen Systems bildet das Wesen des Prozesses, wenn die Bourgeoisie die Macht in der Gesellschaft ergreift und erhält (die politische Revolution ist dabei nur eine Form der Verwirklichung dieses Inhalts). Was ist das für ein System?

2. Der Widerspenstigen Zähmung: Die direkte Unterordnung

SPEZIELLE („EGOISTISCHE") TEILE UND DER ALLGEMEINE TEIL Ich fange an mit der Unterwerfung der Verwalter im allgemeinen Sinne, d.h. mit Maßnahmen und Handlungen, die sie keiner konkreten Klasse (in unserem Fall der Bourgeoisie), sondern einer beliebigen regierten Klasse unterordnen. Ich erkläre, was ich damit meine.

         Wie alle anderen Klassen, die eigentlich keine Bürokraten sind, verfolgt die Bourgeoisie bei der Unterordnung des Staatsapparats in der Tat zwei Ziele. Einerseits will sie damit das wichtigste und sogar das einzige Mittel erlangen, die Gesellschaftsordnung zu etablieren und aufrechtzuerhalten, die für sie persönlich von Vorteil ist. Hier ist eben das Monopol einer bestimmten Klasse auf dieses Instrument und dementsprechend der Teil des politischen Systems wichtig, der das gewährleistet (indem alle anderen Konkurrenten aus dem Weg geräumt werden).

         Andererseits aber löst die besagte Unterordnung auch die Aufgabe, die Apparatschiks selbst als eine Klasse zu zähmen, die auch die Dominanz in der Gesellschaft beansprucht; dabei handelt es sich um eine sehr mächtige und gefährliche Klasse. (Der Staatsapparat wird hierbei nicht mehr als ein Instrument, sondern als Feind angesehen). Bevor die Bourgeois die Kontrolle über die Verwalter monopolisieren, muss diese Kontrolle im Kampf der konkurrierenden Klassen erst einmal überhaupt etabliert werden. Sonst würde das bedeuten, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Daher haben alle konkreten politischen Herrschaftssysteme bestimmter Klassen von Nicht-Verwaltern neben ihren „egoistischen" Fragmenten notwendigerweise auch den gemeinsamen Teil einer rein antibürokratischen Orientierung. Diesen allgemeinen Teil, d.h. seine Bestandteile, sollten wir zuerst betrachten.

DIE ROLLE DER SELBSTVERWALTUNG Das radikalste und wirksamste antibürokratische Mittel ist natürlich der Austausch der professionellen Verwaltung der Gesellschaft gegen die Selbstverwaltung der Massen. Dazu ist folgendes erforderlich:

1)   Ein ausreichendes Niveau der politischen und allgemeinen Kultur der Massen;

2)   Eine gewisse (wirtschaftliche, politische, kulturelle, informationstechnische etc.) praktische Verbundenheit der Massen (durch das Vorhandensein dieser ersten beiden Merkmale wird, nebenbei bemerkt, nichts anderes als die Zivilgesellschaft definiert);

3)   ein bestimmter technischer Ausrüstungsstand, der die genannte Verbundenheit erleichtert und intensiviert.

         Das Anwachsen jedes dieser Parameter und umso mehr aller Parameter erhöht das Potenzial der Selbstverwaltung, also die Fähigkeit der Mitglieder der Gesellschaft, organisatorische Probleme, denen sie gegenüberstehen, selbst zu lösen, ohne entsprechende Fachleute heranzuziehen. Dabei ist das genannte Wachstum, je nach der Entwicklung der Gesellschaft, natürlich und unvermeidlich, und deswegen erweitern sich ständig die Möglichkeiten und der reale Umfang der Selbstverwaltung. Die Bourgeoisie unternimmt auch einiges in diesem Bereich. Sie geht dabei natürlich viel weiter als die vereinzelten Bauern, indem sie den Bürokraten den (im Vergleich zu den Bauern) größeren Teil ihrer funktionalen Aufgaben und der damit verbundenen Befugnisse nimmt.

         Das ist jedoch kein Ausweg aus unserer Situation. Erstens rein formal nicht: Der Übergang zur Selbstverwaltung ist die Verdrängung, die Zerstörung des Staatsapparats, aber nicht etwa eine Methode, ihn den Regierten unterzuordnen, was wir hier jedoch offenbar behandeln wollten. Zweitens (und das ist das Wichtigste) ist die genannte Verdrängung der professionellen Verwaltung bis heute recht selten vorzufinden. Es ist unwahrscheinlich, dass sie jemals endgültig sein wird, also dass die Notwendigkeit einer solchen Verwaltung je vollständig aufgehoben wird. Es kann auch schlimmer kommen: Die Entwicklung der Gesellschaft, die die Erweiterung der Selbstverwaltung hervorbringt, erzeugt ja gleichzeitig im ähnlichen, wenn nicht in schnellerem Tempo einen wachsenden Bedarf, diese Entwicklung zu regeln. Die Kultur, die Verbundenheit und die technische Ausrüstung von Mitgliedern der Gesellschaft nehmen sicher in der historischen Perspektive zu, aber gleichzeitig wächst auch die Komplexität der Gesellschaft und damit die Schärfe und die Anzahl der organisatorischen Probleme, die zu lösen sind. Der Bedarf an professioneller Verwaltung steigt hierbei letztlich eher an. Die Selbstverwaltung wächst nur absolut, nach ihrem eigenen Umfang, aber nicht relativ, nicht nach ihrem Anteil am allgemeinen Umfang der Verwaltungstätigkeit, die sich noch schneller aufbläht. Daher war und ist die Dringlichkeit der Aufgabe groß, die Verwalter den Regierten unterzuordnen. Sie bleibt offensichtlich noch lange aktuell (wenn nicht überhaupt, solange es die Menschheit gibt).

ZWEI ARTEN VON MASSNAHMEN Die Aufgabe wird grundsätzlich im Rahmen von zwei Ansätzen durch folgende Maßnahmen gelöst: a) direkte Kontrolle des Staatsapparates und b) dessen relative Abschwächung (einschließlich der Methoden einerseits der Abschwächung der Apparatschiks selbst und andererseits der Stärkung der Regierten; das ist, wie verständlich, eine Frage der Verteilung von Kraftfaktoren). Behandeln wir sie also der Reihe nach.

WÄHLBARKEIT Die erste und wichtigste Maßnahme der direkten Kontrolle des Staatsapparates ist die Wählbarkeit seiner Mitglieder (natürlich eine reale, funktionierende Wählbarkeit und nicht ihre Profanation, wie das im modernen Russland der Fall ist). Im sechsten Vortrag wurde festgestellt, dass der Staatsapparat von denjenigen dominiert wird, die die Kader ernennen. Die Wahlen sind eigentlich mit einer Ernennung gleichzusetzen, außer dass diese nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben erfolgt: Die Ernennenden sind nicht die obersten Behörden, sondern die verwalteten Massen selbst, die dementsprechend auch die „Musik“, d.h. den Aktionsplan, bestimmen, dessen Ausführung den Verwaltern anvertraut wird.

         Dabei sollen nicht alle Beamten zur Wahl gestellt werden (obwohl je totaler die Wählbarkeit von Beamten, desto höher ihre Kontrollierbarkeit ist, und im Prinzip sollte man das als Ideal anstreben, wenn man es sich zum Ziel setzt, den Staatsapparat unterzuordnen). Neben diesem Ziel gilt es allerdings auch andere zu realisieren, z.B. öffentliche Ressourcen zu sparen. Die totale Wählbarkeit, ihre technische Ausführung ist extrem aufwendig und kostspielig. Man würde keine Zeit zum Arbeiten haben und es würde nichts zum Leben geben, wenn man nichts anderes tun würde als seine Führer zu wählen.

         Noch wichtiger ist die Effektivität der Verwaltung, mit welcher eine totale Wählbarkeit schlecht kombinierbar ist. Erstens aufgrund der Unfähigkeit der meisten Wähler, die berufliche Eignung bestimmter Spezialisten angemessen zu beurteilen, die für die Verwaltung verschiedener Lebensbereiche einer komplexen Gesellschaft erforderlich sind. Zweitens, da die Verwaltung an sich eine gewisse innere Hierarchie im Apparat, die Unterordnung der Unteren unter die Oberen und somit eine gewisse Abhängigkeit der Ersteren von den Letzteren erfordert, die nur durch Ernennung gesichert werden kann. Wenn die oberen Schichten der Bürokratie sich jedes Mal an die Massen der Regierten wenden müssten, um die untauglichen Unteren zu ersetzen (was einen langen und komplizierten Prozess der Neuwahl einleiten würde), dann würde das alle Verwaltungsaktivitäten blockieren. Die totale Wählbarkeit ist daher in der Praxis unzweckmäßig.

         Um alle gesellschaftlich wichtigen Ziele zu erreichen (also nicht nur die Unterordnung des Staatsapparats, sondern auch die Effektivität seiner Arbeit, die Einsparung von Ressourcen usw.), ist daher ein gewisser Kompromiss von Wählbarkeit und Ernennung nötig. Genauer gesagt, ist die Wählbarkeit hierbei nur in Bezug auf Schlüsselposten angebracht (wenn es um die wesentliche Amtsgewalt geht). Idealerweise sollte die Wählbarkeit in den Grenzen maximal sein, die von den Möglichkeiten der Gesellschaft und vom Bedarf einer guten Verwaltung festgelegt werden (die natürlich überall sehr unterschiedlich sind und die vor allem durch das Entwicklungsniveau einer Gesellschaft bestimmt werden). Ein „Rezept“ kann nur in allgemeiner Form gegeben werden.

DIE VERRINGERUNG DER ZEIT ZWISCHEN DEN WAHLEN (DIE INTENSIVIERUNG DER WÄHLBARKEIT) Dort, wo es die Wählbarkeit gibt, ist sie selbstverständlich nur da vorhanden, wo die gewählten Verwalter ihre Posten für eine klar begrenzte Zeit, und sei es auch auf Lebenszeit, bekleiden. Hauptsache, dass diese Posten in keiner Weise vererbt werden, sondern dass es Neuwahlen gibt. Von welcher „Wählbarkeit“ sollte sonst die Rede sein? Sie existiert dann einfach nicht.

         Je kürzer dabei die genannte Frist ist, je öfter die Neuwahl der Beamten erfolgt, desto mehr hängen sie von den Wählern (von der verwalteten Bevölkerung) ab und desto höher ist folglich ihr Fokus auf den Schutz der Interessen der Letzteren. Je öfter die Wahlen durchgeführt werden (was in diesem Fall das Gleiche ist wie von den Verwaltern Rechenschaft zu fordern), desto deutlicher sind die Verwalter dem Volk untergeordnet (und folglich „treu“), alles andere gleichgesetzt: Das ist ja nur einer der Faktoren. Demgegenüber ist die Verlängerung der Amtszeit ein Schritt zur Bürokratisierung der Macht. Die Wahl auf Lebenszeit ist in diesem Sinne die extreme und schlechteste Variante (von all denen, bei denen die Wählbarkeit überhaupt noch vorhanden ist; die Vererbung ist hierbei natürlich überhaupt jenseits des „Normalfalls“). Allerdings wird manchmal, in Ausnahmefällen, doch die Wahl auf Lebenszeit angewandt, u.a. in Bezug auf die höchsten Richterämter. Das wird wiederum durch die Notwendigkeit rechtfertigt, eine Reihe anderer wichtiger Ziele (außer der Unterordnung der Verwalter unter die Regierten) zu erreichen.

         Das Vorhandensein dieser anderen Ziele (die sich letzten Endes zur Deckung des gleichen Bedarfs der konkreten Verwaltung zusammenfassen lassen) ruft auch in diesem Fall einen weiteren Kompromiss hervor, diesmal bezüglich der Festlegung der optimalen Frist für die Erfüllung der entsprechenden Dienstpflichten (ich möchte daran erinnern, dass es oben um einen Kompromiss zwischen der Wählbarkeit und der Ernennung ging, also wer gewählt und wer ernannt werden sollte). Diese optimale Frist sollte einerseits recht kurz sein, um durch eine lange Kontrolllosigkeit keine übermäßige Entfremdung der Verwalter von den Regierten zu fördern. Andererseits sollte sie jedoch lang genug sein, um eine effektive Lösung konkreter Verwaltungsaufgaben nicht zu beeinträchtigen (von denen jede verständlicherweise bestimmte Bemühungen und einen bestimmten Zeitaufwand erfordert).

REGLEMENTIERUNG Die zweite Methode, um den Staatsapparat den Regierten unmittelbar unterzuordnen, ist die detaillierte Reglementierung seiner Aktivitäten und allgemein des Funktionierens der Gesellschaftsordnung, also eine entwickelte Gesetzgebung. Wo es keine Gesetze gibt, d.h. keine strengen Vorschriften darüber, was in verschiedenen Situationen zu tun ist, was verboten und was erlaubt ist, bleibt natürlich alles den Verwaltern überlassen. Ihr Wille wird in einer solchen Situation zum einzigen Wegweiser und der alleinigen Autorität. Die Zwangsjacke der Gesetze jedoch bindet die Apparatschiks an Händen und Füßen, verengt das Feld ihrer Willkür, schiebt diese in einen bestimmten Rahmen. (Daraus folgt übrigens, dass die unterentwickelte bzw. scheinheilige Gesetzgebung in konkreten Gesellschaften Kennzeichen ihres bürokratischen Wesens sind. Dort, wo Gesetze nicht erfüllt werden, sind eindeutig Bürokraten an der Macht, und umso deutlicher dort, wo es gar keine Gesetze gibt).

Dabei sollen diese Gesetze im Idealfall selbstverständlich erstens keinen bürokratischen, sondern einen zivilen Charakter haben, also sie sollen nicht die Interessen der Verwalter, sondern der Regierten schützen. Allerdings muss man sagen, dass ein beliebiges Gesetz antibürokratisch ist, weil es zwangsläufig eine rechtliche Leere ausfüllt und so die absolute Willkür der Herrschenden begrenzt. Es wird die Grundlage für Demonstrationen von Bürgern geschaffen mit der Forderung: „Erfüllt die Verfassung!" Am ungehemmtesten fühlt sich die Bürokratie da, wo es überhaupt keine Gesetze gibt, wo alles durch bloße Gewalt entschieden wird. In der Tat ist die einzige rein pro-bürokratische Festlegung: Der Wille der Bürokraten wird zum Gesetz erklärt (die oberste Instanz ist hierbei verständlicherweise der Wille ihres obersten Führers, des Zaren-Alleinherrschers).

Die detaillierte Reglementierung als eine Maßnahme für die Kontrolle des Apparats funktioniert zweitens nur bei dessen erfolgreicher Unterdrückung durch eine ganze Reihe anderer Maßnahmen (begonnen mit der schon erwähnten Wählbarkeit bis hin zu den Maßnahmen, die weiter unten behandelt werden). Ohne diese obligatorische Hilfe sind alle Gesetze eine Fiktion, eine Nebelwand, denn sie werden einfach nicht erfüllt. Sie sind nur als ein Teil dieses Komplexes wirksam; unter dieser Bedingung erhöhen sie jedoch die Effektivität des gesamten Systems erheblich. (Das Gleiche gilt übrigens auch für alle anderen antibürokratischen Maßnahmen, die hier beschrieben werden: Keine davon hat für sich allein eine Aussicht auf den Sieg über die Bürokratie; es muss eine ausreichende Menge von ihnen geben).

3. Die Schwächung der Verwalter

Wenden wir uns nun den Möglichkeiten zu, den Staatsapparat zu schwächen, und fangen wir an mit seiner absoluten (eigenen) Schwächung.

SAMSONS KAHLSCHEREN Die erste, einfachste und offensichtlichste Maßnahme hierbei ist es, den Apparatschiks den Teil von Kraftfaktoren, Befugnissen und Ressourcen zu entziehen, die sie sich gesetzwidrig angeeignet haben, nicht um die Gesellschaft effektiv zu verwalten, sondern ausschließlich um ihre Herrschaft zu etablieren und zu festigen. Zu solchen „Ausschweifungen" gehören z.B.:

a)   ein übermäßiges zahlenmäßiges Wachstum der Verwalter, d.h. die berüchtigte „Aufblähung der Kader“ (im heutigen Russland machen die Verwalter, samt ihren Familien, etwa ein Drittel der Bevölkerung aus);

b)   eine Vielzahl von „Tigern“, „Steinadlern“[37] usw. (wie gerne identifizieren sie sich doch mit Raubtieren bzw. -vögeln!), kurzum interne Truppenteile und Spezialeinheiten, die dazu da sind, „Unruhen“, d.h. Auftritte und Proteste der unzufriedenen Bevölkerung, zu unterdrücken und aufzulösen;

c)   alle Arten von Verboten und Beschränkungen der sozialen Tätigkeit, die Reglementierung von Versammlungen und Demonstrationen, die Zensur und andere Werkzeuge der Vernichtung von unerwünschten Medien, die obligatorische Registrierung des Wohnortes, die Ausstellung von Visa für Reisen ins Ausland usw. usf.

Alle diese und viele andere rein „protektive“ Konstrukte und „Stützen“ der bürokratischen Regime können und müssen beseitigt werden. Sie müssen den Verwaltern nicht einfach genommen und dem Volk im Rahmen der Erweiterung seiner Selbstverwaltung übertragen, sondern sie müssen für immer vernichtet, liquidiert werden, weil, ich wiederhole, sie für die Verwaltung überhaupt nicht, sondern lediglich für die Herrschaft der Verwalter erforderlich sind.

DIE VERWURZELUNG DER VERWALTER Die zweite Methode der Schwächung des Staatsapparats ist die obligatorische Rotation seines Personals (zumindest in Schlüsselpositionen). Die oben erwähnte periodische Neuwahl von Beamten ist das Wesen der Verlängerung oder Nichtverlängerung des Vertrauensvotums für sie, abhängig vom Erfolg ihrer Aktivitäten während der Zeit zwischen den Wahlen (aus der Perspektive der Wähler). Dies trägt natürlich dazu bei, sie im richtigen „Tonus“ zu halten, kann allerdings nicht in angemessener Weise verhindern, dass sich die Apparatschiks an bestimmten Orten verwurzeln und dass dabei ihr Zusammenhalt bei der Behauptung ihrer Klasseninteressen wächst. Schließlich bedeutet die reine Wählbarkeit (bei einer beliebigen Periodizität) nur die Möglichkeit der Amtsenthebung bestimmter Beamter. Das ist jedoch kein Muss: Sie können mehrere Male (unbegrenzt) wiedergewählt werden. Dies führt jedoch zur Bildung von bürokratischen Clans. Das Ersetzen der Ernennung durch die Wählbarkeit (für Schlüsselpositionen) erschwert natürlich diesen Prozess, hebt ihn (bei der unvermeidlichen teilweisen Erhaltung der Machthierarchie im Staatsapparat) allerdings nicht vollständig auf. Je länger jemand einen bestimmten Führungsposten bekleidet, desto mehr Verbindungen knüpft er an, desto mehr Leute setzt er ein, die von ihm persönlich abhängig und die ihm persönlich treu sind. Darum wächst seine sogenannte administrative Ressource“ (politische Macht). Im Laufe der Zeit können in einem solchen Fall auch regelmäßige Wahlen zu einer bloßen Fiktion werden.

Man kann dieses Übel dadurch bekämpfen, dass es einer beliebigen Person verboten wird, einen Posten länger als eine bestimmte Zeit zu bekleiden, auf diesen Posten mehr als zweimal gewählt zu werden oder diesen länger als fünf Jahre zu bekleiden (es ist klar, dass alle Zahlen relativ sind). Ich wiederhole, es geht um die obligatorische Absetzbarkeit von Apparatschiks in Schlüsselpositionen, nachdem eine bestimmte Zeit ihres Dienstes abgelaufen ist. Dabei ist klar, dass je kürzer dieser Zeitraum (bzw. je geringer die erlaubte Anzahl von Wahlen) ist, desto wirksamer ist dieses Mittel gegen die genannte „Krankheit“. Deswegen versuchen alle Diktatoren auf eine beliebige Art und Weise, die o.g. Beschränkung zu umgehen oder diese ganz abzuschaffen (wenn sie in der Gesetzgebung der von ihnen regierten Gesellschaften vorhanden ist).

Übrigens wurde diese Maßnahme noch von bürokratischen Führern der Antike und des Mittelalters erfunden und in ziemlich großem Umfang praktiziert. Sie kämpften auf diese Weise gegen den Separatismus ihrer Statthalter in den Regionen, indem diese alle zwei bis drei Jahre von ihren Stammplätzen entfernt und an andere Orte versetzt wurden, um die Verbindungen zur Bevölkerung und dem unteren Verwaltungsapparat, die sie in der Zwischenzeit hergestellt hatten, zu beenden. Die gleiche Politik wurde bekanntlich von Stalin betrieben, nur viel härter und blutiger. Er begnügte sich nicht damit, seine Handlanger immer wieder auf neue Posten zu versetzen; er vernichtete sie direkt zusammen mit ihren Clans durch Repressalien. Das sind allerdings Exzesse, die mit den Besonderheiten des bürokratischen politischen Kampfes zusammenhängen (sowohl im Allgemeinen, als auch in dieser konkreten Situation und bei diesem konkreten Führer mit all seinen „Eigentümlichkeiten”). In unserem Fall sind solche „Exzesse" verständlicherweise unnötig. Wir müssen nur anmerken, dass eine ständige Rotation die Bildung von Clans sowie die Herstellung persönlicher Bindungen im Staatsapparat verhindert und dadurch einen Faktor seiner Stärke wie den inneren Zusammenhalt unterminiert.

MAN SOLL NICHT ALLES IN EINEN TOPF WERFEN Das nächste wichtige Verfahren, das Wasser auf die gleiche Mühle gießt, das also die Einheitlichkeit des Staatsapparats zerstört und, mehr noch, einzelne Verwaltergruppen einander gegenüberstellt, ist die sogenannte Gewaltenteilung. Hierbei wird das Lieblingsprinzip der Bürokraten „Divide et impera” gegen sie selbst angewandt.

Dies ist sicher nur in gewissen Grenzen möglich, also insoweit es die Ausführung konkreter Verwaltungsfunktionen nicht beeinträchtigt. Natürliche Grenzen, die eine solche mehr oder weniger schmerzfreie Einteilung des Staatsapparats zulassen, liegen hauptsächlich in drei Bereichen: a) dem beruflichen, b) dem branchenmäßigen und c) dem regionalen.

Im ersten Fall werden die Verwalter nach ihren Funktionen aufgeteilt und gruppiert. Traditionsgemäß (im Rahmen der klassischen Theorie) werden so die Gesetzgeber (diejenigen, die Gesetze entwickeln und verabschieden), die Exekutive (diejenigen, die die praktische Umsetzung dieser Gesetze sicherstellen sowie die konkrete Politik im Rahmen dieser Gesetze durchführen) und die Richter gruppiert (diejenigen, die das Handeln von Menschen, einschließlich der Apparatschiks selbst, bewerten: Inwieweit werden die Gesetze eingehalten; falls erforderlich, werden entsprechende Strafen verhängt). Aber das ist keineswegs eine erschöpfende Liste, sondern nur eine grobe Verallgemeinerung, die (als praktizierte Politik) nur in den frühen Etappen der Entwicklung der Gesellschaften ausreichte (als die klassische Theorie geschaffen wurde). Eine weitere Verkomplizierung der Gesellschaften diversifizierte selbstverständlich auch ihre Verwaltung. So haben sich heutzutage darüber hinaus die Funktionen der Kontrolle, der Untersuchung von Verbrechen, der Verteidigung der Rechtsordnung usw. zu einer gesonderten bedeutenden Position herauskristallisiert. Es haben sich also in der Tat neue Machtbereiche herausgebildet, die völlig unabhängig sein können. In diesem Zusammenhang ist eine neue, detailliertere Gewaltenteilung notwendig.

Im zweiten Fall (der jedoch nur als eine besondere Richtung der beruflichen Differenzierung des Apparates betrachtet werden kann) gibt es eine sekundäre Aufteilung (Spezialisierung) von Vertretern aller aufgelisteten funktionalen Einheiten (Gesetzgeber, Exekutive, Richter, Aufsichtsbeamte usw.) nach Branchen. Mit der Entwicklung der Gesellschaft wächst, wie bereits erwähnt, die Bandbreite der erforderlichen Verwaltungstätigkeit. Der Staatsapparat wird immer weiter in die Verwaltung von Wirtschaft, Finanzen, Bildung, Gesundheitswesen, Kultur und anderen Bereichen involviert, die Bedeutung der Massenmedien und des Internets im Leben nimmt zu usw. Das alles bereitet auch den Boden für die weitere Aufspaltung von Verwaltern in voneinander unabhängige Gruppen von Funktionären (also macht es möglich und notwendig). Auf diese Weise (um ein aktuelles Beispiel aus dem heutigen Russland anzuführen) können und sollten das Straf-, das Zivil- und das Schiedsgericht voneinander getrennt werden.

Im dritten Fall (den wir regional genannt haben) ist nicht die Teilung von „Branchen", sondern von „Stockwerken" der Macht gemeint: Wie viele von ihnen gibt es überhaupt oder kann man (wenn nötig) mehr davon kreieren – auf dem lokalen, regionalen, Stadt- und Bundesniveau, in den Ober- und Unterhäusern des Parlaments usw. Auch hier ist es notwendig, dass alle von ihnen in substanzieller Weise unabhängig voneinander sind, dass sie also keine einheitliche Struktur darstellen, als Klasse fragmentiert sind (und das nicht zu Lasten der Effizienz des gesamten Verwaltungsprozesses).

DAS WESEN DER SACHE Ich gehe noch einmal darauf ein, wozu das alles nötig ist. Die allgemeine Aufgabe besteht hierbei darin, eine übermäßige Zentralisierung der Macht, ihre Konzentration in einer Hand und dementsprechend die gefährliche Stärkung der Machthaber zu verhindern. Man sollte zum Beispiel eine Situation ausschließen, in der diejenigen, denen die Ausführung der Gesetze übertragen ist (die Exekutive), diese zugleich verabschieden und sogar als Richter fungieren (und dabei judizieren, wie sie wollen, weil bei dem genannten Szenario alles in der Tat diesen „universellen” Beamten ausgeliefert wird; sie haben die volle Macht). Oder, ein anderes Beispiel, wenn ein Finanzmanager gleichzeitig die Produktion, die Armee, die Massenmedien u.a.m. verwaltet. Es ist klar, dass eine solche Konzentration von Ressourcen und Befugnissen (sprich von Kraftfaktoren und Möglichkeiten, die Gesellschaft zu beeinflussen) in einer Hand entsprechende Apparatschiks drastisch stärkt und diese zu den eigentlichen Platzhirschen, den Herren der Gesellschaft macht. Es ist notwendig, die Elemente der Macht (sowie die Faktoren, die den Machtbesitz sichern) zwischen verschiedenen (und voneinander unabhängigen) Verwaltergruppen zu verteilen.

Das Gleiche trifft zu auf lokale und zentrale Apparatschiks. Sind die Ersteren den Letzteren völlig untergeordnet, sind die lokalen Verwalter lediglich einfache Vollstrecker des Willens ihrer Vorgesetzten, untere Glieder der hierarchischen Verwaltungspyramide, dann liegt tatsächlich die ganze Macht in den Händen des Zentrums und letzten Endes des höchsten Hierarchen, und es handelt sich um eine übliche bürokratische Struktur. Es ist notwendig, diese irgendwie zu brechen, das Gesamtvolumen der Macht in Stücke zu teilen, diese zwischen den höheren und niedrigeren Instanzen zu verteilen, indem die Dominanz und das Diktat durch eine von ihnen (natürlich hauptsächlich der höchsten) ausgeschlossen wird, damit der Staatsapparat statt einer einzigen fest geballten Faust eine Hand mit in verschiedene Richtungen gespreizten Fingern darstellt. Dieses Ziel aber wird eben durch die Gewaltenteilung erreicht.

DAS SYSTEM DER WECHSELSEITIGEN EINSCHRÄNKUNGEN UND GEGENGEWICHTE Darüber hinaus hat diese Maßnahme einen weiteren positiven Effekt, sozusagen einen Bonus. Bei der Aufsplittung des Staatsapparats in getrennte funktionale und sonstige Gruppen wird die einfache Zersplitterung seiner Kräfte auch durch die Divergenz der Interessen dieser Gruppen und damit durch ihre Konfrontation, durch den Kampf um einen „Platz an der Sonne" ergänzt. Darum wird das System der Gewaltenteilung auch das System der wechselseitigen Einschränkungen und Gegengewichte genannt.

         Alle voneinander abgetrennten Gruppen von Verwaltern (der gleichen Gesellschaft) sind zur Konfrontation verdammt, weil jede von ihnen wenigstens daran interessiert ist, ihre Vollmachten zu behalten (um ihren Erhalt zu sichern). Ihr Maximalinteresse besteht jedoch darin, sich die Vollmachten der anderen anzueignen (um ihre Macht zu erweitern). Aus diesem Grunde gibt es zwischen ihnen ein ständiges Gerangel. Dabei hat natürlich die Exekutive die größten Chancen zu gewinnen: Sie ist die zahlenmäßig stärkste, homogenste Gruppe, die bewaffnet sowie praktisch an die Bevölkerung gebunden ist und über die größten materiellen und sonstigen Ressourcen verfügt. Gesetzgeber und Richter zum Beispiel sind in jeder Hinsicht schwächer und können bei allem Begehren nicht mit gleichem Erfolg rechnen. Daher ist es für sie lebenswichtig, den unteren Apparatschiks nicht zu erlauben, ihre Vorteile zu nutzen, um die totale Macht zu ergreifen. Ihre dringlichste Aufgabe besteht darin, die gefährlichen Konkurrenten zumindest innerhalb von gesetzlich festgelegten Grenzen zu halten. Das veranlasst diese schwachen Glieder des Apparates, die Aktionen der Starken strikt zu kontrollieren und deren Übergriffe zu bekämpfen.

         Dies bezieht sich auf alle „Branchen" und „Stockwerke" des Staatsapparats. Der für die Bürokratie übliche Krieg aller gegen alle um die Vorherrschaft in der Gesellschaft wird bei der Gewaltenteilung einerseits intensiviert (indem auf diesem Feld zusätzliche Sonderspieler erscheinen), andererseits wird der Krieg in für die Regierten günstige, kontrollierbare Bahnen gelenkt (nämlich dadurch, dass sie Verbündete oder, wenn Sie so wollen, eine fünfte Kolonne im feindlichen Lager erlangen).

        Deshalb (ich fasse zusammen) ist die Gewaltenteilung recht nützlich. Aber wie kann sie realisiert werden?

DIE SICHERSTELLUNG DER GEWALTENTEILUNG Wie können die Verwalter überhaupt aufgeteilt werden? Erstens durch eine enge Spezialisierung, also durch die Gliederung in Gruppen nach den Arten ihrer Verwaltungstätigkeit (soweit diese einzeln durchgeführt werden kann und soweit sie aufgrund ihres Spezialisierungsgrades erforderlich ist). Zweitens durch die Sicherstellung der gegenseitigen Unabhängigkeit dieser Gruppen voneinander, und zwar nicht nur in Form ihrer Spezialisierung, sondern auch nach allen anderen wesentlichen Parametern (so dass keine von ihnen auf irgendeine Weise den anderen untergeordnet ist). Die Gewaltenteilung wird genau über diese beiden Arten realisiert.

         Die erste besteht in der Aufteilung der funktionalen Aufgaben und der damit verbundenen Befugnisse der „Branchen" und „Stockwerke" der Macht, natürlich nicht in quantitativer, sondern in qualitativer Hinsicht. Damit ist nicht die Situation gemeint, dass manche Menschen einfach mehr Rechte haben als andere und sie somit dominieren, sondern eine Situation, in der jeder seine eigenen Befugnisse hat. Für professionelle Abteilungen des Staatsapparats ist dies am einfachsten, weil es ihrer Natur entspricht. Die Befugnisse der Gesetzgeber bestehen eben darin, Gesetze zu verabschieden und die der Richter nach ihnen zu richten und die der Exekutivbehörden sicherzustellen, dass sie erfüllt werden. Es ist jedoch wichtig, dass keine dieser Einheiten die Grenzen des fremden Territoriums verletzt, also dass die Verfügungen des Präsidenten (des Premierministers) nicht identisch mit den Gesetzen sind und diese nicht ersetzen (geschweige denn sie negieren), sondern dass sich die o.g. Verfügungen völlig in dem für sie umrissenen Rahmen befinden. Die Gesetzgeber sollten sich wiederum nicht mit der konkreten Verwaltung beschäftigen und den Ministern, den „Silowiki“ usw. keine Anweisungen geben.

         Es ist schwerer, die Befugnisse verschiedener „Verwaltungsstockwerke" so zu diversifizieren, dass sie sich nicht kreuzen. Aber auch hier ist es durchaus möglich, die Befugnisse so zu gestalten, dass das eine zu einem Ressort gehört, das andere zu einem anderen und das dritte zu einem dritten, wobei sich diese keineswegs in die Angelegenheiten der jeweils anderen einmischen. Dabei sollte Priorität den unteren Ebenen des Apparats gehören - in dem Sinne, dass nur jene Aufgaben (und die damit verbundenen Befugnisse) an die Spitze übertragen werden sollten, die nicht auf niedrigeren Ebenen ausgeführt werden können. Alles, womit die unteren Ebenen zurechtkommen, darf nur deren Angelegenheit sein. Die einzige restriktive Bedingung besteht darin, dass den allgemeineren Interessen dadurch kein Schaden zugefügt wird, dass „privatere" Interessen verfolgt werden. Dies ist jedoch ein Anliegen der einschlägigen Gesetzgebung und der Behörden, die ihre Umsetzung kontrollieren.

         So wird, ich wiederhole, die Aufteilung des Staatsapparats in (funktional) autarke Verwaltungsgruppen, in kleine „Pyramiden" gesichert, die jeweils für einen entsprechenden Bereich zuständig sind. Die Unabhängigkeit all dieser Strukturen (verschiedener „Branchen" und „Stockwerke" der Macht) wird dagegen hauptsächlich durch die Wählbarkeit jedes Verwaltungsbereichs erreicht (das zur Absonderung „verurteilt" ist), also dadurch, dass die entsprechende gegenseitige Ernennung beseitigt wird. Diejenigen, die direkt von der Bevölkerung gewählt werden, verdanken die Tatsache, dass sie ihre jeweiligen Posten bekleiden, nur den Wählern und hängen nun in diesem (entscheidenden!) Sinne von keinem mehr ab, auch nicht voneinander. Wenn jedoch eine „Branche" eine andere ernennt, z.B. die Exekutive (Präsident) die Richter, dann wird die zweite „Branche" in der Tat von der ersten kontrolliert - mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Das Gleiche geschieht auch in den Fällen, wenn lokale Führer (sei es die Exekutive, die Legislative, die Justiz oder welche „Branche" auch immer) nicht von der Bevölkerung gewählt, sondern von oben ernannt werden (vielleicht sogar von ein und derselben Instanz, die sich alle untertan gemacht hat). In diesem Fall konzentriert sich die volle Justiz-, Gesetzgebungs- oder Exekutivgewalt (wenn nicht alle gleichzeitig) de facto auf den oberen Ebenen dieser „Branchen" (wenn nicht gar in e i n e m Machtzentrum). Das stärkt sie und den Staatsapparat als Ganzes in ihrer Konfrontation mit den verwalteten Massen (im unvermeidlichen Kampf für ihre egoistischen Klasseninteressen).

         Um die gegenseitige Unabhängigkeit aller genannten Einheiten sicherzustellen, ist außerdem ihr autonomer Zugang zu materiellen, finanziellen, informativen und anderen Ressourcen von Bedeutung, die für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben erforderlich sind. Mit anderen Worten, zusätzlich zu ihrer direkten „politischen" Unterordnung sollte auch eine „wirtschaftliche" Abhängigkeit voneinander ausgeschlossen werden. Diese Aufgabe wird durch die entsprechende (gesetzlich festgelegte) Verteilung der Steuereinnahmen, den Budgetplan, die Zuteilung von Eigentum und dergleichen gelöst.

DOPPELFUNKTIONEN Um das Bild zu vervollständigen, gehe ich kurz auf eine clevere Art und Weise ein, den Apparat (durch seine Teilung) zu schwächen: Die Bildung von redundanten Strukturen darin. Ich meine die Schaffung von mehreren Apparaten dort, wo es dem Charakter der Tätigkeit nach möglich ist. Sie sollen ein und dieselbe Funktion erfüllen und somit einerseits miteinander (in der Ausführung dieser Funktion) konkurrieren und andererseits einander kontrollieren bzw. gegeneinander intrigieren.

         Dies gilt jedoch überwiegend nur für Institutionen, die den gewaltmäßigen Rechtsschutz und die Kontrolle bzw. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sicherstellen. Für die Judikative, die Legislative und selbst für die praktische Verwaltung sind solche Doppelfunktionen ausgeschlossen, da dort Ungereimtheiten eher schädlich sind (es ist zum Beispiel unmöglich, verschiedenartige Gesetze zum gleichen Thema zu erlassen: Das würde die Ordnung zerstören).

         Ein typisches Beispiel für solch eine o.g. Teilung ist daher die parallele Existenz von Polizei und Sheriffsystem in den Vereinigten Staaten.

DIE STÄRKUNG DER REGIERTEN Alle genannten Methoden sind, daran möchte ich erinnern, direkte Maßnahmen, d.h. sie schwächen den Apparat absolut. Nicht weniger wichtig (in Bezug auf seine relative Schwächung) sind jedoch Maßnahmen zur unmittelbaren Stärkung der Regierten. Dabei geht es, ich betone das, eben um „Maßnahmen", also um etwas, was extra zu diesem Zweck unternommen, in das politische System als eines seiner Elemente eingebettet wird, und nicht etwas, was die genannte Verstärkung auf natürliche Art und Weise hervorgerufen hat. Immerhin ist klar, dass die Stärke der Regierten auch so zunimmt, ohne dass sie durch gewisse spezielle Vorgehensweisen erhöht wird. So nehmen die Kopfstärke, der Zusammenhalt, die Selbstorganisierung, das wirtschaftliche Gewicht und die Kultiviertheit beispielweise der Bourgeoisie zu, ohne dass sie zusätzlich durch bestimmte politische Maßnahmen unterstützt werden. Wir interessieren uns hier aber gerade für künstlich herbeigeführte Institutionen, gesetzgeberische Handlungen und sonstige Aktionen, die all das befördern. Diese Maßnahmen werden in Genehmigungs-, Anreiz- und in Methoden unterteilt, die die Kraftfaktoren direkt in die Hände der Massen geben.

         Die Genehmigungsmaßnahmen bedeuten, dass (im Rahmen des oben beschriebenen „Kahlscherens von Samson") verschiedene bürokratische Hindernisse auf dem Weg zur Stärkung der Regierten aufgehoben werden. Zu den wichtigsten unter diesen Maßnahmen gehört wohl die Genehmigung für alle zurechnungsfähigen und volljährigen Bürger, Waffen frei zu erwerben, zu tragen und, wenn nötig, zu benutzen (auch zum Schutz vor Übergriffen des Staates), also die umfassende Bewaffnung des Volkes. Damit hängt auch die Legalisierung von freiwilligen bewaffneten Gruppierungen von Bürgern an deren Wohnort zusammen (von der Art „Nationalgarde", Selbstverteidigungseinheiten usw.), die das staatliche Monopol auf Rechtsschutzeinheiten brechen und teilweise sogar (vor allem in der frühbürgerlichen Zeit) als Gegengewicht und Ersatz einer Berufsarmee auftreten.

         Die zweite Gruppe (Anreizmaßnahmen) besteht nicht mehr in der Beseitigung von Hindernissen; es handelt sich hierbei um einen direkten kräftigen Anschub für entsprechende Prozesse, um diese in die richtige Richtung zu lenken. Dazu gehören die Einführung verschiedener Präferenzen für die Selbstorganisierung der Massen (z. B. Begünstigungen für Vertriebs- und sonstige Genossenschaften), die Förderung des Wachstums von Bildung und Kultur der Bevölkerung usw.

         Die dritte Gruppe von Maßnahmen umfasst die direkte Übertragung verschiedener Ressourcen an die Bürger, die Entwicklung technischer Mittel zu ihren Gunsten, die die Vereinfachung und Verbesserung des Wahlprozesses sowie der Technologien seiner Kontrolle u.a.m. ermöglichen.

IDEOLOGIE UND BILDUNG Schließlich ist es unmöglich, die wichtigen Mittel zu ignorieren, die gleichzeitig die Regierten stärken und die Verwalter schwächen, wie die entsprechende (a) ideologische Bearbeitung und (b) Bildung dieser und jener (also aller Mitglieder der Gesellschaft). Dabei wird unter der ersteren die Herausbildung der antibürokratischen Weltanschauung und politischen Kultur und unter der anderen das Anerziehen von Anstand und allgemeiner Kultiviertheit gefasst. Die gesellschaftliche Atmosphäre und der Charakter des dominierenden Wertesystems haben ebenfalls eine große Bedeutung.

         Wenn den Bürgern von klein auf Misstrauen gegenüber den Beamten und die Bereitschaft eingehämmert wird, gegen deren Missbräuche und Machtübergriffe anzukämpfen, verringern sich die Chancen der Bürokratisierung stark. Wo Menschenwürde, Ehrlichkeit, echter Patriotismus (wenn der Wohlstand der einfachen Menschen und nicht des „Staates“ Vorrang hat) und andere sozial vorteilhafte Eigenschaften weit verbreitet sind (einschließlich der Beamten als Fleisch vom Fleisch des eigenen Volkes), sind auch die Anforderungen an den Staatsapparat (und damit die Kontrolle über ihn) höher, und er selbst ist nicht so deutlich geneigt, ausschließlich seine eigenen egoistischen Klasseninteressen zu verfechten.

4. Das Problem der Armee

       Es lohnt sich, das Problem der Isolation (von anderen „Branchen“ der Macht) und der Unterstellung der Armee dem Volk separat zu behandeln.

ZWECK UND BEDEUTUNG DER STREITKRÄFTE Zunächst möchte ich klarstellen, dass die Armee keinesfalls ein Instrument zur Verwaltung der Gesellschaft, sondern ein Instrument zum Schutz vor äußeren Bedrohungen ist (die gewaltmäßige Aufrechterhaltung der inneren öffentlichen Ordnung wird durch die Polizei und ähnliche Strukturen realisiert). Immerhin kann die Armee mit ihrer Kraft durchaus als ein Instrument eingesetzt werden, um die Macht zu ergreifen und zu erhalten. Die traditionelle klassische Bürokratie baute, wie bereits erwähnt, ihre Herrschaft vor allem genau darauf auf, dass sie sowohl ein Verwalter-, als auch ein Militärstand war. Die spätere Verkomplizierung des Staatsapparates (die mit der entsprechenden Verkomplizierung der Gesellschaft einherging) verursachte jedoch nicht nur dessen Aufspaltung in spezialisierte Schichten von Gesetzgebern, Richtern, Sachbearbeitern usw., sondern auch die Professionalisierung des Militärwesens, das Aufkommen der Armee als eines eigenständigen gewaltmäßigen Apparates.

         Daher wurde es zu einer zentralen Frage, wessen Partei dieses „Monster“ ergreift, wer es kontrolliert. Im Grunde genommen ist ja die Armee der entscheidende Kraftfaktor. Wenn sie dem Staatsapparat oder einer seiner Abteilungen untergeordnet ist (die damit selbstverständlich an die erste Stelle rückt und alle anderen zu einfachen Vollstreckern ihres Willens herabstuft), sind in diesem bedauerlichen Fall alle in diesem Vortrag beschriebenen antibürokratischen Maßnahmen einfach nicht realisierbar: Der Bürokratismus ist unvermeidlich. Wenn aber die Armee irgendwie vom Volk kontrolliert wird oder sich zumindest zeitweilig auf seine Seite schlägt, erhält das Volk die wichtigste Trumpfkarte in die Hand und kann den Bürokraten die Bedingungen vorschreiben. (Vergessen wir jedoch nicht, dass die Kraft alleine nicht ausreicht, um den Staatsapparat vollständig zu beherrschen: Gewaltandrohung bzw. -anwendung kann bestenfalls zum Bonapartismus führen; eine ständige Kontrolle der Verwalter und ihrer Politik wird nur durch die gleichzeitige Einführung ihrer Wählbarkeit, Rotation und anderer Elemente der hier behandelten nichtbürokratischen politischen Systeme erreicht).

         Doch auch das ist nicht das Wichtigste, denn die Armee ist nicht nur ein Kraftfaktor, eine teilnahmslose Waffe in der Hand dieser oder jener Klasse, die sie zur Etablierung ihrer Herrschaft einsetzt. Sie ist an sich eine Abteilung des Staatsapparates und somit nicht aus Dummbach. Die Armee ist stark genug, um aus sich selbst heraus in der Lage zu sein, die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen und zu erhalten, wobei sie absolut jedem Paroli bieten kann. Beispiele dafür gibt es in der Geschichte wie Sand am Meer, sowohl in der klassischen Epoche des Bürokratismus, in der nahezu die Mehrheit der Bürokratien aus militärischen Führern mit ihrem Kriegsgefolge heraus entstanden war (beginnend mit Sargon dem Großen[38]), als auch in der späteren (einschließlich der neuesten) Zeit, als sich das Militär bereits vom reinen Verwaltertum zu einem separaten Berufsstand abgesplittert hatte. Militärjuntas (und als Junta wird ein Regime bezeichnet, in dem die Macht in der Hand der Armee liegt) sind ein ziemlich häufiges Phänomen in den letzten einhundert bis zweihundert Jahren. Erinnern wir uns an Atatürk, Suharto, Pinochet, die griechischen Obristen, die südkoreanischen Generäle usw. (Und da ist es noch gut, bemerke ich nebenbei, wenn sich diese Usurpatoren - im modernen und nicht im primär-bürokratischen Verständnis der Rechtmäßigkeit der Machtübernahme - als mehr oder weniger kultivierte Menschen und Patrioten ihrer rückständigen Gesellschaften erweisen, die versuchen, diese auf den rechten Weg zu leiten, indem sie eine fortschrittliche probürgerliche Politik betreiben. Die wilde Stammessoldateska Afrikas (wahre „Affen mit Granaten") macht zumeist nichts anderes, als alle samt und sonders zu berauben und niederzumetzeln und ständig humanitäre Katastrophen hervorzurufen).

         Daher stellt das Vorhandensein der Armee eine ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft dar: Sie ist ein Faktor, der die Chancen ihrer Bürokratisierung erheblich verstärkt. Wie lässt sich das bekämpfen?

„CHIRURGISCHE" UND „THERAPEUTISCHE" LÖSUNGEN DES PROBLEMS Die radikalste Behandlungsmethode ist hier natürlich eine direkte operative Entfernung des Tumors, sprich der vollständige Verzicht auf die Armee, ihre Auflösung als Sonderstruktur. Das ist dann eine Lösung nach dem Motto: „Kein Mensch, kein Problem."[39]; allerdings ist sie ziemlich utopisch, denn es ist bekannt, dass jemand, der seine eigene Armee nicht ernähren will, eine fremde ernähren muss. Jedenfalls war es zu allen vergangenen Zeiten so. Heute hat sich die Situation etwas verbessert. Die vollständige Entmilitarisierung einzelner kleiner Länder (die sowieso den großen Staaten nicht widerstehen könnten, selbst wenn sie über Armeen verfügten) ist möglich - vorausgesetzt, sie werden von den vereinten Kräften der Gemeinschaft zivilisierter Gesellschaften oder von deren Vertretern verteidigt (ein Beispiel dafür sind die Beziehungen der USA zu Japan und Südkorea). Aber das ist eher eine Ausnahme.

         Im letzten halben Jahrhundert ist wohl eine andere, therapeutische Methode realistischer geworden. Sie läuft darauf hinaus, dass die Streitkräfte von defensiv-offensiven zu rein defensiven umorganisiert werden und nicht mehr dazu geeignet sind, Territorien zu erobern und die Bevölkerungen (einschließlich der eigenen) zu unterwerfen. Die technische Fähigkeit dazu entstand mit dem Aufkommen von Massenvernichtungs- („Vergeltungs-"), insbesondere Atomwaffen. Der Besitz solcher Waffen bietet eine verlässliche Garantie gegen Angriffe von außen, und die Ausrüstung der Armee nur mit solcher Art Waffen (zusätzlich zu einer natürlichen kardinalen Verringerung ihrer Kopfstärke) macht diese Struktur weniger gefährlich hinsichtlich ihrer Fähigkeit, die Macht in der Gesellschaft zu ergreifen. Aber auch das liegt leider immer noch eher im Bereich des Erwünschten als des Tatsächlichen. Die meisten Staaten beeilen sich heutzutage nicht sonderlich, ihre aggressive Außenpolitik aufzugeben, und darum bleibt der offensive (eroberungssüchtige) Charakter ihrer Armeen größtenteils erhalten.

         Daher sind beide „Heilmethoden“, die Armee im Zaum halten, auch heute noch kaum realisierbar, und das kann nicht ignoriert werden, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wir das Thema hier nicht in Bezug auf besonders günstige (gegenwärtige oder zukünftige) Bedingungen behandeln, sondern theoretisch, in einem beliebigen Zusammenhang und eher mit der Neigung dazu, diese Dinge in ihrer „Urzeit“, nämlich der Zeit der primären Machtergreifung durch die Bourgeoisie zu betrachten.

         Daher werde ich im Weiteren (nachdem ich mich vorher schon zu beiden Themen geäußert habe, um historische Perspektiven vorzugeben) nur von folgendem ausgehen, dass: (a) die Gesellschaft über eine Armee verfügt und (b) dieser eine besonders gefährliche Offensivform eigen ist. In diesem Szenario besteht die vordringliche Aufgabe darin, die Streitkräfte unter die Kontrolle des Volkes zu bringen, damit diese weder zu einem unabhängigen Machtakteur noch zu einem Instrument eines anderen Teils des Staatsapparats werden (lassen Sie mich daran erinnern, dass wir vorerst nur über die rein antibürokratische Motivation des politischen Systems reden: Das Problem der monopolartigen Unterordnung der Armee einer bestimmten verwaltungsfremden Klasse oder, im Gegensatz dazu, ihrer vollständigen Klassenneutralisierung ist ein Kapitel für sich). Was lässt sich hier tun und was nicht (von den uns bereits bekannten allgemeinen Maßnahmen)?

DEPOLITISIERUNG Ich beginne mit einer einfachen, leicht zugänglichen Sache, - mit der Reglementierung, also mit der gesetzlichen Beschränkung der Tätigkeit der Armee. Die naheliegende Aufgabe der Armee besteht darin, die Gesellschaft vor äußeren Bedrohungen zu schützen, - und sonst nichts. Alles andere betrifft sie nicht, darf sie nicht betreffen. Diese Regel (Anforderung) ist normalerweise in konkreten Gesetzen, beginnend mit der Verfassung, in Form eines kategorischen Verbots für das Militär festgelegt, erstens Waffen gegen das Volk zu richten und zweitens überhaupt irgendwie in innere Angelegenheiten der Gesellschaft einzugreifen, einschließlich jeglicher Beteiligung an der politischen Tätigkeit, - bis hin zum Entzug des Wahlrechts von Militärangehörigen (und auch Reserveoffizieren – für die Dauer einer bestimmten Zeit, bis sie sich vollständig in Zivilisten verwandeln). Dabei geht es sowohl um das aktive Wahlrecht (das Recht zu wählen), als auch, umso mehr, um das passive Wahlrecht (das Recht, gewählt zu werden).

         Dabei werden diese Verbote selbstverständlich nicht nur proklamiert: Verstöße gegen diese Regeln werden (nach derselben Gesetzgebung) vor allem durch die unverzichtbare und unverzügliche Entlassung der dagegen Verstoßenden aus der Armee und darüber hinaus durch ihre strafrechtliche oder administrative Verfolgung (tat- und schuldangemessen) bestraft.

DIE ARMEE IST KEINE POLIZEI Die Sache mit der Wählbarkeit der Militärangehörigen selbst ist komplizierter. Einerseits bedeutet die Wählbarkeit, wie gesagt, eine direkte Kontrolle der Apparatschiks und andererseits die Förderung ihrer Schwächung, indem die Unabhängigkeit der zu wählenden Funktionäre voneinander bei der Gewaltenteilung gesichert wird. Bei der Armee geht das jedoch wegen ihrer Abwehrfunktion nicht. Ich betone, ihrer Abwehr- und nicht Schutzfunktion, also einer Funktion, die nicht nur das reibungslose Funktionieren einer bestimmten Gesellschaftsordnung, sondern die Existenz der Gesellschaft an sich sicherstellt. Die Polizei (und die ihr ähnlichen „inneren" Gewaltstrukturen) kann man so oder so „drehen“, um ihre Kontrollierbarkeit durch die Bevölkerung zu sichern, u.a. indem ihre Kommandoträger fast bis ins siebente Glied hinein gewählt werden. Der dadurch für die Wirksamkeit der Polizeiarbeit verursachte Schaden (wenn überhaupt) ist erstens für die Gesellschaft insgesamt nicht tödlich. Zweitens wird dieser ausgeglichen durch den Vorteil für die Massen, dass diese Strukturen ihren Interessen untergeordnet werden.

         Bei der Armee ist das nicht so. Sie widersetzt sich dem äußeren sozialen Umfeld, dessen Aggression beliebig hart sein kann und daher eine ständige Bereitschaft zu einer ebenso harten Reaktion und eine ständige totale Mobilisierung der Kräfte erfordert. Die Priorität liegt hierbei nicht in der Unterordnung unter die Interessen des Volkes, sondern in seiner Sicherheit, seiner Rettung überhaupt. Deswegen müssen die Streitkräfte einer starken, geballten (und dabei sehr wendigen) Faust ähneln, die kraftvoll und hart auf die Zähne schlagen kann. Jede Abschwächung ist hierbei unerwünscht; sie ist nicht grundsätzlich unmöglich, sondern einfach schädlich und gefährlich. Die Wählbarkeit ist jedoch ein den Apparat „entspannendes" Mittel, und darum ist dessen Anwendung in diesem Fall mit einem großen Fragezeichen versehen. Sehen wir uns das genauer an.

LIEBER WENIGER, DAFÜR BESSER Die Wirksamkeit der Wählbarkeit als Mittel, den Apparat dem Volk unterzuordnen, wird von zwei Hauptpunkten beeinflusst: Wen man wählt und wer wählt. Im Allgemeinen ist der Erfolg der genannten Unterordnung des Apparats umso größer, je mehr Posten wählbar sind und je breiter der Wählerkreis ist (was Letzteres betrifft, ist die Qualität der Wähler, d.h. ihre politische Kultiviertheit, ebenfalls wichtig). Aber die Armee „widersetzt sich“ diesen beiden Ansätzen.

         Um eine geballte und wendige „Faust“ zu sein, bedarf sie vor allem einer einheitlichen Führung, einer strengen Disziplin, der strikten Unterordnung der unteren Ränge unter die höheren usw., also eine Situation, in der man nicht einmal daran denken kann, Befehle in Frage zu stellen. All das ist mit der massenhaften Wählbarkeit von Armeekommandeuren unvereinbar (ob vom Volk, ob vom Militär selbst, beginnend bei den Mannschaften). Hier sind eine klare bürokratische Hierarchie und dementsprechend maximal die Ernennung als die einzig richtige Art und Weise erforderlich, um Strukturen aufzubauen, damit nicht die Untergebenen ihre Vorgesetzten wählen, sondern die Vorgesetzten ihre Untergebenen ernennen. Die gesamte Macht muss sich dabei letztendlich ganz oben, in den Händen einer einzigen Kommandozentrale, eines Generalstabs und sogar eines einzigen Oberbefehlshabers konzentrieren, und es kann nur in Bezug auf diese Spitze von einer gewissen Wählbarkeit die Rede sein.

         Das bezieht sich auf die Frage, wen man hinsichtlich der Armee wählen dürfte. Wie erkennbar, ist das kaum jemand (im Vergleich zu den zivilen Verwaltern). Und wie steht es damit, wer wählt?

        In dieser Hinsicht ist es zunächst einmal wichtig, dass die Wähl­er selbst keine Militärangehörigen sind, sondern externe Zivilisten, damit die Armee von der Gesellschaft kontrolliert werden kann und nicht in sich geschlossen ist, sich nicht in eine besondere Kaste verwandelt. Ansonsten kann Cäsarismus nicht vermieden werden.

         Außerdem ist hier eine drastische Verengung des Kreises der Wähl­er erforderlich, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wiederum wegen der Kampfbereitschaft. Die Stärke der Armee liegt nicht nur in ihrer Geschlossenheit und Mobilität, sondern auch in der Professionalität ihrer Soldaten, Offiziere und insbesondere der höheren Befehlshaber, also eben der Spitze, die gewählt werden soll. So kann zum einen die Auswahl dieser Spezialisten nicht den Laien anvertraut werden, und zum anderen gilt: Je breiter der Kreis der Wähl­er, desto niedriger das durchschnittliche Niveau ihrer Kompetenz, also die Fähigkeit, die Professionalität und die Talente der Stellenbewerber angemessen zu bewerten (alles andere gleichgesetzt, also wenn die Wähl­er nicht extra ausgewählt werden). Daher die Schlussfolgerung: Der genannte Kreis muss eng genug sein (oder, mit anderen Worten: Die Wahl der militärischen Führer ist nicht die Sache des ganzen Volkes).

         Zweitens folgt dies aus der Stärke der Streitkräfte als einer Tatsache (und nicht als einem Ziel, das erreicht werden muss). Der Oberbefehlshaber führt eine gewaltige Streitmacht und kann sie gelegentlich missbrauchen, um selbst an die Macht zu kommen. Diese Gefahr steigt erheblich, wenn er auf diesen Posten vom Volk gewählt wird, denn dadurch erweist er sich einerseits als eine ebenso maßgebliche Figur wie der Präsident, der Parlamentspräsident und andere oberste Wahlbeamte des Staates. Somit scheidet er de facto aus dem Unterstellungsverhältnis ihnen gegenüber aus (selbst wenn das de jure in der Gesetzgebung festgelegt ist). Andererseits ist es dann äußerst schwierig, diesen Oberbefehlshaber, wenn nötig, abzusetzen, vor allem genau dann, wenn er cäsaristische Neigungen manifestiert: Die Einführung seines Kultes in der Armee, die Ernennung von Untergebenen aufgrund ihrer persönlichen Loyalität (und nicht aufgrund ihrer beruflichen Eignung und ihres Bestrebens, der Gesellschaft zu dienen) u.a.m. Es ist wichtig, dies alles rechtzeitig zu bemerken und umgehend zu unterbinden, und zwar unbedingt durch die Amtsenthebung eines solchen „Führers“. Wenn er jedoch von der Bevölkerung gewählt wird, erfordert das einen kritischen Zeit- und Arbeitsaufwand, und darum sind hier die Chancen potenzieller Cäsaren bis um das Zehnfache höher.

         Es folgt aus diesen Überlegungen, dass der militärische Oberbefehlshaber nicht von allen, sondern von einem eher engen Personenkreis gewählt werden sollte. Die Wahlmänner sollten hier nicht nur in der Lage sein, den richtigen Spezialisten fachkundig auszuwählen, sondern auch seine Aktivitäten ständig auf ihre Wirksamkeit und politische Loyalität hin zu überwachen und ihn gegebenenfalls (d.h. beim Nachweis entweder seiner Inkompetenz oder seiner gefährlichen politischen Ambitionen) schnell loszuwerden.

IN DER NOT FRISST DER TEUFEL FLIEGEN Die Armee erfordert also eine grundsätzliche Reduzierung der Anzahl der zu Wählenden und der Wähler, wobei beides in krassem Widerspruch zur Aufgabe steht, die Streitkräfte dem Volk unterzuordnen. Die Masse der Militärangehörigen wird hierbei nur von ihren Kommandeuren und letztendlich vom Oberbefehlshaber kontrolliert, und dieser hängt wiederum nicht von der Gesamtbevölkerung, sondern von einem bestimmten engen Kreis privilegierter Wahlmänner ab, - eine unangenehme Situation, die aber leider nicht zu vermeiden ist (jedenfalls nicht vollkommen). Das Maximum, das hier erreicht werden kann (außer den o.g. Bildungs-, Reglementierungs- sowie „chirurgischen" und „therapeutischen" Maßnahmen), ist zu versuchen, die daraus resultierenden Bedrohungen irgendwie zu minimieren. Die allgemeinen Ansätze sind dabei wie folgt:

Erstens ist es ratsam, nicht nur einen, sondern mehrere hochrangige Militärbeamte zu wählen, wobei die Aufgaben und Befugnisse unter ihnen ordnungsgemäß verteilt werden sollten (es geht also auch hier um eine machbare Gewaltenteilung): Zum einen die Teilung reiner Kommandeurs-, Stabs- (eine Art gesetzgebender) und wirtschaftlicher Gewalten u.a.m. und zum anderen die Gewaltenteilung nach Truppengattungen. Sicherlich könnten und müssten auch verschiedene Aufklärungs-, Kontroll-, ideologische (?) und ähnliche Strukturen dazu gehören. Schließlich bietet sich einfach an, dass sich zum Oberbefehlshaber (womit ich hierbei lediglich den Feldherrn meine, der unmittelbar die Truppen und die Militäreinsätze leitet) ein ziviler Verteidigungsminister gesellt, mit einerseits all seiner unzureichenden Professionalität, mangelnden Beliebtheit bei den Truppen, Abhängigkeit von den Wahlmännern, kurzen Zeit zwischen den Wahlen, obligatorischen Absetzbarkeit usw., aber andererseits mit dem Recht der zweiten (und bedeutungsmäßig sogar ersten) Unterschrift in den wichtigsten Fällen, die nicht mit der direkten Truppenführung zusammenhängen, und vor allem bei der Berufung des Schlüsselpersonals.

Zweitens sollte der Wahlmännerkreis nicht zu eng sein. Vor allem darf er niemals aus einem Kreis zu einem Punkt werden, indem nur einer Person, zum Beispiel dem Präsidenten, das Recht der „Wahl“ des Oberbefehlshabers und seinesgleichen übertragen wird. Es ist klar, dass es dann in der Tat gar keine Wahlen mehr gibt, sondern nur eine Ernennung, und dass dieser oberste Personalleiter selbst zum Hauptbewerber für die Rolle des Diktators wird.

         Aber wenn es auch reale Wahlmänner gibt, sollten sie, ich wiederhole, nicht zu klein an Zahl sein, um die Möglichkeit eines Komplotts bzw. einer Gruppenusurpation der Macht auszuschließen. Dazu ist es erforderlich, den genannten Kreis mindestens bis auf einige hundert Personen zu erweitern (je mehr Menschen sich an einer Sache beteiligen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich raufen). Dabei bezieht sich das unbedingt auf Menschen, die:

a)   sich unabhängig voneinander oder von einer dritten Kraft (außer dem Volk) zusammengefunden haben;

b)   die Position der Wahlmänner nur für eine begrenzte Dauer und nicht auf Lebenszeit besetzen (damit sich für sie auf lange Sicht ein anderes Schicksal und andere Interessen abzeichnen).

         Für diese Rolle ist beispielsweise durchaus ein gewähltes Parlament geeignet, und es ist sinnvoll, diesem die genannte Funktion anzuvertrauen (um keine überflüssigen hoch spezialisierten Vertretungsorgane zu schaffen).

         Schließlich drittens ist es sinnvoll, die Gewaltenteilung auch in dieser Hinsicht durchzuführen, so dass einige (fachkundigere) Instanzen für die professionelle Auswahl von Stellenbewerbern und andere (zahlenmäßig größere) für ihre unmittelbare Ernennung (also für die Billigung oder Ablehnung der von den ersten Instanzen vorgeschlagenen Kandidaturen) zuständig sind. Dabei kann zum einen ein akzeptabler Kompromiss zwischen den einander zuwider laufenden Anforderungen an die Kompetenz und Kopfstärke der Wahlmänner erreicht werden. Zum anderen ergibt sich dann, dass die gewählten Beamten nicht von einer, sondern mindestens von zwei Instanzen abhängig sind, und das verringert natürlich das Risiko, dass eine von ihnen die Macht usurpiert. (Ich betone jedoch extra, dass hierbei nicht nur die zweite, sondern auch die erste Aufgabe gelöst wird; diese Maßnahme wird nämlich oft nur verwendet, um einfach die Gewaltenteilung zwischen den Abteilungen des Staatsapparates durchzuführen, ohne Rücksicht auf ihre Kompetenz). Man kann sich zum Beispiel leicht ein System vorstellen, in dem der Verteidigungsminister Kandidaten für das Amt des Oberbefehlshabers auswählt und das Parlament diese billigt oder ablehnt (es versteht sich von selbst, dass der Wille des Parlaments ausreicht, um diesen abzusetzen), oder wenn der Oberbefehlshaber Kandidaturen für die Kommandierenden der Truppengattungen vorschlägt und der Verteidigungsminister diese billigt oder ablehnt usw., quer durch die gesamte Kette von Ernennungen. (Übrigens ist der gleiche Ansatz auch bei der Ernennung von zivilen Beamten sinnvoll – dort, wo es möglich ist).

5. Abschließende Überlegungen

DIE DEMOKRATIE All das Genannte bildet so oder so ein System (a) der Gestaltung, (b) der Befugnisse und (c) der Arbeitsbedingungen des Verwaltungsapparates, der als Demokratie bezeichnet wird. Dies ist natürlich kein sehr guter Name, denn er wird (aus dem Griechischen) wörtlich als die „Macht des Volkes" übersetzt. Allerdings rechtfertigt kaum eine real existierende Demokratie diesen Namen (genauso wenig wie den Namen „Macht der Mehrheit“). Das Wesen dieses Systems definiert sich keineswegs dadurch, wem genau (der Mehrheit oder der Minderheit, der Bourgeoisie oder dem Proletariat usw.) die Macht zufällt, sondern wem sie genommen wird, es besteht also im Antibürokratismus des Systems, - und in nichts anderem .

Das Wesen dieses Systems, ich betone das, besteht genau in den genannten Maßnahmen, und nicht etwa zum Beispiel in den politischen Freiheiten und in der Gleichheit an sich. Die Rede-, Religions-, Versammlungsfreiheit usw. sowie das Recht eines jeden auf Arbeit, Erholung, Bildung und sonstige „Lebensfreuden" sind keine Elemente des politischen Systems, sondern nur Werte und Ziele, allgemeine Erklärungen, selbst wenn sie in der Verfassung niedergelegt sind. Sie müssen aus den Wünschen und Worten in Taten umgesetzt werden, und dafür muss man an der Macht sein. Und hier kommt es auf die Unterordnung des Staatsapparates an, also auf die Maßnahmen, die dies sicherstellen, und eben diese (und nur diese) bilden in ihrer Gesamtheit (und, ich wiederhole, nur in ihrem allgemeinen antibürokratischen Teil) ein demokratisches politisches System.

Dementsprechend reduziert sich auch die politische Kultur, auf deren wichtige Rolle im achten Vortrag so ausführlich eingegangen wurde, entscheidend (auf jeden Fall wiederum in ihrem allgemeinen, antibürokratischen Wesen) eben auf das Wissen über diese Wege, den Staatsapparat zu zähmen, auf das Verständnis von deren Zweckbestimmung und Sinn sowie auf die Bereitschaft und Fähigkeit, diese in der Praxis anzuwenden.

SUCHET, SO WERDET IHR FINDEN Dabei sollte man allerdings nicht der Illusion verfallen, dass die beschriebenen Verfahren und Mittel die ganze Palette umfassen. Das stimmt nicht, auch nicht bezüglich der zurzeit und früher tatsächlich praktizierten Maßnahmen (ich habe nur die wichtigsten und bekanntesten davon dargestellt), ganz zu schweigen von den möglichen. Die Demokratie (genauso wenig wie jedes andere politische System) ist kein Bronzemonument ihrer Gründerväter, sondern ein lebendiger, sich ständig entwickelnder Organismus.

Dies ist zum einen auf die anhaltende natürliche Verkomplizierung der Gesellschaft zurückzuführen, also einerseits auf die Veränderungen in ihrem funktionalen und sozialen Bereich, auf das Erscheinen grundsätzlich neuer Schichten und Klassen mit ihren besonderen Interessen, Möglichkeiten und Herangehensweisen und andererseits auf die stürmische Entwicklung von Technologien und technischen Mitteln, die die Gesamtsituation, den Charakter der Verwaltung und das Potenzial der Kontrolle des Staatsapparats usw. ausschlaggebend verändern.

Zum anderen trägt das ewige politische Wirken der Massen (einschließlich der Gruppierungen, die sich darauf spezialisieren) dazu bei. Auch wenn sich in der Entwicklung der Gesellschaft gar nichts tut, ist es, falls gewünscht, niemandem verboten, neue Methoden zur Zähmung der Apparatschiks zu finden, und hierbei gäbe es eine Menge zu tun.

Man könnte zum Beispiel auf Anhieb:

Ø  eine deutlich l erhöhte strafrechtliche Verantwortlichkeit von Beamten für Straftaten einführen (dies wird derzeit zum Teil auch getan);

Ø  eine obligatorische Amtsenthebung bei Verstößen gegen das Gesetz vorsehen (heute treten im Westen in solchen Fällen die belasteten Beamten normalerweise selbst zurück; das ist jedoch eine Frage ihres Gewissens und keine gesetzliche Anforderung, sollte aber automatisch geschehen);

Ø  diesen Beamten das aktive Wahlrecht aberkennen (das Recht zu wählen);

Ø  die Massenmedien in eine echte, legitime, von den übrigen „Mächten" getrennte „vierte Macht" verwandeln - dadurch, dass die wichtigsten Informationsressourcen direkt budgetiert und ihre Führungskräfte entsprechend gewählt werden.

Und so weiter. Man könnte auf Wunsch noch viele Dinge ausklügeln, aber in diesen Vorträgen ist das unnötig, weil...

IN DER NOT SCHMECKT JEDES BROT ...das für Russland (wie übrigens auch für die meisten anderen Länder der Welt) nicht relevant ist: Wir haben Wichtigeres zu erledigen als diese Spielereien. Es wäre gut, wenn wir es schaffen würden, mehr schlecht als recht das Bekannte zu realisieren. In den russischen (arabischen, chinesischen u.a.m.) unermesslichen Weiten gibt es ja nichts als Probleme mit der Demokratie. Das Machtsystem ist bei uns leider gar nicht demokratisch.

Es gibt außerdem praktisch niemanden, der sich dieser entsprechenden politischen Kultur rühmen könnte, bis hin zu der Tatsache, dass nach Ansicht der meisten Russen „Demokratie" fast ein Schimpfwort ist. Dieses System wird jetzt bei uns von jedem Hans und Franz lautschallend verunglimpft. Einige tun das aus Unwissenheit und andere böswillig, wobei sie ihre persönlichen egoistischen Ziele verfolgen.

DIE SCHULDLOS SCHULDIGEN Gewöhnlich wird das folgendermaßen begründet: Einige einfältige Leute (oder diejenigen, die sich als solche ausgeben) reden sich heraus, indem sie auf die Gegebenheiten der postsowjetischen Epoche verweisen, als sich die Demokratie in Russland angeblich in all ihrer „lasterhaften Schönheit" zeigte. Unserem naiven, hinterwäldlerischen Volk wird erklärt, dass all der Mist der „stürmischen Neunziger" eben „die Demokratie" heißt. Also assoziiert es die Demokratie eben mit „Dermokratie"[40], obwohl jedem mehr oder weniger verständigen Menschen klar ist, dass es bei uns in jenen Jahren überhaupt keine Demokratie gegeben hat (ganz zu schweigen von den „Nullerjahren"), weder nach dem Charakter des etablierten politischen Systems und noch (umso weniger) nach der Beschaffenheit der Bevölkerung selbst mit ihrer pro-bürokratischen (paternalistischen, Führer-)-mentalität und ihrer politischen Kulturlosigkeit. Solche Beschuldigungen gegen die Demokratie ist also reine Demagogie.

         Eine andere Position wirkt (anscheinend) anständiger, die Position der „theoretisch versierten" Kameraden, die bolschewistische Mantras gegen den „bürgerlichen" Parlamentarismus wiederholen (worunter sie aus irgendeinem Grund hauptsächlich und vor allem die Gewaltenteilung verstehen) und die „Tugenden" des sowjetischen Systems verherrlichen. Die Kommunisten behaupten bekanntlich bis heute, dass die parlamentarische „Schwatzbude" eine Machtform der Bourgeoisie ist (was wiederum nur durch Verweise auf praktische Beispiele westlicher bürgerlicher Staaten „bewiesen" wird). Die Sowjets dagegen seien nach dem Wesen ihrer Institutionen eine Form der realen Demokratie. Auch hier ist alles Lüge und Irrtum, denn das Sowjetsystem ist um das Zehnfache schlechter als jeder (auch dreimal „bürgerliche") Parlamentarismus, im Hinblick auf seine Ausrichtung darauf, den Staatsapparat dem Volk unterzuordnen (mehr dazu weiter unten). Außerdem gibt der Parlamentarismus als solcher der Bourgeoisie keine Herrschaft. Seine kommunistischen „Kritiker" unterscheiden einfach nicht zwischen dem probürgerlichen und dem allgemeinen antibürokratischen Teil des politischen Systems der westlichen Länder (der Parlamentarismus gehört ausschließlich zum letzteren Teil).

WIEDERHOLUNG IST DIE MUTTER DER QUÄLEREI Ich wiederhole: Dieses oder jenes parlamentarische und im Allgemeinen demokratische System wird nicht durch sein eigenes, rein antibürokratisches Wesen, sondern durch äußere Umstände bürgerlich gemacht (bzw. proletarisch oder sonst irgendwie seinem Klassencharakter nach). Die Demokratie an sich ist einfach ein obligates Programm zur Zähmung des Staatsapparats, ein Satz allgemeiner Methoden zu dessen Eindämmung, die eine beliebige Klasse von Regierten (und nicht nur die Bourgeoisie) verwenden kann und muss (wenn sie die Verwalter von Herren zu Dienern machen will).

MAN WIRD UNSACHLICH Eine andere Frage für jede dieser Klassen ist: Wie kann man den genannten Apparat nur sich selbst unterordnen? Wie kann man die Kontrolle darüber monopolisieren und allen anderen Klassen die Macht in der Gesellschaft nehmen?

         Dieses Ergebnis kann logischerweise auf zweierlei Weise erreicht werden: Entweder in einem ehrlichen demokratischen Wettbewerb (also unter den für alle gleichen politischen Bedingungen) aufgrund realer Überlegenheit in Bezug auf Stärke bzw. Geschicklichkeit (politische Kultur), die von den - dem politischen System fremden - Umständen gesichert wird; oder indem auf betrügerische Weise gewisse Präferenzen für jemanden geschaffen werden, indem die Spielregeln zu seinen Gunsten angepasst werden (nicht zum Nachteil ihres allgemeinen antibürokratischen Charakters, sondern nur bezüglich der Auseinandersetzungen zwischen den verwalteten Klassen).

         Im Weiteren steht uns bevor, uns damit auseinanderzusetzen, wie die Bourgeoisie diese Aufgabe der monopolistischen Unterordnung des Staatsapparates bewältigt (unter Berücksichtigung der beiden o.g. Lösungsmethoden).

Vortrag elf. DIE MONOPOLISIERUNG DER MACHT DURCH DIE BOURGEOISIE

DER STICHPUNKT Die Demokratie ist ein System der Unterordnung von Verwaltern unter die Regierten. Die Regierten selbst sind jedoch keineswegs homogen; sie bestehen aus einer Reihe sozialer Gruppen mit unterschiedlichen und sogar gegensätzlichen Interessen. Jede dieser Gruppen kämpft dafür, dass eine für sie vorteilhafte Ordnung etabliert und dann eine entsprechende Politik betrieben wird. Das erfordert die Monopolisierung der Kontrolle über den Staatsapparat. In einer Demokratie heißt das, dass nur Günstlinge dieser Gruppe in ein staatliches Amt gewählt werden können. Wer die Wahl gewinnt, kommt am Ende an die Macht. Deswegen reduziert sich in diesem politischen System alles darauf, diesen Sieg zu garantieren, also auf die Maßnahmen und Faktoren, die den Wahlerfolg dieser oder jener Klasse bestimmen. Wovon hängt dabei der Erfolg ab?

BEDINGUNGEN DES SIEGES Der Erfolg wird durch zwei Hauptumstände bedingt: Zum einen durch die Spielregeln und zum anderen durch das Potenzial der Spieler, also durch das Verhältnis ihrer Kräfte in diesem Spiel. Der Sieg wird durch eine Kombination dieser beiden Faktoren gesichert, die in einem für den Sieg ausreichenden Verhältnis vorhanden sein müssen. Dabei gilt folgendes:

1)   Je kleiner die Differenz der Potenziale der „Spielteilnehmer" ist, desto wichtiger ist die Rolle der Regeln, also dieser oder jener Präferenzen bestimmter Spieler (bei Kräftegleichheit gewinnt derjenige, in dessen Sinne der „Schiedsrichter" befangen ist).

2)   Je geringer das Potenzial eines bestimmten Spielers (A) im Verhältnis zu den Potenzialen seiner Rivalen (B, C usw.) ist, desto größer ist die Vorgabe, die er für den Sieg benötigt.

3)   Je größer, im Gegensatz, das Potenzial von A im Vergleich zu seinen Konkurrenten ist, desto weniger Privilegien benötigt er.

         Jede Klasse kann also in einer Demokratie auf zweierlei Art die Dominanz in der Gesellschaft erreichen (den Staatsapparat in ihren - und nur in ihren - Dienst stellen): a) durch die gesetzgeberische Anpassung der Spielregeln an die eigenen Interessen bzw. b) durch ein reales kraftmäßiges Dominieren auf dem „Spielfeld". Der endgültige Erfolg wird durch die Kombination der beiden Varianten erzielt (mit oder ohne Verlagerung des Schwerpunkts in eine beliebige Richtung). Schauen wir uns das genauer an.

1. Die Anpassung der Spielregeln an die eigenen Interessen

DIE MONOPOLISIERUNG DES WAHLRECHTES Was sind hierbei die Spielregeln? Sie sind das akzeptierte, also de jure legalisierte und de facto realisierte Wahlverfahren. Das Ergebnis der Wahlen hängt vor allem davon ab, wie sie organisiert (durchgeführt) werden. Die einfachste Siegesgarantie ist demnach die Einstellung des Wahlsystems auf die Bedürfnisse einer bestimmten Klasse, die ihr entscheidende Vorteile bringt.

Welche sind das? Abhängig von den Umständen können sie unterschiedlich sein, sowohl nach dem Charakter, als auch nach der Bedeutung. Das Wichtigste dabei ist jedoch immer und überall die monopolistische Anmaßung durch die Mitglieder einer bestimmten Klasse des Rechts, entweder Staatsbeamte zu wählen (das sogenannte aktive Wahlrecht), oder in die Staatsämter gewählt zu werden (das passive Wahlrecht), oder beides zusammen. Jeder dieser Ansätze gewährleistet, dass der Staatsapparat nur von Agenten (Vertretern oder Günstlingen) des genannten Monopolisten besetzt wird.

PRIORITÄT Dabei ist die Monopolisierung des aktiven Wahlrechts wichtiger als die Monopolisierung des passiven Wahlrechts. Derjenige, der ernennt, ist immer wichtiger als derjenige, der ernannt wird. Wenn nur die Mitglieder einer bestimmten Klasse wählen, sind sogar ihre Günstlinge fremder sozialer Natur zuverlässiger als ihre unmittelbaren Vertreter, die von einem breiten Wählerkreis gewählt werden. Im letzteren Fall besteht immer ein hohes Risiko, dass die Klassenmitglieder, die Staatsbeamte geworden sind, die Interessen ihrer Klasse verraten. Entweder bevorzugen sie (sehen sie sich gezwungen, bei hoher politischer Aktivität und Sachkompetenz der Massen), sich auf die Anforderungen der gesamten Wählerschaft auszurichten. Oder (wenn die Kultur des Volkes niedrig und dementsprechend der Populismus wirksam ist, was die Bürokratisierung der Macht ermöglicht) entarten sie einfach zu Bürokraten aufgrund dessen, dass sie eigentlich ihren sozialen Status geändert haben.

DER WAHLZENSUS UND SEINE GRUNDLAGE Und wodurch wird die Monopolisierung des Wahlrechts sichergestellt? Das geschieht dadurch, dass ein entsprechender Wahlzensus eingeführt wird, also dass bestimmte Personen laut Gesetz zu den Wahlen zugelassen werden (oder ihnen das Wahlrecht aberkannt wird).

         Solch ein Wahlzensus ist an sich ein weit verbreitetes Phänomen. Ein Beispiel dafür ist der Alterszensus, also das Recht, erst ab einem bestimmten Alter wählen zu dürfen (manchmal auch nur bis zu einem bestimmten Alter). Dieser Zensus ist in den Wahlgesetzen vieler demokratischer Länder vorhanden. Das Gleiche gilt für Beschränkungen für Handlungsunfähige, Geisteskranke und u.U. Kriminelle. Mancherorts trifft man auch auf den Zensus aus sexuellen, ethnischen und religiösen Gründen, früher war er gang und gäbe.

         All das ist jedoch neutral im eigentlichen sozialen Sinne. Für Klassen sind natürlich andere Ansätze relevant. Der Wahlzensus muss sich hierbei auf Merkmale stützen, die klassenspezifisch sind, also dieser oder jenen Klasse (und nur ihr) innewohnen.

MAN SOLLTE KEIN MITTEL UNVERSUCHT LASSEN Dieses Problem (die Einführung eines beispielsweise probürgerlichen Wahlzensus) kann man zweierlei lösen, negativ und positiv. Im ersten Fall wird den Mitgliedern aller anderen Klassen (sozialen Gruppen) das aktive Wahlrecht entzogen. Die demokratische Ordnung umfasst, wie bereits erwähnt, eine solche Diskriminierung von Militärangehörigen (zumindest vom Kaderpersonal), von Beamten usw. Dies ist nichts anderes als ein negativer (restriktiver) antibürokratischer Wahlzensus. Dadurch werden die Verwalter von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen. Leider geht das nicht in Bezug auf alle anderen eventuellen Konkurrenten der Klasse, die Privilegien beansprucht. Um den Staatsapparat monopolistisch zu beherrschen, ist es bei einem derartig restriktiven Herangehen an die Wahlen erforderlich, jeden der Rivalen separat und nach den ihm eigenen Klassenmerkmalen zu beschränken, und das ist ziemlich mühsam. Die Liste der Personen, denen so das Wahlrecht entzogen wird, kann recht lang sein (je nach der Anzahl der gegnerischen Klassen).

Der zweite (positive) Ansatz ist allgemeiner und somit einfacher. In diesem Fall läuft die Sache darauf hinaus, dass es nur den Mitgliedern einer bestimmten Klasse erlaubt ist zu wählen. Dabei werden nicht diejenigen bestimmt, die nicht wählen dürfen, sondern ausschließlich diejenigen, die es dürfen. Hierbei genügt es, sich auf das Merkmal (die Merkmale) zu beziehen, die dieser und nur dieser Klasse eigen sind.

DIE BESONDERHEIT DER BOURGEOISIE Was ist in dieser Hinsicht für die Bourgeoisie charakteristisch? Wodurch unterscheidet sie sich von den anderen Klassen? Und zwar auf eine Art und Weise, dass man diesen Unterschied bei der Einführung des Wahlzensus, der ihre Dominanz sichert, aufgreifen könnte? Dies ist am ehesten der materielle Wohlstand der Bourgeois. Sie unterscheiden sich von den meisten anderen Klassen vor allem durch ihren Reichtum.

         Allerdings konkurrieren in dieser Hinsicht die Verwalter erfolgreich mit ihnen: Sie sind auch keine notleidende soziale Schicht. Rein formell ist also der Reichtum kein ausschließlich bürgerliches Merkmal. Als Basis für die Zensur des aktiven Wahlrechts arbeitet er jedoch hauptsächlich für die Bourgeoisie. Erstens angesichts ihrer erheblichen zahlenmäßigen Überlegenheit über die Verwalter: Das Bürgertum hat eindeutig mehr Stimmen. Zweitens wegen der Wählbarkeit der Apparatschiks an sich, die sie offensichtlich schwächer macht. Ihre Klassenposition als Privatpersonen ist in einer Demokratie instabil: Heute sind sie Apparatschiks und morgen nicht. Und drittens (und das ist das Wichtigste) ist die erwähnte „Peinlichkeit" (die Identität der Bourgeois und der Verwalter als wohlhabende Klassen), wie wir bereits festgestellt haben, wenn nötig, leicht zu neutralisieren, indem ein entsprechender restriktiver Zensus (nach der Zugehörigkeit zum Beamtentum) eingeführt wird.

         Daher ist für die Bourgeoisie in einer Demokratie der Vermögenszensus das geeignetste und zuverlässigste Mittel der Monopolisierung ihrer Kontrolle über den Staatsapparat. Das bedeutet, dass nur Personen mit einem bestimmten Einkommen oder Wohlstand wahlberechtigt sind (möglicherweise, aber nicht unbedingt, abzüglich der Verwalter). Dieser Zensus wurde und wird von der Bourgeoisie praktisch überall als Hauptinstrument der demokratischen Beherrschung des Staatsapparats (und damit der Macht in der Gesellschaft) angewandt. Das galt vor allem in der frühen Epoche ihrer Herrschaft, während sie noch nicht stark genug war (nicht generell, sondern in einem rein demokratischen Sinne - als „Spieler" bei den Wahlen), einerseits gegen die Beamten und die hochadlige Aristokratie (Nachkommen der früheren Bürokratie) und andererseits gegen die rückständige (nicht marktorientierte) Bauernschaft, gegen die Stadtarmut und sonstige nichtbürgerliche Bevölkerungsschichten.

ZWEI IN EINEM Es ist erwähnenswert, dass die genannte Einschränkung des aktiven Wahlrechts der armen und einkommensschwachen Bevölkerungsschichten in den primären Epochen (als sie am meisten verbreitet war) neben den Präferenzen für die Bourgeoisie auch die Bürokratisierung des Staatsapparates verhinderte. Sie war also, objektiv gesehen, nicht nur ein Mittel für die Reichen, den Armen (im Rahmen der Demokratie) die Macht vorzuenthalten , sondern auch eine antibürokratische (rein demokratische) Maßnahme, die für diese Umstände relevant war. Ohne eine solche Ausschaltung der Armen von den Wahlen, sprich der offensichtlich zurückgebliebenen und politisch unkultivierten Bevölkerung, würden nach den Wahlen zwangsläufig populistische Diktatoren an die Macht kommen. Das passiert auch immer und überall (auch im modernen Russland) bei einem allgemeinen Wahlrecht und einer minderen Qualität der Wählerschaft. Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass in der frühen bürgerlichen Epoche die Einführung des Vermögenszensus ausgerechnet antipopulistische (allgemeindemokratische) Ziele verfolgte (die Hauptsache war wohl, Klassenpräferenzen zu erhalten), aber man erreichte auch dieses wichtige Ergebnis als einen äußerst nützlichen Nebeneffekt.

         Ich wiederhole und betone: Unter bestimmten Umständen (insbesondere wenn die Massen der Wählerschaft unkultiviert sind), können die Zensusbeschränkungen für Wähler (laut denen nur den mehr oder weniger aufgeklärten Schichten das Wahlrecht erteilt wird) nicht nur als Präferenzen für eine bestimmte Klasse (oder für mehrere fortgeschrittene Klassen), sondern als eine allgemeine demokratische Maßnahme erscheinen. Die Demokratie existiert unter solchen Bedingungen überhaupt nur für eine Klasse (für das Bürgertum oder für eine sonstige Klasse). Ihre „Volkstümlichkeit für alle" ist hierbei identisch mit Bürokratismus, also mit der Herrschaft des Staatsapparates, aber nicht des „Volkes" (übrigens gibt es gar kein „Volk" als politisch-wirtschaftliches Phänomen: Das ist höchstens ein Begriff aus dem Lexikon der Ethnologie und der Kulturwissenschaft und nicht der Wissenschaft über den Charakter und die treibenden Kräfte von Gesellschaftsordnungen).

SELBST EIN NOCH SO KLEINER HUND IST DURCHAUS KEINE KATZE Gleichzeitig möchte ich klarstellen, dass jeglicher Zensus (so drakonisch er auch sei) und überhaupt alle Anpassungen der Wahlgesetzgebung zum Nutzen einer nichtregierenden Klasse durchaus  demokratische Maßnahmen sind, denn er vergreift sich nicht an der Wählbarkeit des Staatsapparates selbst, die hierbei nicht hinsichtlich solch (für die Bändigung der Apparatschiks) wesentlicher Parameter wie die Nomenklatur der Wahlämter, der Zeitrahmen für die Ämter (Wahlhäufigkeit) usw., sondern nur hinsichtlich der Zusammensetzung der Wähler beschränkt wird. Die Wählbarkeit als solche wird dadurch keinesfalls negiert. Die Zensur ist nur eine klassenmäßige Anpassung der Wahlordnung und nicht deren Vernichtung; die Zensusdemokratie bleibt eine Demokratie.

         Eine andere Sache ist die Fälschung von Wahlergebnissen unter Verwendung der sogenannten Verwaltungsressource. Das ist schon Machtmissbrauch durch die Apparatschiks mit dem Ziel, die Macht in deren Händen zu behalten, zu monopolisieren. Es ist also kein Mittel im Kampf verschiedener Gruppen von Regierten um die Kontrolle des Staatsapparats (ähnlich dem Zensus), sondern ein Werkzeug der Bürokraten in ihrem Kampf gegen die Wählbarkeit und Demokratie im Allgemeinen, die dann im Ergebnis einfach ausgehöhlt und zu einer Fiktion werden.

         Nun, noch schlimmer kommt es natürlich bei einer Variante der Wahlgesetzgebung, bei der die gesamte Kontrolle über den Wahlprozess in die Hände der Apparatschiks gegeben wird. In diesem Fall ist die demokratisch anmutende Ordnung in Wirklichkeit nur ein umgehängtes Mäntelchen für den ganz gewöhnlichen Bürokratismus.

ZUSÄTZLICHE BESCHRÄNKUNGEN Der Vermögenszensus (insbesondere beim gleichzeitigen Verbot für die Verwalter, sich an den Wahlen zu beteiligen) ist die Hauptpräferenz der Bourgeois, ein unverhohlenes Ausschalten von den Wahlen praktisch aller, außer den Vertretern dieser Klasse. Dies ist eine entscheidende Maßnahme, die den gewählten Staatsapparat ausschließlich der Bourgeoisie unterordnet. Es gibt aber auch andere Maßnahmen, die das begünstigen.

         Im Einzelnen geht es um ähnliche Beschränkungen des passiven Wahlrechts, sowohl unmittelbare (wenn nur Personen mit einem bestimmten Einkommen gewählt werden dürfen - direkter Vermögenszensus der Bewerber), als auch indirekte (wenn ein größeres Geldpfand von Bewerbern bzw. eine beträchtliche Anzahl von Wählerunterschriften erforderlich sind, die diese Bewerber unterstützen). Die Sammlung von Unterschriften ist gewöhnlich ohne entsprechende Kosten (sprich ohne einen gewissen Wohlstand) nicht möglich. Dies sind natürlich nur nebensächliche Maßnahmen, die nur die Kandidatenaufstellung (also das Recht, gewählt zu werden) betreffen. Das ist, wie gesagt, nicht so wichtig wie das Recht zu wählen, behindert aber immerhin auch beträchtlich die Teilnahme der Armen an den Wahlen. Somit handelt es sich hierbei in der Tat ebenso um probürgerliche Maßnahmen.

         Dies sind die Hauptpunkte der Anpassung der „Spielregeln" (also der Wahlordnung) durch die Bourgeoisie zu deren Gunsten.

2. Von den Privilegien zur praktischen Vorherrschaft

WENN MAN DIE MACHT  HAT, BRAUCHT MAN KEINE PRIVILEGIEN[41] Kommen wir nun darauf zurück, dass die Monopolisierung des aktiven und (in geringerem Maße) passiven Wahlrechtes für bestimmte Klassen nur dann dringend erforderlich ist, wenn sie schwächer sind als ihre Wahlgegner (entweder einer von ihnen, oder alle zusammen) und daher den Sieg im fairen Kampf nicht erringen können. Wenn jedoch eine Klasse tatsächlich die mächtigste in der Gesellschaft (oder gar mächtiger als alle anderen Gruppen zusammen) ist, sind für sie solche gesetzgeberischen Tricks nicht mehr nötig. In einer solcher Situation kann diese Klasse ein viel allgemeineres  (ja, sogar universelles!) Wahlrecht zulassen und die Mehrheit (ja, sogar alle!) ihrer anderen „legitimen" (also gesetzlich festgelegten) Präferenzen aufgeben.

         Ich möchte klarstellen: „Kann zulassen" bedeutet sicher nicht „lässt  unweigerlich zu". Es ist klar, dass es immer besser ist, beides, nämlich reich u n d gesund zu sein, statt nur reich oder nur gesund. So kann sich auch die Hegemon-Klasse das ihr Gebührende sowohl gemäß Gesetz (mit Hilfe von Privilegien), als auch mit Gewalt (aufgrund ihrer objektiven Vorherrschaft) nehmen. Ich mache nur darauf aufmerksam, was bereits oben erwähnt wurde, und zwar:

a)   Bei relativer Schwäche einer Klasse (also ihrer geringen Konkurrenzfähigkeit bei den Wahlen) kann sie keineswegs ohne Präferenzen auskommen, und sie ist gezwungen, diese mit allen Mitteln zu erringen.

b)   Bei praktischer Dominanz einer Klasse bei den Wahlen (also großer und umso mehr bei absoluter Konkurrenzfähigkeit) sind Präferenzen für sie nicht so wichtig, und sie kann darauf verzichten (obwohl sie danach natürlich gar nicht strebt; aber in diesem Fall macht es einfach keinen Sinn, für die genannten Privilegien bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen).

Dies gilt voll und ganz auch für die Bourgeoisie. Wo sie offensichtlich stärker ist als alle ihre Wahlkonkurrenten, braucht sie grundsätzlich keine Privilegien. Ich meine, sie sind wünschenswert, aber nicht obligatorisch. Es ist möglich, darauf zu verzichten, ohne dass der Bourgeoisie dann ein Machtverlust (die Niederlage bei den Wahlen und der Verlust der Kontrolle über den Staatsapparat) droht.

DIE STÄRKE BEI DEN WAHLEN Worin drückt sich denn die Stärke in diesem konkreten Fall aus, wenn es nicht darum geht, der Bürokratie anfänglich Macht zu entziehen und eine demokratische Ordnung zu etablieren, sondern um den Wahlsieg, um den Kampf zwischen den nichtregierenden Klassen im Rahmen der besagten Ordnung selbst? Dies ist immerhin ein Wettstreit besonderer Art, bei dem besondere Kraftfaktoren erforderlich sind, wenn man einen Erfolg erzielen will. Genauer gesagt, dieselben, aber nicht in der Konfiguration, wie sie für den Sieg erforderlich sind im üblichen kraftmäßigen Klassenkampf, der in der entscheidenden Phase den Charakter eines offenen militärischen Zusammenstoßes trägt. So sind zum Beispiel hier (bei den Wahlen) die auf dem Schlachtfeld so bedeutenden Kraftfaktoren wie das Niveau der Ausrüstung oder der Ausbildung der Kämpfer eindeutig nutzlos. Der Wahlerfolg wird durch andere Faktoren bestimmt. Welche  sind das?

1)   Erstens eine einfache numerische Vorherrschaft der Klasse, d.h. die Anzahl der Stimmen, die sie hat. Es ist klar, dass es desto leichter ist, seine Handlanger zu fördern, je größer der Anteil der jeweiligen Klasse an der allgemeinen Wählerschaft ist.

2)   Zweitens die politische Bildung der Mitglieder dieser Klasse, ihre Kultur, die Fähigkeit, demokratische Institutionen zu nutzen, das Verständnis der allgemeinen Klasseninteressen. Wie immer in solchen Spielen, besiegt der Geschickte hierbei den Ungeschickten.

3)   Drittens der Organisationsgrad, die Disziplin der Klassenmitglieder, ihre Fähigkeit zum kollektiven Handeln. Die Zerstrittenheit und das Schwanken schwächen natürlich die Klasse und der Zusammenhalt stärkt sie.

4)   Viertens der Charakter der Klassenziele, ihre Attraktivität für andere soziale Schichten. Derjenige, der in der Lage ist, mehr Verbündete zu gewinnen, hat auch größere Chancen auf den Sieg.

5)   Schließlich fünftens die Größe der materiellen Ressourcen, die die jeweilige Klasse zur Verfügung hat. Wahlkampagnen sind recht kostspielige Angelegenheiten (insbesondere, wenn der Sieg und nicht bloß die Teilnahme das Wichtigste ist). Dabei sind sie umso teurer, je zahlenmäßig größer die Gesellschaft ist und je höher das Niveau ihrer kulturellen, technischen (vor allem in Bezug auf die Instrumente der Einflussnahme auf die Gemüter) und sonstigen Entwicklung ist. Um Kandidaten zu ernennen und - noch mehr - um ihren Erfolg zu sichern, sind beträchtliche Mittel erforderlich: Für Werbung, Agitation, Organisierung von Treffen mit den Wählern, Kontrolle des Wahlprozesses usw. Dementsprechend ist der Reichere im Vorteil, alles andere gleichgesetzt.

Ich wiederhole und betone, dass all diese Faktoren nur entscheidend werden:

1)   im Rahmen des Wahlkampfs, also nicht bei der anfänglichen Machtübernahme in der Gesellschaft überhaupt, wo die militärische Gewalt die Hauptrolle spielt, sondern unter den Bedingungen der Demokratie, die bereits als Ergebnis einer solchen Zwangsübernahme aufgerichtet worden ist;

2)   wenn der besagte Wahlkampf relativ ehrlich ist, wenn keine der rivalisierenden Parteien wesentliche „legale“ Vorrechte hat (wenn der Sieg von vornherein der einen oder anderen Klasse zuteilwird).

DAS TRUMPFAS DER BOURGEOIS Mit welchen der genannten kraftmäßigen Faktoren kann sich die Bourgeoisie rühmen? Im Prinzip ist sie in jeder Hinsicht stark. Allerdings sind nicht absolute, sondern relative Merkmale wichtig, also wie die Bourgeoisie im Vergleich zu anderen Klassen aussieht. In dieser Hinsicht übertrifft diese Klasse unveränderlich alle früheren und jetzigen Konkurrenten nur durch ihren Reichtum. Bei den übrigen Parametern ist ihre Position nicht so stabil, denn sie variiert stark je nach den Gegebenheiten und ist vergänglich, insbesondere mit der Entwicklung der historischen Situation, in deren Verlauf zahlreiche neue soziale Gruppen ständig in den Vordergrund treten, sich die Massenbildung ausbreitet, neue populäre Ideologien entstehen usw.

Deswegen setzt die Bourgeoisie im Allgemeinen vor allem auf die Eigentumsvorherrschaft in der Gesellschaft, obwohl sie bei den Wahlen in bestimmten Situationen durchaus aufgrund ihrer anderen Vorteile (von den genannten) dominieren kann. Genauer gesagt erreichen die Bourgeois immer, wenn sie bei den Wahlen gewinnen, dieses Ergebnis nach der Summe der kraftmäßigen Faktoren in der jeweiligen Kombination. Die Rolle der ersten Geige in diesem Orchester wird allerdings gewöhnlich durch den Reichtum gespielt und, was das Wesentlichste ist, immer mehr - in Anbetracht der oben nebenbei angemerkten Verteuerung der Wahlkampagnen im Zusammenhang mit dem zahlenmäßigen Wachstum sowie der kulturellen und technischen Entwicklung der Gesellschaften.

Ich wiederhole: Diese Entwicklung kann einerseits der Bourgeoisie einige ihrer rein situativen instabilen Vorteile entziehen (z. B. das zahlenmäßige Übergewicht, die organisatorische Überlegenheit, die Attraktivität der Ideologie usw.) Andererseits steigt im Verlauf dieser Entwicklung der Anteil der Wohlhabenheit als Erfolgsfaktor bei den Wahlen. Die Ungleichheit in dieser Hinsicht wird mit der Zeit (und zumindest für eine bestimmte historische Periode) am wichtigsten. (Wie A. France schrieb: „In jedem zivilisierten Staat ist der Reichtum heilig; in demokratischen Staaten ist nur dieser heilig.") Die gesellschaftliche Entwicklung gießt Wasser auf die Mühle der Bourgeois (jedenfalls bis zur Beendigung des genannten Zeitraums), wobei etwas in den Vordergrund tritt, was bei ihnen überwiegt. Dies ist der vorherrschende Trend in den letzten einhundert bis zweihundert Jahren.

Das bedeutet, dass je weiter der historische Fortschritt, den wir bisher kennen, voranschreitet, desto wichtiger wird bei den Wahlkampagnen der Reichtum und desto leichter fällt es der Bourgeoisie, auf Privilegien zu verzichten und „faire“ Wahlen zu akzeptieren. Genaugenommen verläuft die Bewegung in diese Richtung genau parallel zur gesellschaftlichen Entwicklung mit der genannten Nebenwirkung. Die Privilegien werden hierbei einfach durch eine starke kraftmäßige Dominanz als Wahlspieler ersetzt. Dabei steigt, je nach der Entwicklung der Gesellschaft, natürlich immer mehr der Druck durch andere soziale Schichten. Die wachsende Bedeutung des Reichtums erlaubt es der Bourgeoisie, ihre Privilegien aufzugeben; darüber hinaus wird das durch den zunehmenden Druck der Konkurrenten erzwungen. Daher werden diese beiden Produkte des gesellschaftlichen Fortschritts in den entsprechenden Veränderungen des demokratischen politischen Systems in Form der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts realisiert.

„DIE AM VERBRECHEN BETEILIGTEN" Der Vollständigkeit halber lohnt es sich, einige weitere Gründe für diese Veränderungen zu benennen (die in vielerlei Hinsicht ebenfalls aus der gesellschaftlichen Entwicklung abgeleitet werden können).

Der erste Grund ist die Verringerung der Klassenkonfrontation in den entwickelten (fortgeschrittenen) Gesellschaften aufgrund a) der Steigerung der Arbeitsproduktivität und b) der Ausplünderung anderer Gesellschaften. Moderne bürgerliche Demokratien können sich erlauben, sich eben darum mit den Massen gemein zu machen, weil sie über Ressourcen verfügen, um innere soziale Widersprüche auszugleichen, also die Situation aufrecht zu erhalten, in der die Wölfe satt und die Schafe gesund sind. Wie gesagt, das wird vor allem durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität sichergestellt. Je mehr die Gesellschaft produziert (alles andere gleichgesetzt), desto reicher ist sie und desto leichter ist es, ein akzeptables Wohlstandniveau für alle (oder zumindest für die entscheidende Mehrheit ihrer Mitglieder) zu gewährleisten. Das verringert die Schärfe der „Leidenschaften“ in der Gesellschaft und erhöht die Toleranz der Massen gegenüber der existierenden Ordnung. Das Bessere ist immerhin des Guten Feind.

Die entwickelten Gesellschaften können auch allen anderen die Umverteilung des Weltvermögens zu ihren Gunsten aufzwingen, sowohl direkt unter Gewaltanwendung, als auch über den Weltmarkt (weil jeder Markt, wie wir unten sehen werden, einen Mechanismus zum Transferieren des Geldes von den Armen zu den Reichen, von den Rückständigen zu den Fortgeschrittenen, von den wirtschaftlich Schwachen zu den wirtschaftlich Mächtigen darstellt). Dies erhöht auch den Wohlstand und damit den Konformismus der breiten Schichten ihrer Bürger.

Darüber hinaus wird so der grundsätzliche Antagonismus über die Grenzen einzelner Gesellschaften gedrängt und bekommt einen weniger sozialen als vielmehr einen zwischenstaatlichen und sogar zivilisatorischen Charakter. Dies fördert den „Waffenstillstand“ und die Solidarität der Klassen innerhalb der gegnerischen Seiten auf der Weltbühne. In diesem Zusammenhang wird die Lockerung der Wahlgesetze fortgeschrittener bürgerlicher Staaten weiter erleichtert.

Der zweite wichtige Grund für diese Lockerung ist das Aufkommen wirksamer Mittel zur Beeinflussung der Gemüter, also nicht mehr der oben beschriebenen Bedingungen, die Klassen zum Frieden zu zwingen, u.a. die Aufgeschlossenheit der Massen gegenüber der „offiziellen" (in unserem Fall der vorherrschenden bürgerlichen) Propaganda zu erhöhen, sondern deren rein technischer (hochtechnologischer) Sicherung. Dadurch wird diese Propaganda total und so viel schlagkräftiger. Erstens steigt ihre Wirksamkeit um ein Vielfaches und zweitens in jeder Situation, und nicht nur dann, wenn ihre Wahrnehmung begünstigt ist. Es ist klar, dass es um die Rolle der Massenmedien geht, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung (etwa ab Mitte des letzten Jahrhunderts) zum stärksten Einflussfaktor entwickelt haben und die sich beim Vorhandensein von Privateigentum und Meinungsfreiheit hauptsächlich in den Händen der Reichen befinden. Das Erscheinen dieser Ressource bei den Bourgeois stärkte sie mehrfach als Wahlspieler und reduzierte gleichzeitig stark (zusammen mit den anderen oben aufgeführten Umständen) ihren Bedarf an „legitimen" Privilegien. Warum sollte man dem Gegner zu Leibe rücken, wenn man ihm unter die Haut gehen kann? Es ist nur wichtig, die Instrumente des Spiels auf den spirituellen Saiten zu monopolisieren, und die Bourgeoisie schafft das, ich wiederhole, unter der Herrschaft des Marktes aus sich selbst heraus.

3. Die „übernatürliche" Gewährleistung der praktischen Dominanz

HILF DIR SELBST, DANN HILFT DIR GOTT Die beschriebene Verschiebung des Schwerpunkts eines erfolgreichen Wahlkampfes von Privilegien zur einfachen kraftmäßigen Dominanz und innerhalb dieses Rahmens zum Faktor des Reichtums ist ein natürlicher Prozess, der ohne jegliche Anstrengung der Bourgeoisie selbst geschieht (sicher mit Ausnahme der Handlungen, die sie zur Etablierung und zum Schutz der Marktordnung im Allgemeinen ergreift). Sie hat halt Glück im Spiel. Allerdings gilt auch hier: Hilf dir selbstdann hilft dir Gott. Nur das im Voraus zusammengestellte Impromptu ist gut. So ist das auch mit der Bourgeoisie: Die Natürlichkeit ihrer Vorherrschaft bei den Wahlen nimmt ihr keinesfalls die Lust dazu, diese zusätzlich künstlich abzusichern. Warum sollte man in diesem Spiel nicht auch Schummeltricks anwenden und den begehrenswerten Sieg durch unfaire Kampfmethoden sichern? Da es nicht möglich ist, probürgerliche Spielregeln zu erhalten, und da man sich nur auf reale Klassenvorteile verlassen muss, lohnt es sich zu versuchen, den Abstand zu den Rivalen gewaltsam zu vergrößern.

Hier geht es um dieselbe (uns aus der Strategie und Taktik der Bürokratie bekannte) Politik der Umverteilung von Kraftfaktoren durch die herrschende Klasse zu ihren Gunsten, also um die Einführung und Aufrechterhaltung einer solchen Gesellschaftsordnung, die zur Schwächung einiger (unterdrückter) Klassen und zur Stärkung anderer (der Herrscher) beiträgt. (Der behandelte Fall ist nur insofern spezifisch, als  die genannte Schwächung/Stärkung eben nach den Parametern erfolgt, die für den Wahlkampf wesentlich sind). Die Bourgeoisie greift natürlich bei jeder Gelegenheit auf diese Methode zurück, um ihre Dominanz bei den Wahlen zu gewährleisten, umso mehr, wenn es nötig ist, also wenn die erzwungene Aufhebung von Privilegien nicht angemessen durch die natürliche kraftmäßige Vorherrschaft kompensiert wird. Was tut diese Klasse dann?

OPTIONEN ZUR AUSWAHL Was könnte man fürs Erste im Allgemeinen mit den im Wahlkampf wichtigen kraftmäßigen Faktoren anfangen? Jeder von ihnen ist ja einzigartig und erfordert eine besondere Herangehensweise.

Man könnte beispielsweise mit einer relativ überragenden Kopfstärke konkurrierender Klassen folgende Methoden der Bekämpfung anwenden (natürlich zusätzlich zu den o.g. Zensus, die hierbei als aufgehoben gelten):

a)   eine direkte physische Vernichtung von „Überbeständen";

b)   die Einschränkung der Geburten bzw. anderer Methoden der Auffüllung gefährlicher Gruppen (mit Verboten bzw. Anreizen);

c)   die Förderung der eigenen Geburtenrate bzw. anderer Methoden der Auffüllung der herrschenden Klasse.

In Bezug auf die politische und allgemeine Kultur sind folgenden Optionen effektiv:

d)   die Reduzierung der Intelligenz (der Fähigkeit, logisch zu denken) und der Ausbildung fremder Schichten durch entsprechende Verschlechterung (oder durch die Aufrechterhaltung auf einem niedrigen Niveau) des öffentlichen Erziehungs- und Bildungssystems der breiten Massen;

e)   die Verbreitung verschiedener Aberglauben und religiöser Überzeugungen der Massen und die Unterstützung einschlägiger Institutionen;

f)    die Verbesserung der eigenen Kultur der herrschenden Klasse im Rahmen spezieller „Elite"-Institutionen.

(Für die Bourgeoisie mit ihren Besonderheiten könnte man noch folgendes nennen:

g)   die Einführung einer bezahlten Ausbildung, wobei deren Niveau direkt vom Preis abhängt).

In Bezug auf die Desorganisierung der rivalisierenden Klassen funktioniert die schon erwähnte Politik "Divide et impera", und zwar:

h)   die gegenseitige Aufhetzung fremder sozialer Schichten mit allen verfügbaren Mitteln (Verleumdung, Provokationen, Intrigen, Schüren von ethnischen, religiösen, sozialen usw. Zwistigkeiten);

i)    das gesetzliche Verbot (oder zumindest verschiedene Beschränkungen) der Organisationen fremder sozialer Schichten (Parteien, Gewerkschaften etc.) bzw. der tatsächliche Eingriff in deren Schaffung und Tätigkeit;

j)    der Informations- und Propagandakrieg gegen diese in den kontrollierten Medien;

k)   die Bestechung, Erpressung, Einschüchterung usw. der Führer dieser Organisationen und die Bloßstellung der Unbestechlichen (oder sogar ihre direkte körperliche Beseitigung);

l)    die Desorientierung konkurrierender Klassen durch die Schaffung einer Reihe von Scheinorganisationen, die angeblich ihre Interessen vertreten;

m) die Förderung der Selbstorganisation der herrschenden Klasse (also ihrer materiellen, finanziellen, organisatorischen, administrativen, gesetzgeberischen und sonstigen Unterstützung) sowie der ihr freundlich gesonnenen (meist marginalen) Schichten.

In Bezug auf das Aufzwingen der Gesellschaft der dominanten (der einzigen oder zumindest der populärsten) Ideologie der herrschenden Klasse gibt folgendes den besten Effekt:

n)   ihre massive und qualitativ hochwertige Propaganda;

o)   die Einbeziehung dieser Propaganda in die obligatorischen (Hoch-) Schul-Programme (etwas, was in der Kindheit eingeprägt wird, eignet man sich aufgrund der unkritischen Wahrnehmung der Kinder leichter und dauerhafter an);

p)   das gesetzliche Verbot bzw. die tatsächliche Unterdrückung von Kritik der aufgezwungenen Ideologeme (Dogmen), z.B. des Grundsatzes der Unverletzlichkeit von Privateigentum;

q)   das gesetzliche Verbot bzw. die tatsächliche Verdrängung feindlicher Ideologien aus dem Informationsraum; die Behauptung, dass es keine Alternative zur eigenen Ideologie gibt;

r)    wenn das Vorhergesagte (s. Pkt. „q“) unmöglich ist, die Diffamierung (unfaire Kritik) feindlicher Ideologien, die Darstellung der eigenen Ideologie als der bestmöglichen (zumindest von den verfügbaren;  angeblich gibt es nichts Besseres).

Und so weiter, quer durch das ganze Alphabet.

Und hinsichtlich der Ansammlung von Ressourcen gilt folgendes:

1)   Erstens gibt es keine für alle Klassen gültigen Rezepte, um dieses Problem zu lösen (dieses Ziel zu erreichen), da es sich um ein System der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums handelt, und jede dominierende Klasse baut dieses auf ihre Art und Weise auf. (So raffen die Bürokraten, wie wir bereits wissen, den Großteil des Vermögens einfach nach dem Recht des Stärkeren an sich). In diesem Bereich wird die praktizierte Politik durch die Besonderheiten (Unterschiede) und nicht durch die Ähnlichkeiten der Klassen bestimmt.

2)   Zweitens sind zusätzliche Sondermaßnahmen nur dort möglich und erforderlich, wo es keinen Markt gibt: Unter der Herrschaft des Marktes (der unter anderem ein besonderes Verteilungssystem ist) erfolgt der Ressourcentransfer von den Habenichtsen zu den Vermögenden (also hauptsächlich zur Bourgeoisie) auf eine natürliche Art und Weise gemäß den Marktgesetzen. Daher ist es unnötig zu klären, wie die Bourgeoisie sich künstlich stärken könnte. Ihre einzige Aufgabe besteht in der Festigung der Marktordnung in der Gesellschaft.

WAS PASST ZUR BOURGEOISIE? Die Bourgeoisie nimmt natürlich, aus verschiedenen Gründen, nicht alle der genannten Sondermaßnahmen in Gebrauch (genauso wenig wie alle anderen Klassen). Die Kleidung wählt man aus nach dem Wetter, der Figur, der Mode, der Stoffqualität usw. Auch die Bourgeoisie gibt sich Mühe, im Wesentlichen die Techniken zu nutzen, die am besten zu ihr passen.

Erstens nach den jeweils aktuellen konkreten Bedingungen, von denen einerseits die Anwendbarkeit und andererseits die Relevanz bestimmter Maßnahmen abhängen. Es ist gleichermaßen sinnlos, sowohl das zu tun, was unter bestimmten Umständen offensichtlich zum Scheitern verurteilt ist, als auch das, was gar nicht notwendig ist (denn alles ist sowieso gut und schön). (Es ist jedoch klar, dass dies im Allgemeinen ein zufälliger und veränderlicher Orientierungspunkt ist).

Zweitens je nach dem Charakter der Maßnahmen selbst. Sie unterscheiden sich ja durch eine Reihe von Parametern, weshalb einige wünschenswerter sind. Die Hauptbedeutung hat dabei die Wirksamkeit der Vorgehensweisen. Manchmal lohnt das Lammfell das Gerben nicht[42]. Die Lösung des „demografischen" Problems (so wollen wir den Umstand einer relativ geringen Anzahl von „Herrschern“ nennen) mittels der oben beschriebenen Verfahren „b" und „c" ist beispielsweise viel umständlicher und vor allem von längerer Dauer als die Verwendung der Methode „a". Noch weniger Sorgen bereitet die Vorgehensweise, wenn man sich überhaupt nicht darum kümmert, das ungünstige Verhältnis der eigenen und der konkurrierenden Klassen zu korrigieren, sondern ihnen einfach durch vernichtende Propaganda eins überbrät.

Drittens haben viele (wenn nicht alle) Handlungen der Menschen nicht nur direkte, sondern auch indirekte Auswirkungen , die manchmal nützlich, manchmal neutral, aber nicht selten auch schädlich sind. Dabei überwiegen die Vorteile nicht immer mit Sicherheit die Nachteile. Zum Beispiel erhöht die Verminderung der politischen Kultur der unvermögenden Wählerschaft neben einer relativen Stärkung der Bourgeoisie auch die Chancen des Populismus (von dem aus es oft nur ein kurzer Weg ist bis zur Wiederbelebung des Bürokratismus). Darüber hinaus verschlechtern die geringe Intelligenz und Bildung eines beträchtlichen Teils von Mitgliedern konkreter Gesellschaften (also die niedrige allgemeine und politische Kultur der Massen mit entsprechenden innenpolitischen Bedrohungen) auch die Wettbewerbsfähigkeit dieser Gesellschaften auf der Weltbühne (und es ist zweifelhaft, dass es in der realen historischen Perspektive möglich sein wird, diese Kalamität dadurch zu bewältigen, dass die „Brains“ aus dem Ausland herangezogen werden). Die herrschenden Klassen, darunter die Bourgeoisie, die solche Methoden anwenden, können zwar taktisch gewinnen (und ihre Macht vorübergehend stärken), treiben jedoch ihre Gesellschaften strategisch in die Sackgasse. Allerdings machen sich die Begünstigten normalerweise keine Sorgen darum; ihr Kredo lautet: Nach uns die Sintflut.

Schließlich ist viertens die Bourgeoisie aufgrund der ihr eigenen begrenzten Fähigkeiten, einigen Maßnahmen nicht gewachsen (bzw. diese behagen ihr nicht). Lediglich totalitäre bürokratische Regime sind imstande, „demografische" Probleme durch das direkte „Abschießen" ihrer Untertanen zu lösen. Allerdings werden diese mit solchen Problemen eben gar nicht konfrontiert: Die „Schießereien" werden aufgrund der mangelnden Wählbarkeit durch andere Gründe hervorgerufen. Das bezieht sich allerdings nicht auf demokratische Regime, für die es viel schwieriger ist, sich solche Maßnahmen zuzutrauen und sie umzusetzen. Obwohl der Radikalismus einer jeden Klasse, die um die Macht kämpft, vor allem durch den Grad der Härte dieses Kampfes bestimmt wird, können sich die Bourgeois „Extravaganzen“, zu denen die Bürokraten immer bereit sind, nur in Ausnahmefällen leisten: Bei einem offenen militärischen Kampf um die Macht sowie bei der Etablierung der marktdemokratischen Ordnung, die sie benötigen.

In der Praxis sind also die Hauptmethoden des Kampfes der Bourgeoisie um ihre relative „übernatürliche" Stärkung als Spieler auf dem Wahlfeld normalerweise nur die Desorganisation und die ideologische Unterdrückung der konkurrierenden Klassen. Alle anderen eventuellen Maßnahmen sind eher nebensächlich, und zum unverhohlenen Terror kommt es bei der Bourgeoisie überhaupt nur im äußersten Fall, wenn ihre Macht und die darauf basierende bürgerliche Gesellschaftsordnung ernsthaft bedroht sind.

NICHT VOM BROT ALLEIN Man tut gut daran folgendes zu bemerken, bevor man das Thema abschließt. Obwohl die o.g. künstlichen Maßnahmen unter den Bedingungen einer fertigen Demokratie eine relative Stärkung der Bourgeoisie als Teilnehmer an Wahlkampagnen zum Hauptziel haben, stärken sie diese Klasse natürlich nicht nur im engeren Sinne, sondern auch im Allgemeinen. Die Überlegenheit an Kenntnissen, Ideologie, Zusammenhalt u.a.m. sind nicht nur für den Wahlsieg, sondern auch bei einem globalen politischen Duell wichtig, wenn die Wahlordnung selbst festgelegt und bekräftigt wird. Es ist nur so, dass im letzteren Fall die Hauptgegner der Bourgeoisie nicht mehr andere nichtregierende Klassen, sondern die Apparatschiks sind.

Darüber hinaus spielen an dieser Front andere kraftmäßige Faktoren keine geringe, sondern sogar eine größere Rolle, vor allem der Rüststand und die Militarisierung. Darum gibt sich die Bourgeoisie natürlich Mühe, die Verteilung dieser Faktoren zu ihren Gunsten zu entscheiden. Dabei gelangen die Waffen, wie im fünften Vortrag erwähnt, auf natürliche Art und Weise in ihre Hände bzw. unter ihre Kontrolle (denn sie fungiert als ihr Hersteller und ursprünglicher Besitzer). In puncto Militarisierung muss diese Klasse allerdings spezielle Maßnahmen ergreifen. Zunächst, solange der Stand der Entwicklung des Militärwesens dies zulässt, übernehmen die Bourgeois selbst unmittelbar die militärische Funktion, indem sie die Nationalgarde, die Volksmiliz und ähnliche selbstwirkende Verbände bilden. Wenn diese einfachste Art, die Streitkräfte zu kontrollieren , aufgrund der erheblichen Professionalisierung der Armee erschöpft ist, wird zuweilen (zum Beispiel im 19. Jahrhundert in England) durch den Staat praktiziert, mittlere militärische Posten gegen Geld zu verkaufen. Dank dieser Vorgehensweise werden im Wesentlichen nur Vertreter der vermögenden Stände Offiziere. Nun, und seitdem der Militärdienst endgültig zu einem hochprofessionellen Beruf geworden ist, bleibt das einzige Mittel, die Armee (sowie die Polizei, das Nachrichtenwesen, den nationalen Sicherheitsdienst usw.) zu kontrollieren, nur die (bis dahin ausreichend erstarkte) Demokratie mit ihrer Unterordnung von allen Machtstrukturen unter den Staatsapparat und des Staatsapparates selbst unter die Massen der Wähler (unter denen die Bourgeoisie dominiert).



[1] Anspielung auf die Zeile „Der Funke lodert zur Flamme auf“ aus dem Gedicht des Dekabristen Alexandr Odojewski „Leidenschaftliche Klänge der wahrsagenden Saiten“, 1828, veröffentlicht 1857, die später dank W. Lenin in ganz Russland bekannt wurde (hier und im Weiteren: Anmerkungen des Übersetzers)

[2] Zitat aus dem Gedicht „Die Muse“, 1830 des russischen Dichters Jewgeni Baratynski

[3] Anspielung auf die ersten zwei Zeilen des sowjetischen Liedes „Hymne der demokratischen Weltjugend“, 1947, Musik A. Nowikow, Text L. Oschanin

[4] Abänderung des Sprichworts „das Kind mit dem Bade ausschütten“

[5] Anspielung auf das Sprichwort „Die Natur schreckt vor der Leere zurück.“

[6] Anspielung auf das russische Sprichwort „Man geht nicht mit seinem Statut in ein fremdes Kloster.

[7] Gemeint ist die Aussage des russischen Schriftstellers Maxim Gorki in seinem Artikel „Über den Kampf mit der Natur“, 1931: „Alles Gute in mir habe ich den Büchern zu verdanken“.

[8] Die erste Zeile des gleichnamigen sowjetischen Liedes (Musik J. Sarizki, Text L. Kuklin, 1964)

[9]  Zitat aus dem Dschungelbuch von Rudyard Kipling, 1894; im modernen russischen Sprachgebrauch scherzhaft über gleich gesonnene Gemüter

[10] Anspielung auf Hippokrates (* um 460 v. Chr. † um 370 v. Chr.), den griechischen Arzt, der als der berühmteste Arzt des Altertums und „Vater der Medizin“ gilt

[11]  Im Russischen wörtlich „Wie der Pope, so die Pfarrei“

[12] Popadja – im Russischen „Ehefrau des Popen“

[13]  Worte des listenreichen Betrügers Ostap Bender, der Hauptfigur aus dem Roman „Das goldene Kalb“ (1931) der sowjetischen Schriftsteller I. Ilf und J. Petrow

[14] Anspielung auf den Ausdruck „Vater der Völker", der in der sowjetischen offiziellen Publizistik und Rhetorik im Hinblick auf J. Stalin, neben anderen ähnlichen Lobtiteln, fast obligatorisch war, nachdem er die Machtvollkommenheit erlangt hatte

[15] Im postsowjetischen Raum Vertreter der Behörden, die Gewalt anwenden könnten: Ministerium des Inneren, Sicherheitsdienst u.a.m. „Sila“ heißt im Russischen so viel wie  „Kraft“, „Stärke“

[16] Die erste Zeile des Gedichtes von A. Puschkin Sonett (1830; Übersetzung von E. Boerner, 2011)

[17] Zitat aus dem Poem von Wladimir Majakowski Wladimir Iljitsch Lenin, 1925

[18] Anspielung auf das olympische Credo: „Das Wichtigste an den Olympischen Spielen ist nicht der Sieg, sondern die Teilnahme.

[19] russisches Sprichwort

[20] (hier und im nächsten Absatz) Anspielung auf den Spielfilm „Das süße Wort Freiheit“ (UdSSR, 1972, Regisseur Vytautas Žalakevičius), der aufgrund realer Ereignisse in Chile kurz vor dem Staatsstreich von A. Pinochet gedreht wurde; in einer südamerikanischen Diktatur werden politische Gefangene von Gesinnungsgenossen mittels eines mühsamen Tunnelbaus aus ihrer Festungshaft befreit. 

 

[21] Anspielung auf die in der UdSSR üblichen Praktiken der Propaganda, als dem Volk die lebensfremden Kennzahlen der Produktion von den z.T. unnötigen Gütern als Beweis der „Errungenschaften“ des Sozialismus präsentiert wurden

[22] russisches Sprichwort

[23] „Es gibt so eine Parte!“ - ein geflügeltes Wort, das angeblich durch W. Lenin am 4. (17) Juni 1917 auf dem 1. Allrussischen Kongress der Sowjets als Antwort auf die Frage von I. Zereteli, Minister in der Provisorischen Regierung und Vorsitzender des Petrograder Sowjets, gesprochen wurde. Die Frage lautete: „Kann jemand von den Abgeordneten eine Partei nennen, die das Risiko eingehen würde, die Macht an sich zu reißen und die Verantwortung für die Geschehnisse in Russland zu übernehmen?“

 

[24] Anspielung auf die in der sowjetischen Geschichtsschreibung geprägte Beschreibung der Lage der jungen Sowjetrepublik während des Bürgerkrieges und der ausländischen Interventionen 1917 – 1922

[25] Der Begriff „souveräne Demokratie“ wurde seit dem 18. Jahrhundert in verschiedenen Bedeutungen verwendet. Dieser Ausdruck wurde 2005 - 2006 durch den damaligen stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung Russlands V. Surkov in den modernen russischen Sprachgebrauch eingeführt. Laut seinem Konzept braucht der russische Staat den anderen großen Machtzentren auf der Weltarena nicht zu gehorchen.

[26] Anspielung auf die britischen Angry Young Men der 1950er und 1960er Jahre

[27] „Nicht kommerzielle Organisationen“ sind laut dem Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation juristische Personen, deren Hauptzweck nicht mit Gewinnerzielung verbunden ist.

[28] Anspielung auf die „Indianer“-Äußerung des US-amerikanischen Generals Philip Henry Sheridan (*1831; †1888) „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.“

[29] Zitat aus dem sowjetischen Lied „Die Komsomoltradition“ (Musik O. Felzman, Text I. Schaferan, 1968)

[30] Isozialistischen Ländern ein Verzeichnis aller Führungspositionen in Partei und Gesellschaft sowie die Gesamtheit der Personen, welche diese Positionen innehatten. Die Nomenklatura existiert in etwas modifizierter Form auch im heutigen Russland.

[31] Zitat aus dem Gedicht von Michail Lermontow „Der Tod des Dichters“ (Übersetzung von Kay Borowsky)

[32] Anspielung auf die am 06.08.1990 gesprochenen Worte des damaligen Parlamentspräsidenten der sowjetischen Teilrepublik Russland Boris Jelzin, die in den nächsten Monaten eine „Souveränitätsparade“ der autonomen Republiken im Bestand Russlands auslösten.

[33] russisches Sprichwort

[34] Im postsowjetischen Raum eine Banditenfirma, die eine kommerzielle Gesellschaft bzw. Bank vor den anderen Banditen, den Steuer- und Zollbehörden u.ä. schützt.

[35] - Die „große Wende“: Der Ausdruck aus dem Artikel von Josef Stalin „Das Jahr der großen Wende“ in der Zeitung „Prawda“ vom 07.11.1929. Damit war die gegen Ende der 1920er in der Sowjetunion begonnene Politik der erzwungenen Industrialisierung und Zwangskollektivierung gemeint, die, einschließlich Holodomor, etwa fünf bis sieben Millionen Menschenleben forderte.

[36] - Worte des 17jährigen Wladimir Uljanow (Lenin) nach der Hinrichtung seines älteren Bruders Alexandr, Mitglied der sozialrevolutionären Geheimgesellschaft Narodnaja Wolja (Volkswille und zugleich Volksfreiheit), für die Vorbereitung des Attentats auf den Zaren Alexandr III im Jahre 1887

[37] „Tiger“, „Berkut“ (Steinadler) – Sondereinheiten des ukrainischen Innenministeriums jeweils 2004 – 2014 und 1992 – 2014

[38] Sargon von Akkad: Herrscher von Mesopotamien von 2356 bis 2300 v. Chr.

[39] Das vollständige Zitat lautet: „Ein Mensch ein Problem, kein Mensch kein Problem“. Die Aussage, die irrtümlich Josef Stalin zugeschrieben wird, geht auf den sowjetischen Schriftsteller Anatolij Rybakow zurück und stammt aus seinem Roman "Die Kinder vom Arbat" (1987).

[40] „Dermo“ im Russischen ist so viel wie „Scheiße“

[41] Abgeändertes (scherzhaftes) russisches Sprichwort "Wenn man Kraft hat, braucht man keinen Verstand"

[42] Russisches Sprichwort; bedeutet so viel wie „die Sache ist nicht der Mühe wert“.

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